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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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zu schildern, den Süden unwillkürlich durch das Medium seiner nordischen Luft-
und Lichtverhältnisse sehen würde. Abgesehen von dieser feinen persönlichen
Differenzierung in bezug auf Licht und Farbe, worin sich die Individualität
des Künstlers offenbart, ist das Gegenständliche der Kunst zu einem neuen
Programm geworden, das ganz unerschöpflich ist. Nichts ist natürlicher, als daß
der Kodak und hinter ihm die zahllose Schar der Wandernden und Reisenden
die Schwenkung mitmacht und den Kunstgenuß auf Reisen auf eine neue Grund¬
lage stellt.

Hier also kommt nichts ans Bücher, sondern auf eignes Sehen und
Empfinden, auf persönliche Entdeckung und Eroberung, auf Selbsttätigkeit und
wirkliche Seelenbereicherung, kurz gesagt auf eigne Wahrnehmung und dem¬
entsprechend auf schöpferische" Genuß an. Freilich findet sich das nicht so ohne
weiteres, sonst wäre es ja längst gefunden worden, und es ist deshalb acht
ganz zwecklos, das Auge auf Dinge einzustellen, die man vorher kaum eines
Blickes gewürdigt hat. Denn alles Sein oder Nichtsein in der Natur und in
der Kunst hängt von unsrer Fähigkeit und von der Auffasfungskraft unsrer
Sinne ab. Es kommt schon ganz wesentlich auf die Organisation unsers Auges
°n. und es ist daher ganz leicht zu entscheiden, wer mehr die Natur gemeßt:
das Faultier, das zeitlebens in den Bäumen hängt, oder der Wandrer, der be¬
fähigt ist. die Schönheit des klaren Himmels und stattlicher Bäume an den
Ufern eines klaren Sees zu ergreifen. Ganz ähnlich ist es mit den Dingen
der Kunst. Nun einmal auf die Bahn des Entdeckers gedrängt, ist des Staunens
kein Ende über die zahllosen künstlerischen Schönheiten, die sich auf dem offnen
Lande, in der fremden Stadt, ja sogar in der eignen Stadt, auf denselben
Straßen und Wege... die wir sonst achtlos Tag für Tag gegangen sind, vor
den gleichsam magisch gewordnen Blicken auftun. Die kleinste Stadt za das
kleinste Dorf bietet den. Kunstwandrer, der zu schaue" versteht, unerschöpfliche
Genüsse. Wandert man dnrch die alten Gassen, so kann man ungezählte uust-
lerische Erscheinungen wahrnehmen. Die Anlage der Gassen in 'ezug auf ihre
Breite, auf die Wandhöhen, auf die Windungen ""d ^ geMoffenm P -
spektive., die Lage der Häuser, die immer auf das porte.tha es e ^ ^ ^a-'scheinend unregelmäßig und von mehr oder weniger unbewn^das heißt orgau scher Notwendigkeit diktiert. Die Fassade... deren ^ti- Fenster hob. und diese wieder beachtenswert ^es Form Md Stellun
die Türen und die Hausflure, die monumentale An ü ung der T^Stiegeuaufgäuge und Prellsteine, die koloristischen E genschastm ° H^se
die Vergitteruugeu der Feuster und der Türoberlichter an denen steh oft une
erstaunliche Mannigfaltfgkeit des ornamentalen und streng HandwerksSinnes bekundet. d allen Laden und Schaufenster und und ° ' ^ragender Schmuck der schlichten Hausforme., die oft prachtvoll ^schmiedeten oder gemalte. Zunftzeichen und Wirtshausschlder über w Straße
hangend und auch7 ^ zum Stillstehen ^mgend^°n der weißen Hauswart an gut sichtbarer Stelle, d.e Mutter Gottes und dem


zu schildern, den Süden unwillkürlich durch das Medium seiner nordischen Luft-
und Lichtverhältnisse sehen würde. Abgesehen von dieser feinen persönlichen
Differenzierung in bezug auf Licht und Farbe, worin sich die Individualität
des Künstlers offenbart, ist das Gegenständliche der Kunst zu einem neuen
Programm geworden, das ganz unerschöpflich ist. Nichts ist natürlicher, als daß
der Kodak und hinter ihm die zahllose Schar der Wandernden und Reisenden
die Schwenkung mitmacht und den Kunstgenuß auf Reisen auf eine neue Grund¬
lage stellt.

Hier also kommt nichts ans Bücher, sondern auf eignes Sehen und
Empfinden, auf persönliche Entdeckung und Eroberung, auf Selbsttätigkeit und
wirkliche Seelenbereicherung, kurz gesagt auf eigne Wahrnehmung und dem¬
entsprechend auf schöpferische» Genuß an. Freilich findet sich das nicht so ohne
weiteres, sonst wäre es ja längst gefunden worden, und es ist deshalb acht
ganz zwecklos, das Auge auf Dinge einzustellen, die man vorher kaum eines
Blickes gewürdigt hat. Denn alles Sein oder Nichtsein in der Natur und in
der Kunst hängt von unsrer Fähigkeit und von der Auffasfungskraft unsrer
Sinne ab. Es kommt schon ganz wesentlich auf die Organisation unsers Auges
°n. und es ist daher ganz leicht zu entscheiden, wer mehr die Natur gemeßt:
das Faultier, das zeitlebens in den Bäumen hängt, oder der Wandrer, der be¬
fähigt ist. die Schönheit des klaren Himmels und stattlicher Bäume an den
Ufern eines klaren Sees zu ergreifen. Ganz ähnlich ist es mit den Dingen
der Kunst. Nun einmal auf die Bahn des Entdeckers gedrängt, ist des Staunens
kein Ende über die zahllosen künstlerischen Schönheiten, die sich auf dem offnen
Lande, in der fremden Stadt, ja sogar in der eignen Stadt, auf denselben
Straßen und Wege... die wir sonst achtlos Tag für Tag gegangen sind, vor
den gleichsam magisch gewordnen Blicken auftun. Die kleinste Stadt za das
kleinste Dorf bietet den. Kunstwandrer, der zu schaue» versteht, unerschöpfliche
Genüsse. Wandert man dnrch die alten Gassen, so kann man ungezählte uust-
lerische Erscheinungen wahrnehmen. Die Anlage der Gassen in 'ezug auf ihre
Breite, auf die Wandhöhen, auf die Windungen ""d ^ geMoffenm P -
spektive., die Lage der Häuser, die immer auf das porte.tha es e ^ ^ ^a-'scheinend unregelmäßig und von mehr oder weniger unbewn^das heißt orgau scher Notwendigkeit diktiert. Die Fassade... deren ^ti- Fenster hob. und diese wieder beachtenswert ^es Form Md Stellun
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erstaunliche Mannigfaltfgkeit des ornamentalen und streng HandwerksSinnes bekundet. d allen Laden und Schaufenster und und ° ' ^ragender Schmuck der schlichten Hausforme., die oft prachtvoll ^schmiedeten oder gemalte. Zunftzeichen und Wirtshausschlder über w Straße
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/563>, abgerufen am 06.02.2025.