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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Die österreichischen Reichsratswahlen

der Sozialdemokratie geförderte Streben der bürgerlichen Parteien nach natio¬
naler Konsolidierung entgegensteht. Auf jeden Fall wird die 85 Mann starke
sozialdemokratische Partei immer in der Lage sein, bei allen wichtigen Fragen
den Ausschlag zu geben, und es in der Hand haben, durch Unterstützung der
jeweiligen Opposition die Bildung einer Mehrheit für die Regierung unmöglich
zu machen. Möglich, daß sich in den Flitterwochen des neuen Hauses dieser
Zustand noch nicht in seiner ganzen Schärfe fühlbar machen wird, über kurz
oder lang wird sich aber die Regierung gezwungen sehen, die "Verwirklichung
der wahrhaft demokratischen Ideen" damit zu beginnen, daß sie den Para¬
graph 14 wieder hervorsucht, das kaiserliche Notverordnungsrecht. Fürs erste
wird man sich damit wohl über die Schwierigkeiten des Augenblicks hinüber¬
helfen, auf die Dauer aber wird damit doch nur Wasser auf die Mühlen der
Sozialdemokratie getrieben werden, die nicht zögern wird, die Beseitigung des
Paragraphen 14 zum Gegenstand einer wirksamen und am letzten Ende gegen
die Krone gerichteten Agitation zu machen. Nachdem sich der Kaiser wiederholt
für das allgemeine gleiche Wahlrecht und die Konstituierung einer wirklichen
Volksrepräsentation ausgesprochen hat, wird es ja ein leichtes sein, den Massen
begreiflich zu machen, daß die Beiseiteschiebung dieses Volksparlaments durch das
kaiserliche Notverordnungsrecht ein Wortbruch von feiten der Krone und eine
Beraubung des Volks um sein schwer errungnes Recht am Parlament wäre.

Rechnet mau nun hinzu, daß in dem neuen Hause noch viel weniger als
im alten an die Revision der völlig unzureichenden Geschäftsordnung zu denken
sein wird, dann muß man zu dem Schlüsse kommen, daß die Einführung des
allgemeinen Wahlrechts entweder eine Farce war, mit Hilfe deren man zur
vollständigen Zersetzung des Parlaments und damit zu eiuer leichtern und
bequemern Handhabung des Paragraphen 14 zu gelangen glaubte, oder aber
ein verhängnisvoller Irrtum -- in beiden Fällen ein herostratisches Beginnen,
vor dessen Wirkungen besonders die Deutschen Österreichs allen Grund haben,
auf ihrer Hut zu sein.

Der Inhalt des erwähnten Manifestes der tschechoslawischen Sozial¬
demokratie bestätigt durchaus, was ich schon im vorigen Jahre in den Grenz-
boten bei Besprechung der österreichischen Wahlrechtsfrage ausgeführt habe,
daß die Gefahr der Demokratisierung des Wahlrechts in nationaler Hinsicht
für die Deutschen Österreichs weit größer ist als für die Tschechen. Was
macht es aus, daß die bürgerlichen tschechischnationalen Parteien durch das
allgemeine gleiche Wahlrecht nahezu zerschmettert worden sind, wo die tschechische
Sozialdemokratie ihre nationalen Forderungen in ihrem ganzen Umfange und
in aller ihrer Schärfe aufgenommen hat. Die deutschösterreichisclie Sozial¬
demokratie, in deren Führung im Gegensatze zu der slawische" das international¬
jüdische Element überwiegt, hat bisher noch nicht die leisesten nationalen
Regungen gezeigt und wird, wie in der Vergangenheit, so anch in der Zu¬
kunft im Interesse der Aufrechterhaltung der Solidarität des Proletariats den
tschechischen Genossen nachgeben, wenn sie dem bürgerlichen Slawentum in


Die österreichischen Reichsratswahlen

der Sozialdemokratie geförderte Streben der bürgerlichen Parteien nach natio¬
naler Konsolidierung entgegensteht. Auf jeden Fall wird die 85 Mann starke
sozialdemokratische Partei immer in der Lage sein, bei allen wichtigen Fragen
den Ausschlag zu geben, und es in der Hand haben, durch Unterstützung der
jeweiligen Opposition die Bildung einer Mehrheit für die Regierung unmöglich
zu machen. Möglich, daß sich in den Flitterwochen des neuen Hauses dieser
Zustand noch nicht in seiner ganzen Schärfe fühlbar machen wird, über kurz
oder lang wird sich aber die Regierung gezwungen sehen, die „Verwirklichung
der wahrhaft demokratischen Ideen" damit zu beginnen, daß sie den Para¬
graph 14 wieder hervorsucht, das kaiserliche Notverordnungsrecht. Fürs erste
wird man sich damit wohl über die Schwierigkeiten des Augenblicks hinüber¬
helfen, auf die Dauer aber wird damit doch nur Wasser auf die Mühlen der
Sozialdemokratie getrieben werden, die nicht zögern wird, die Beseitigung des
Paragraphen 14 zum Gegenstand einer wirksamen und am letzten Ende gegen
die Krone gerichteten Agitation zu machen. Nachdem sich der Kaiser wiederholt
für das allgemeine gleiche Wahlrecht und die Konstituierung einer wirklichen
Volksrepräsentation ausgesprochen hat, wird es ja ein leichtes sein, den Massen
begreiflich zu machen, daß die Beiseiteschiebung dieses Volksparlaments durch das
kaiserliche Notverordnungsrecht ein Wortbruch von feiten der Krone und eine
Beraubung des Volks um sein schwer errungnes Recht am Parlament wäre.

