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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Die eigne Meinung

kreis unsrer Umwelt heraus. Der Mensch will leben, er will sogar gut leben,
er will nicht gestoßen, noch weniger verstoßen werden, und deshalb sucht er
möglichst wenig -- Anstoß zu erregen. Mit eignen Meinungen erregt man aber
gar zu leicht Anstoß, mit der Meinung der andern bleibt man dagegen in der
Menge versteckt. Ohne die Aufmerksamkeit der andern zu sehr auf sich zu ziehen,
kann man in aller Stille sein Schäfchen scheren. Die Allgemeinheit, das Ganze,
die Kultur als solche hat allerdings zu ihrer Entwicklung eigne Meinungen,
neue Ideen, befruchtende Impulse nötig, sie ist das Resultat aller dieser Dinge,
der Einzelne dagegen kommt entschieden besser fort, wenn er ziemlich geräuschlos
in der Menge verschwindet. Nur Kraftnaturen, geborne Genies, die sich erst
im Kampfe mit der rückständigen Menge voll entfalten und dabei siegen oder
untergehen, dürfen sich den Luxus eigner Meinungen, reformatorischer Be¬
strebungen, bahnbrechender Neuerungen erlauben. So lange wir also keine ein¬
wandfreien Garantien haben, zu solchen Kraftnaturen zu gehören, spielen wir
auf dieser Welt nicht den Propheten und Erlöser, sondern bleiben hübsch zu
Hause und ernähren uns redlich. Denn allen Weltverbesserern sollte stets die histo¬
risch beglaubigte alte Wahrheit vorschweben: die menschliche Gesellschaft hat zu
ihrer Fortentwicklung allerdings Ausnahmemenschen, führende Geister, eigne
Meinungsmänner nötig, gibt sich aber trotzdem alle Mühe, diese Ausucchme-
menschen zu unterdrücken; die menschliche Gesellschaft jubelt öffentlich einem
großen Manne zu und arbeitet doch heimlich an seinem Sturze. Darauf beruhen
die Unbegreiflichkeiten in der Weltgeschichte, und darin ist das Paradoxe der
Weltentwicklung begründet.

Nur von Persönlichkeiten, von Charakteren werden die Massen -- wenn
auch widerwillig -- fortgerissen, den Alltagsmenschen dagegen reißen -- nur
allzu willfährig -- die Massen fort. Ganz widerstandslos aber werden die Massen
fortgerissen von jenen Männern, die sie für ihre Meinungen steinigen wollen
oder gesteinigt haben. Die glaubensstarke Meinung ist unsterblich, die Vertreter
solcher Meinungen wirken weit über ihren Tod hinaus. Auch soll man sich
nicht gar zu sehr darüber wundern, daß die Massen ihre großen Männer ge¬
steinigt und gekreuzigt haben. Bei den Durchschnittsmenschen, den schwachen
Naturen, bildet sich ganz von selbst ein eigenartiger Groll gegen starke Geister,
sie können es nicht ertragen, daß ein andrer wagt, was sie selbst niemals wagen
würden. Die Menge fürchtet sich vor eignen Meinungen und verschwört sich
gegen die Leute, die sie haben. Das sehnsüchtige Streben nach Gleichheit, nach
Nivellierung steckt der Menschheit so im Blute, daß sie gemeinsam Front macht
gegen jeden, der sich aus der Allgemeinheit, aus der großen weiten Ebene
herausheben will. Jeder Mensch, der öffentlich bewundert wird, wird im ge¬
heimen gehaßt, das ist seit Jahrtausenden so gewesen und wird auch nicht anders
werden können, weil es in der menschlichen Natur begründet ist, die nicht von
Liebe zusammengehalten, sondern von Neid zerbröckelt wird. Unter dem Banne
einer gewaltigen Persönlichkeit duckt sich die Menge nur so lange, als sie muß;


