Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Der lahme vasstlis auch selbst, daß er ihnen lästig war. Er sann die ganze Nacht hin und her, aber Was für ein williger Junge, dachte er bei sich. Eingeschlossen in ein kleines Kämmerlein, studierte jetzt Vassilis Tag und Nacht. Mögen die Kosten sich lohnen, sagte er aus innerstem Herzen. Als der Winter gekommen war, begann Vassilis sich zu beklagen; nicht über Nun war Vassilis glücklich und zufrieden, und sein Herz fand Ruhe. Jede" Der arme Vassilis, wie gut er ist! sprach sie zu ihm. Vassilis spürte den Hauch ihres Atems an seiner Wange wie eine glühende Der lahme vasstlis auch selbst, daß er ihnen lästig war. Er sann die ganze Nacht hin und her, aber Was für ein williger Junge, dachte er bei sich. Eingeschlossen in ein kleines Kämmerlein, studierte jetzt Vassilis Tag und Nacht. Mögen die Kosten sich lohnen, sagte er aus innerstem Herzen. Als der Winter gekommen war, begann Vassilis sich zu beklagen; nicht über Nun war Vassilis glücklich und zufrieden, und sein Herz fand Ruhe. Jede» Der arme Vassilis, wie gut er ist! sprach sie zu ihm. Vassilis spürte den Hauch ihres Atems an seiner Wange wie eine glühende <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0536" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302524"/> <fw type="header" place="top"> Der lahme vasstlis</fw><lb/> <p xml:id="ID_2313" prev="#ID_2312"> auch selbst, daß er ihnen lästig war. Er sann die ganze Nacht hin und her, aber<lb/> wie er es auch anfing, immer wieder fand er, daß sein Onkel Recht hatte. Den<lb/> Alten kostete es auch gar keine Mühe, ihn zu überreden.</p><lb/> <p xml:id="ID_2314"> Was für ein williger Junge, dachte er bei sich.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p xml:id="ID_2315"> Eingeschlossen in ein kleines Kämmerlein, studierte jetzt Vassilis Tag und Nacht.<lb/> Die Schule lag drei Stunden weit vom Dorfe entfernt. Jeden Sonnabend Abend,<lb/> wenn geschlossen wurde, ging er fort, um am Montag früh wiederzukommen, den<lb/> Tornister vollgepackt mit Eßvorrat für die ganze Woche. Zu Fuß ging er, und<lb/> zu Fuß kehrte er wieder zurück. Die Anstrengung scheute er gar nicht, so lahm<lb/> er auch war, so oft er an die Wärme und das gute Essen dachte, das ihn er¬<lb/> wartete. Die Lehrer lobten ihn, und seine Mitschüler, die anfangs geneigt waren,<lb/> über ihn zu lachen, merkten bald, daß sie es mit einem Überlegneren zu tun hatten.<lb/> So oft sein Onkel in Geschäften zur Stadt kam, sprach er in der Schule vor und fragte<lb/> nach seinem Neffen; er hörte Belobigungen, und seine Seele fühlte sich befriedigt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2316"> Mögen die Kosten sich lohnen, sagte er aus innerstem Herzen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2317"> Als der Winter gekommen war, begann Vassilis sich zu beklagen; nicht über<lb/> die Unterrichtsstunden — denn von denen hatte er noch keine Mühe verspürt —,<lb/> sondern über das einsame Leben in seinem Kämmerchen. Die Einsamkeit und die<lb/> Kälte konnte er unmöglich ertragen. Er fürchtete, er könnte eines Abends erfrieren,<lb/> und mit Schaudern dachte er daran, wenn er einmal plötzlich krank werden sollte,<lb/> würde niemand da sein, der ihm was Warmes kochte. Er sagte es seinem Onkel,<lb/> und der ließ sichs angelegen sein, ein gutes Haus für ihn zu finden, wo er wohnen<lb/> könnte. Frau Kostantina, eine Witwe mit zwei erwachsnen Töchtern, hatte immer<lb/> ein Kämmerchen für einige Schüler zu vermieten. Wegen der Töchter nahm sie<lb/> immer nur Knaben, dieses Jahr aber, da ihr Haus gerade unvermietet blieb, gab<lb/> sie es dem Vassilis für fünf Drachmen monatlich; sie hatte ja auch nichts zu be¬<lb/> fürchten, da er ein Krüppel und zum Lachen häßlich war.</p><lb/> <p xml:id="ID_2318"> Nun war Vassilis glücklich und zufrieden, und sein Herz fand Ruhe. Jede»<lb/> Abend versammelten sich alle um deu Herd. Die alte Kostantina schlief dann, an<lb/> die Wand gelehnt, allmählich ein, Vassilis, sein Buch auf den Knien, las darin,<lb/> und die Mädchen flüsterten miteinander und neckten sich oder scherzten über ihre<lb/> schlafende Mutter, um Stoff zum Lachen zu haben. Beide waren hübsch, aber die<lb/> jüngste, Photo, war die hübscheste. Sie hatte noch nicht das achtzehnte Jahr<lb/> vollendet. Mit schwarzen, lebhaften, träumerische» Augen, prächtigem Haar, frischem<lb/> Gesicht, üppig schwellendem Busen — kurz, eine Schönheit, die wonnigen Schauer<lb/> hervorrief. Ein heiteres, munteres, ausgelassenes Mädchen. Die Mädchen aus<lb/> der Nachbarschaft versammelten sich bei ihr, spielten allerlei Spiele und tanzten.<lb/> Sie zogen auch den Vassilis hinzu, der etwas Harmonika spielen konnte und ihnen<lb/> aufspielte. Dann spielte er, und sie tanzten. Sie scherzten mit ihm und neckten<lb/> ihn offen. Eines Tags gelang es der Photo, ihn mit ihren Schmeichelreden zu<lb/> überreden, auch mitzutanzen. Vassilis machte humpelnd eine ganze Reihe von Runden<lb/> und zog sich dann erhitzt und erschöpft in eine Ecke zurück, um auszuruhn. Photo<lb/> lief zu ihm, umarmte ihn, und es fehlte nicht viel, so hätte sie ihn geküßt.</p><lb/> <p xml:id="ID_2319"> Der arme Vassilis, wie gut er ist! sprach sie zu ihm.</p><lb/> <p xml:id="ID_2320"> Vassilis spürte den Hauch ihres Atems an seiner Wange wie eine glühende<lb/> Kohle und erschauderte; seine Augen wurden ihm trübe, und eine Kälte durch¬<lb/> zuckte ihn, als ob ihm eine Schlange über das Rückgrat lief. Angelo schalt ihre<lb/> Schwester wegen ihrer Dreistigkeit.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0536]
Der lahme vasstlis
auch selbst, daß er ihnen lästig war. Er sann die ganze Nacht hin und her, aber
wie er es auch anfing, immer wieder fand er, daß sein Onkel Recht hatte. Den
Alten kostete es auch gar keine Mühe, ihn zu überreden.
