Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Der lahme vassilis Ist er denn dein Bruder, daß du dich so zu ihm benimmst? sagte sie zu ihr. Aber wir müssen doch was zu lachen haben, liebes Kind, erwiderte Photo. Sieh dich ja vor; er sieht dich schon lange ans eine Weise an, die mir nicht An jenem Abend bangte es Vassilis vor der Nachtruhe. In tiefer Nacht Hör mal, mir scheint, Vassilis weint; was mag er wohl haben? Sie lauschten beide; wirklich weinte Vassilis, und so sehr er sich bemühte, Er stand auf, ehe es hell wurde. Seine Augen waren rot, geschwollen vom Was war dir in der Nacht, Vassilis, daß du so geweint hast? Hast du viel¬ Er stutzte. Was, ihr habt mich also gehört? Nun ja, ich dachte an meinen Er hielt etwas inne, dann neigte er kummervoll seinen Kopf und sprach: Woran soll ich denken, ohne zu weinen? Und bitter lachend setzte er hinzu: Alle Vorzüge habe ich: Verwaistheit. Krankheit, Häßlichkeit. Das letzte Wort In der Schule war er nicht mehr der alte. Tag für Tag wollte er einen Sicher ist er in dich verliebt, sagte diese zu ihrer Schwester. Eines Tages sagte sie zu ihm, um sich einen Spaß zu machen: Weißt du, Vassilichen, wie schön du geworden bist? Er wurde rot wie vor Scham und sagte gar nichts. Aber von nun an be¬ Monate waren vergangen. Vassilis hatte nnr noch einen Gedanken der sich Der lahme vassilis Ist er denn dein Bruder, daß du dich so zu ihm benimmst? sagte sie zu ihr. Aber wir müssen doch was zu lachen haben, liebes Kind, erwiderte Photo. Sieh dich ja vor; er sieht dich schon lange ans eine Weise an, die mir nicht An jenem Abend bangte es Vassilis vor der Nachtruhe. In tiefer Nacht Hör mal, mir scheint, Vassilis weint; was mag er wohl haben? Sie lauschten beide; wirklich weinte Vassilis, und so sehr er sich bemühte, Er stand auf, ehe es hell wurde. Seine Augen waren rot, geschwollen vom Was war dir in der Nacht, Vassilis, daß du so geweint hast? Hast du viel¬ Er stutzte. Was, ihr habt mich also gehört? Nun ja, ich dachte an meinen Er hielt etwas inne, dann neigte er kummervoll seinen Kopf und sprach: Woran soll ich denken, ohne zu weinen? Und bitter lachend setzte er hinzu: Alle Vorzüge habe ich: Verwaistheit. Krankheit, Häßlichkeit. Das letzte Wort In der Schule war er nicht mehr der alte. Tag für Tag wollte er einen Sicher ist er in dich verliebt, sagte diese zu ihrer Schwester. Eines Tages sagte sie zu ihm, um sich einen Spaß zu machen: Weißt du, Vassilichen, wie schön du geworden bist? Er wurde rot wie vor Scham und sagte gar nichts. Aber von nun an be¬ Monate waren vergangen. Vassilis hatte nnr noch einen Gedanken der sich <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0537" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302525"/> <fw type="header" place="top"> Der lahme vassilis</fw><lb/> <p xml:id="ID_2321"> Ist er denn dein Bruder, daß du dich so zu ihm benimmst? sagte sie zu ihr.</p><lb/> <p xml:id="ID_2322"> Aber wir müssen doch was zu lachen haben, liebes Kind, erwiderte Photo.<lb/> Dann hab keine Angst, es ist nichts von Vassilis zu befürchten.</p><lb/> <p xml:id="ID_2323"> Sieh dich ja vor; er sieht dich schon lange ans eine Weise an, die mir nicht<lb/> gefällt, weißt du.</p><lb/> <p xml:id="ID_2324"> An jenem Abend bangte es Vassilis vor der Nachtruhe. 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Angelo fragte ihn nun neugierig:</p><lb/> <p xml:id="ID_2328"> Was war dir in der Nacht, Vassilis, daß du so geweint hast? Hast du viel¬<lb/> leicht einen bösen Traum gehabt?</p><lb/> <p xml:id="ID_2329"> Er stutzte. Was, ihr habt mich also gehört? Nun ja, ich dachte an meinen<lb/> seligen Vater.</p><lb/> <p xml:id="ID_2330"> Er hielt etwas inne, dann neigte er kummervoll seinen Kopf und sprach:</p><lb/> <p xml:id="ID_2331"> Woran soll ich denken, ohne zu weinen? Und bitter lachend setzte er hinzu:</p><lb/> <p xml:id="ID_2332"> Alle Vorzüge habe ich: Verwaistheit. Krankheit, Häßlichkeit. Das letzte Wort<lb/> sprach er mit solchem Ausdruck, daß Photo die Augen niederschlagen mußte.</p><lb/> <p xml:id="ID_2333"> In der Schule war er nicht mehr der alte. Tag für Tag wollte er einen<lb/> Vorwand finden, um den Mädchen nahe zu sein. Wo war jetzt die Lust zum<lb/> Studieren! 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Nur Photo tat, als hätte sie es gern; denn sie merkte,<lb/> daß alles nur um ihretwillen geschah. In der Schule brauchten seine M: Schüler<lb/> nur von fern seinen geölten Scheitel zu erblicken, um ein Gelächter anzustimmen,<lb/> während er sie mit seiner Krücke bedrohte, wenn sie nicht still waren, ^in Unter¬<lb/> richt war er schon der Letzte geworden.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p xml:id="ID_2338" next="#ID_2339"> Monate waren vergangen. Vassilis hatte nnr noch einen Gedanken der sich<lb/> wie ein Bohrer Tag und Nacht in seineu Sinn bohrte: er dachte mit Photo zu<lb/> sprechen, sie irgendwo alleinzutreffen, ihr zu sagen, was er auf dem Herzen hatte,<lb/> seinen Schmerz wie ein Meer vor ihr auszubreiten, ihr sein Leid wie Quellen zu</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0537]
Der lahme vassilis
Ist er denn dein Bruder, daß du dich so zu ihm benimmst? sagte sie zu ihr.
