Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Die Beziehungen des Deutschen Reiches zu den Vereinigten Staaten von Amerika sei aus einer Mischung der verschiedensten Nationen hervorgegangen, aber früher Infolge dieser Einwandrerflntwelle habe auch die industrielle Frage einen Die Kriminalstatistik biete ein erschreckendes Bild von zunehmender Ver¬ Die Beziehungen des Deutschen Reiches zu den Vereinigten Staaten von Amerika sei aus einer Mischung der verschiedensten Nationen hervorgegangen, aber früher Infolge dieser Einwandrerflntwelle habe auch die industrielle Frage einen Die Kriminalstatistik biete ein erschreckendes Bild von zunehmender Ver¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0552" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302540"/> <fw type="header" place="top"> Die Beziehungen des Deutschen Reiches zu den Vereinigten Staaten von Amerika</fw><lb/> <p xml:id="ID_2394" prev="#ID_2393"> sei aus einer Mischung der verschiedensten Nationen hervorgegangen, aber früher<lb/> seien hauptsächlich Deutsche, Engländer, Franzosen, Holländer und Schweizer<lb/> eingewandert, während jetzt die Italiener, Slawen und Asiaten überwogen.<lb/> Der Geist der europäischen Revolutionäre und Anarchisten sei mit diesen Elementen<lb/> in Amerika eingezogen, und große amerikanische Städte hätten aufgehört,<lb/> amerikanisch zu sein. Die bisherige amerikanische Bevölkerung laufe die größte<lb/> Gefahr, von den neuen Eindringlingen, die in wenigen Jahren amerikanische<lb/> Bürger würden, majorisiert zu werden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2395"> Infolge dieser Einwandrerflntwelle habe auch die industrielle Frage einen<lb/> gefährlichen Charakter eingenommen. Das rapide Wachstum der Fabriken habe<lb/> die lohnarbeitende Klasse in nie vorher geahnter Weise vermehrt und in den<lb/> großen Städten kompakte Massen leicht entflammbaren Proletariats angesammelt,<lb/> das gelernt habe, sich zu organisieren und uur für seine eignen Klasseninteressen<lb/> zu kämpfen, ohne irgendwelche Rücksicht auf die Gesamtinteressen des Staates<lb/> zu nehmen, das dagegen allen Glauben verloren habe an die Religion, die<lb/> lehre, daß die soziale Gliederung von der Vorsehung bestimmt, und daß für<lb/> alle, die hier ein niedrigeres oder ärmeres Los erhalten hätten, ein Aus¬<lb/> gleich in der höhern Welt bestimmt sei. Die Theorie, wonach aller Gewinn<lb/> nur auf Arbeit beruhe, darum dieser allein gehöre, ihr nur von einer Kaste<lb/> vorenthalten und ihr notwendigerweise restituiert werden müsse, habe ein nur<lb/> zu williges Ohr bei dem Proletariat gefunden und zu den heutigen Uuions<lb/> geführt, deren Führer Streik und industriellen Krieg auf ihre Fahne geschrieben<lb/> hätten. Auf der andern Seite sei der Reichtum in bedrohlichem Umfange in<lb/> den Händen weniger Männer angesammelt worden, wenn auch nicht in denen<lb/> einer Kaste, wie die Arbeiter behaupteten, denn fast alle amerikanischen Milliardäre<lb/> seien aus den untersten Schichten, viele direkt aus dem Arbeiterstande selbst her¬<lb/> vorgegangen. Die oft faulen und verschwendungssüchtigen Erben der Milliardäre<lb/> bildeten die größte Gefahr für die Gesellschaft, da ihnen nicht wie in Europa<lb/> gewisse Pflichten durch ihren Grundbesitz oder Kapitalreichtum auferlegt wären,<lb/> und die amerikanischen Sozialisten hätten alles Recht, die mit Cäsarenwahnsinn<lb/> behafteten Milliardärsöhne als Krebsschaden zu bezeichnen. Durch alle diese<lb/> Vorgänge werde aber der nationale Charakter, der von Anfang an bis jetzt<lb/> ein ausgesprochen religiöser gewesen sei, völlig verändert, und an Stelle der<lb/> geistigen Interessen und der Hoffnung auf eine jenseitige Welt trete das rein<lb/> materielle Streben, plötzlich reich zu werden. Der moralische Protest der öffent¬<lb/> lichen Meinung gegen kommerzielle Betrügereien und gegen die Korruptions¬<lb/> wirtschaft in den großen Städten zeige allerdings erfreulicherweise, daß dem<lb/> amerikanischen Volke bis jetzt der alte Idealismus noch zu einem guten Teil<lb/> erhalten geblieben sei, aber ohne radikale Änderungen würde dieser Protest<lb/> doch leider ohne Wirkung bleiben.</p><lb/> <p xml:id="ID_2396" next="#ID_2397"> Die Kriminalstatistik biete ein erschreckendes Bild von zunehmender Ver¬<lb/> achtung der Gesetze. Insbesondre seien die zahlreichen Morde und die sich</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0552]
Die Beziehungen des Deutschen Reiches zu den Vereinigten Staaten von Amerika
sei aus einer Mischung der verschiedensten Nationen hervorgegangen, aber früher
seien hauptsächlich Deutsche, Engländer, Franzosen, Holländer und Schweizer
eingewandert, während jetzt die Italiener, Slawen und Asiaten überwogen.