Rechnet mau nun hinzu, daß in dem neuen Hause noch viel weniger als
im alten an die Revision der völlig unzureichenden Geschäftsordnung zu denken
sein wird, dann muß man zu dem Schlüsse kommen, daß die Einführung des
allgemeinen Wahlrechts entweder eine Farce war, mit Hilfe deren man zur
vollständigen Zersetzung des Parlaments und damit zu eiuer leichtern und
bequemern Handhabung des Paragraphen 14 zu gelangen glaubte, oder aber
ein verhängnisvoller Irrtum — in beiden Fällen ein herostratisches Beginnen,
vor dessen Wirkungen besonders die Deutschen Österreichs allen Grund haben,
auf ihrer Hut zu sein.

Der Inhalt des erwähnten Manifestes der tschechoslawischen Sozial¬
demokratie bestätigt durchaus, was ich schon im vorigen Jahre in den Grenz-
boten bei Besprechung der österreichischen Wahlrechtsfrage ausgeführt habe,
daß die Gefahr der Demokratisierung des Wahlrechts in nationaler Hinsicht
für die Deutschen Österreichs weit größer ist als für die Tschechen. Was
macht es aus, daß die bürgerlichen tschechischnationalen Parteien durch das
allgemeine gleiche Wahlrecht nahezu zerschmettert worden sind, wo die tschechische
Sozialdemokratie ihre nationalen Forderungen in ihrem ganzen Umfange und
in aller ihrer Schärfe aufgenommen hat. Die deutschösterreichisclie Sozial¬
demokratie, in deren Führung im Gegensatze zu der slawische» das international¬
jüdische Element überwiegt, hat bisher noch nicht die leisesten nationalen
Regungen gezeigt und wird, wie in der Vergangenheit, so anch in der Zu¬
kunft im Interesse der Aufrechterhaltung der Solidarität des Proletariats den
tschechischen Genossen nachgeben, wenn sie dem bürgerlichen Slawentum in


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[0448] Die österreichischen Reichsratswahlen der Sozialdemokratie geförderte Streben der bürgerlichen Parteien nach natio¬ naler Konsolidierung entgegensteht. Auf jeden Fall wird die 85 Mann starke sozialdemokratische Partei immer in der Lage sein, bei allen wichtigen Fragen den Ausschlag zu geben, und es in der Hand haben, durch Unterstützung der jeweiligen Opposition die Bildung einer Mehrheit für die Regierung unmöglich zu machen. Möglich, daß sich in den Flitterwochen des neuen Hauses dieser Zustand noch nicht in seiner ganzen Schärfe fühlbar machen wird, über kurz oder lang wird sich aber die Regierung gezwungen sehen, die „Verwirklichung der wahrhaft demokratischen Ideen" damit zu beginnen, daß sie den Para¬ graph 14 wieder hervorsucht, das kaiserliche Notverordnungsrecht. Fürs erste wird man sich damit wohl über die Schwierigkeiten des Augenblicks hinüber¬ helfen, auf die Dauer aber wird damit doch nur Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie getrieben werden, die nicht zögern wird, die Beseitigung des Paragraphen 14 zum Gegenstand einer wirksamen und am letzten Ende gegen die Krone gerichteten Agitation zu machen. Nachdem sich der Kaiser wiederholt für das allgemeine gleiche Wahlrecht und die Konstituierung einer wirklichen Volksrepräsentation ausgesprochen hat, wird es ja ein leichtes sein, den Massen begreiflich zu machen, daß die Beiseiteschiebung dieses Volksparlaments durch das kaiserliche Notverordnungsrecht ein Wortbruch von feiten der Krone und eine Beraubung des Volks um sein schwer errungnes Recht am Parlament wäre. Rechnet mau nun hinzu, daß in dem neuen Hause noch viel weniger als im alten an die Revision der völlig unzureichenden Geschäftsordnung zu denken sein wird, dann muß man zu dem Schlüsse kommen, daß die Einführung des allgemeinen Wahlrechts entweder eine Farce war, mit Hilfe deren man zur vollständigen Zersetzung des Parlaments und damit zu eiuer leichtern und bequemern Handhabung des Paragraphen 14 zu gelangen glaubte, oder aber ein verhängnisvoller Irrtum — in beiden Fällen ein herostratisches Beginnen, vor dessen Wirkungen besonders die Deutschen Österreichs allen Grund haben, auf ihrer Hut zu sein. Der Inhalt des erwähnten Manifestes der tschechoslawischen Sozial¬ demokratie bestätigt durchaus, was ich schon im vorigen Jahre in den Grenz- boten bei Besprechung der österreichischen Wahlrechtsfrage ausgeführt habe, daß die Gefahr der Demokratisierung des Wahlrechts in nationaler Hinsicht für die Deutschen Österreichs weit größer ist als für die Tschechen. Was macht es aus, daß die bürgerlichen tschechischnationalen Parteien durch das allgemeine gleiche Wahlrecht nahezu zerschmettert worden sind, wo die tschechische Sozialdemokratie ihre nationalen Forderungen in ihrem ganzen Umfange und in aller ihrer Schärfe aufgenommen hat. Die deutschösterreichisclie Sozial¬ demokratie, in deren Führung im Gegensatze zu der slawische» das international¬ jüdische Element überwiegt, hat bisher noch nicht die leisesten nationalen Regungen gezeigt und wird, wie in der Vergangenheit, so anch in der Zu¬ kunft im Interesse der Aufrechterhaltung der Solidarität des Proletariats den tschechischen Genossen nachgeben, wenn sie dem bürgerlichen Slawentum in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/448>, abgerufen am 06.02.2025.