Aber wir müssen doch was zu lachen haben, liebes Kind, erwiderte Photo.
Dann hab keine Angst, es ist nichts von Vassilis zu befürchten.
Sieh dich ja vor; er sieht dich schon lange ans eine Weise an, die mir nicht
gefällt, weißt du.
An jenem Abend bangte es Vassilis vor der Nachtruhe. In tiefer Nacht
hörte Angelo in seiner Kammer Weinen; sie weckte ihre Schwester und sagte leise
zu ihr:
Hör mal, mir scheint, Vassilis weint; was mag er wohl haben?
Sie lauschten beide; wirklich weinte Vassilis, und so sehr er sich bemühte,
seine Tränen zu ersticken, um so stärker quollen sie hervor. Seine Brust wollte
ihm zerspringen. Es war ihm, als müßte er laut heulen, um sich zu erleichtern,
die Last, die ihn bedrückte, von sich abzuwälzen. Warum? Was war sein Kummer?
Er wußte es selbst nicht recht. Er fühlte nur, wie etwas in ihm kochte, etwas
ihn quälte, ein Schlagen im Herzen, eine düstere Verzweiflung. Im Munde fühlte
er eine Bitterkeit.
Er stand auf, ehe es hell wurde. Seine Augen waren rot, geschwollen vom
Wachen und vom Weinen. Angelo fragte ihn nun neugierig:
Was war dir in der Nacht, Vassilis, daß du so geweint hast? Hast du viel¬
leicht einen bösen Traum gehabt?
Er stutzte. Was, ihr habt mich also gehört? Nun ja, ich dachte an meinen
seligen Vater.
Er hielt etwas inne, dann neigte er kummervoll seinen Kopf und sprach:
Woran soll ich denken, ohne zu weinen? Und bitter lachend setzte er hinzu:
Alle Vorzüge habe ich: Verwaistheit. Krankheit, Häßlichkeit. Das letzte Wort
sprach er mit solchem Ausdruck, daß Photo die Augen niederschlagen mußte.
In der Schule war er nicht mehr der alte. Tag für Tag wollte er einen
Vorwand finden, um den Mädchen nahe zu sein. Wo war jetzt die Lust zum
Studieren! Auch jetzt saß er wohl wie erst jeden Abend am Herde, das Buch in
den Händen, aber sein Geist war nicht bei der Sache, er war auf Reisen, und
seine Augen blieben meistenteils auf Photo haften.
Sicher ist er in dich verliebt, sagte diese zu ihrer Schwester.
Eines Tages sagte sie zu ihm, um sich einen Spaß zu machen:
Weißt du, Vassilichen, wie schön du geworden bist?
Er wurde rot wie vor Scham und sagte gar nichts. Aber von nun an be¬
gann er auf sich zu achten; er frisierte sich zweimal des Tages und rieb sein Haar
mit reichlichem Mandelöl ein, kaufte sich für einen Zehner ein rundes Spiegelchen,
und wo er stand und ging, zog er es heraus und besah sich darin. Die Zieh¬
harmonika ließ er überhaupt nicht mehr aus der Hand, und die ganze Nachbarschaft
war aufgebracht über ihn. Nur Photo tat, als hätte sie es gern; denn sie merkte,
daß alles nur um ihretwillen geschah. In der Schule brauchten seine M: Schüler
nur von fern seinen geölten Scheitel zu erblicken, um ein Gelächter anzustimmen,
während er sie mit seiner Krücke bedrohte, wenn sie nicht still waren, ^in Unter¬
richt war er schon der Letzte geworden.
Monate waren vergangen. Vassilis hatte nnr noch einen Gedanken der sich
wie ein Bohrer Tag und Nacht in seineu Sinn bohrte: er dachte mit Photo zu
sprechen, sie irgendwo alleinzutreffen, ihr zu sagen, was er auf dem Herzen hatte,
seinen Schmerz wie ein Meer vor ihr auszubreiten, ihr sein Leid wie Quellen zu
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