Der Geist der europäischen Revolutionäre und Anarchisten sei mit diesen Elementen
in Amerika eingezogen, und große amerikanische Städte hätten aufgehört,
amerikanisch zu sein. Die bisherige amerikanische Bevölkerung laufe die größte
Gefahr, von den neuen Eindringlingen, die in wenigen Jahren amerikanische
Bürger würden, majorisiert zu werden.
Infolge dieser Einwandrerflntwelle habe auch die industrielle Frage einen
gefährlichen Charakter eingenommen. Das rapide Wachstum der Fabriken habe
die lohnarbeitende Klasse in nie vorher geahnter Weise vermehrt und in den
großen Städten kompakte Massen leicht entflammbaren Proletariats angesammelt,
das gelernt habe, sich zu organisieren und uur für seine eignen Klasseninteressen
zu kämpfen, ohne irgendwelche Rücksicht auf die Gesamtinteressen des Staates
zu nehmen, das dagegen allen Glauben verloren habe an die Religion, die
lehre, daß die soziale Gliederung von der Vorsehung bestimmt, und daß für
alle, die hier ein niedrigeres oder ärmeres Los erhalten hätten, ein Aus¬
gleich in der höhern Welt bestimmt sei. Die Theorie, wonach aller Gewinn
nur auf Arbeit beruhe, darum dieser allein gehöre, ihr nur von einer Kaste
vorenthalten und ihr notwendigerweise restituiert werden müsse, habe ein nur
zu williges Ohr bei dem Proletariat gefunden und zu den heutigen Uuions
geführt, deren Führer Streik und industriellen Krieg auf ihre Fahne geschrieben
hätten. Auf der andern Seite sei der Reichtum in bedrohlichem Umfange in
den Händen weniger Männer angesammelt worden, wenn auch nicht in denen
einer Kaste, wie die Arbeiter behaupteten, denn fast alle amerikanischen Milliardäre
seien aus den untersten Schichten, viele direkt aus dem Arbeiterstande selbst her¬
vorgegangen. Die oft faulen und verschwendungssüchtigen Erben der Milliardäre
bildeten die größte Gefahr für die Gesellschaft, da ihnen nicht wie in Europa
gewisse Pflichten durch ihren Grundbesitz oder Kapitalreichtum auferlegt wären,
und die amerikanischen Sozialisten hätten alles Recht, die mit Cäsarenwahnsinn
behafteten Milliardärsöhne als Krebsschaden zu bezeichnen. Durch alle diese
Vorgänge werde aber der nationale Charakter, der von Anfang an bis jetzt
ein ausgesprochen religiöser gewesen sei, völlig verändert, und an Stelle der
geistigen Interessen und der Hoffnung auf eine jenseitige Welt trete das rein
materielle Streben, plötzlich reich zu werden. Der moralische Protest der öffent¬
lichen Meinung gegen kommerzielle Betrügereien und gegen die Korruptions¬
wirtschaft in den großen Städten zeige allerdings erfreulicherweise, daß dem
amerikanischen Volke bis jetzt der alte Idealismus noch zu einem guten Teil
erhalten geblieben sei, aber ohne radikale Änderungen würde dieser Protest
doch leider ohne Wirkung bleiben.
Die Kriminalstatistik biete ein erschreckendes Bild von zunehmender Ver¬
achtung der Gesetze. Insbesondre seien die zahlreichen Morde und die sich
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