Was für ein williger Junge, dachte er bei sich.
Eingeschlossen in ein kleines Kämmerlein, studierte jetzt Vassilis Tag und Nacht.
Die Schule lag drei Stunden weit vom Dorfe entfernt. Jeden Sonnabend Abend,
wenn geschlossen wurde, ging er fort, um am Montag früh wiederzukommen, den
Tornister vollgepackt mit Eßvorrat für die ganze Woche. Zu Fuß ging er, und
zu Fuß kehrte er wieder zurück. Die Anstrengung scheute er gar nicht, so lahm
er auch war, so oft er an die Wärme und das gute Essen dachte, das ihn er¬
wartete. Die Lehrer lobten ihn, und seine Mitschüler, die anfangs geneigt waren,
über ihn zu lachen, merkten bald, daß sie es mit einem Überlegneren zu tun hatten.
So oft sein Onkel in Geschäften zur Stadt kam, sprach er in der Schule vor und fragte
nach seinem Neffen; er hörte Belobigungen, und seine Seele fühlte sich befriedigt.
Mögen die Kosten sich lohnen, sagte er aus innerstem Herzen.
Als der Winter gekommen war, begann Vassilis sich zu beklagen; nicht über
die Unterrichtsstunden — denn von denen hatte er noch keine Mühe verspürt —,
sondern über das einsame Leben in seinem Kämmerchen. Die Einsamkeit und die
Kälte konnte er unmöglich ertragen. Er fürchtete, er könnte eines Abends erfrieren,
und mit Schaudern dachte er daran, wenn er einmal plötzlich krank werden sollte,
würde niemand da sein, der ihm was Warmes kochte. Er sagte es seinem Onkel,
und der ließ sichs angelegen sein, ein gutes Haus für ihn zu finden, wo er wohnen
könnte. Frau Kostantina, eine Witwe mit zwei erwachsnen Töchtern, hatte immer
ein Kämmerchen für einige Schüler zu vermieten. Wegen der Töchter nahm sie
immer nur Knaben, dieses Jahr aber, da ihr Haus gerade unvermietet blieb, gab
sie es dem Vassilis für fünf Drachmen monatlich; sie hatte ja auch nichts zu be¬
fürchten, da er ein Krüppel und zum Lachen häßlich war.
Nun war Vassilis glücklich und zufrieden, und sein Herz fand Ruhe. Jede»
Abend versammelten sich alle um deu Herd. Die alte Kostantina schlief dann, an
die Wand gelehnt, allmählich ein, Vassilis, sein Buch auf den Knien, las darin,
und die Mädchen flüsterten miteinander und neckten sich oder scherzten über ihre
schlafende Mutter, um Stoff zum Lachen zu haben. Beide waren hübsch, aber die
jüngste, Photo, war die hübscheste. Sie hatte noch nicht das achtzehnte Jahr
vollendet. Mit schwarzen, lebhaften, träumerische» Augen, prächtigem Haar, frischem
Gesicht, üppig schwellendem Busen — kurz, eine Schönheit, die wonnigen Schauer
hervorrief. Ein heiteres, munteres, ausgelassenes Mädchen. Die Mädchen aus
der Nachbarschaft versammelten sich bei ihr, spielten allerlei Spiele und tanzten.
Sie zogen auch den Vassilis hinzu, der etwas Harmonika spielen konnte und ihnen
aufspielte. Dann spielte er, und sie tanzten. Sie scherzten mit ihm und neckten
ihn offen. Eines Tags gelang es der Photo, ihn mit ihren Schmeichelreden zu
überreden, auch mitzutanzen. Vassilis machte humpelnd eine ganze Reihe von Runden
und zog sich dann erhitzt und erschöpft in eine Ecke zurück, um auszuruhn. Photo
lief zu ihm, umarmte ihn, und es fehlte nicht viel, so hätte sie ihn geküßt.
Der arme Vassilis, wie gut er ist! sprach sie zu ihm.
Vassilis spürte den Hauch ihres Atems an seiner Wange wie eine glühende
Kohle und erschauderte; seine Augen wurden ihm trübe, und eine Kälte durch¬
zuckte ihn, als ob ihm eine Schlange über das Rückgrat lief. Angelo schalt ihre
Schwester wegen ihrer Dreistigkeit.
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