Die eigne Meinung

kreis unsrer Umwelt heraus. Der Mensch will leben, er will sogar gut leben,
er will nicht gestoßen, noch weniger verstoßen werden, und deshalb sucht er
möglichst wenig — Anstoß zu erregen. Mit eignen Meinungen erregt man aber
gar zu leicht Anstoß, mit der Meinung der andern bleibt man dagegen in der
Menge versteckt. Ohne die Aufmerksamkeit der andern zu sehr auf sich zu ziehen,
kann man in aller Stille sein Schäfchen scheren. Die Allgemeinheit, das Ganze,
die Kultur als solche hat allerdings zu ihrer Entwicklung eigne Meinungen,
neue Ideen, befruchtende Impulse nötig, sie ist das Resultat aller dieser Dinge,
der Einzelne dagegen kommt entschieden besser fort, wenn er ziemlich geräuschlos
in der Menge verschwindet. Nur Kraftnaturen, geborne Genies, die sich erst
im Kampfe mit der rückständigen Menge voll entfalten und dabei siegen oder
untergehen, dürfen sich den Luxus eigner Meinungen, reformatorischer Be¬
strebungen, bahnbrechender Neuerungen erlauben. So lange wir also keine ein¬
wandfreien Garantien haben, zu solchen Kraftnaturen zu gehören, spielen wir
auf dieser Welt nicht den Propheten und Erlöser, sondern bleiben hübsch zu
Hause und ernähren uns redlich. Denn allen Weltverbesserern sollte stets die histo¬
risch beglaubigte alte Wahrheit vorschweben: die menschliche Gesellschaft hat zu
ihrer Fortentwicklung allerdings Ausnahmemenschen, führende Geister, eigne
Meinungsmänner nötig, gibt sich aber trotzdem alle Mühe, diese Ausucchme-
menschen zu unterdrücken; die menschliche Gesellschaft jubelt öffentlich einem
großen Manne zu und arbeitet doch heimlich an seinem Sturze. Darauf beruhen
die Unbegreiflichkeiten in der Weltgeschichte, und darin ist das Paradoxe der
Weltentwicklung begründet.

Nur von Persönlichkeiten, von Charakteren werden die Massen — wenn
auch widerwillig — fortgerissen, den Alltagsmenschen dagegen reißen — nur
allzu willfährig — die Massen fort. Ganz widerstandslos aber werden die Massen
fortgerissen von jenen Männern, die sie für ihre Meinungen steinigen wollen
oder gesteinigt haben. Die glaubensstarke Meinung ist unsterblich, die Vertreter
solcher Meinungen wirken weit über ihren Tod hinaus. Auch soll man sich
nicht gar zu sehr darüber wundern, daß die Massen ihre großen Männer ge¬
steinigt und gekreuzigt haben. Bei den Durchschnittsmenschen, den schwachen
Naturen, bildet sich ganz von selbst ein eigenartiger Groll gegen starke Geister,
sie können es nicht ertragen, daß ein andrer wagt, was sie selbst niemals wagen
würden. Die Menge fürchtet sich vor eignen Meinungen und verschwört sich
gegen die Leute, die sie haben. Das sehnsüchtige Streben nach Gleichheit, nach
Nivellierung steckt der Menschheit so im Blute, daß sie gemeinsam Front macht
gegen jeden, der sich aus der Allgemeinheit, aus der großen weiten Ebene
herausheben will. Jeder Mensch, der öffentlich bewundert wird, wird im ge¬
heimen gehaßt, das ist seit Jahrtausenden so gewesen und wird auch nicht anders
werden können, weil es in der menschlichen Natur begründet ist, die nicht von
Liebe zusammengehalten, sondern von Neid zerbröckelt wird. Unter dem Banne
einer gewaltigen Persönlichkeit duckt sich die Menge nur so lange, als sie muß;


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[0420] Die eigne Meinung kreis unsrer Umwelt heraus. Der Mensch will leben, er will sogar gut leben, er will nicht gestoßen, noch weniger verstoßen werden, und deshalb sucht er möglichst wenig — Anstoß zu erregen. Mit eignen Meinungen erregt man aber gar zu leicht Anstoß, mit der Meinung der andern bleibt man dagegen in der Menge versteckt. Ohne die Aufmerksamkeit der andern zu sehr auf sich zu ziehen, kann man in aller Stille sein Schäfchen scheren. Die Allgemeinheit, das Ganze, die Kultur als solche hat allerdings zu ihrer Entwicklung eigne Meinungen, neue Ideen, befruchtende Impulse nötig, sie ist das Resultat aller dieser Dinge, der Einzelne dagegen kommt entschieden besser fort, wenn er ziemlich geräuschlos in der Menge verschwindet. Nur Kraftnaturen, geborne Genies, die sich erst im Kampfe mit der rückständigen Menge voll entfalten und dabei siegen oder untergehen, dürfen sich den Luxus eigner Meinungen, reformatorischer Be¬ strebungen, bahnbrechender Neuerungen erlauben. So lange wir also keine ein¬ wandfreien Garantien haben, zu solchen Kraftnaturen zu gehören, spielen wir auf dieser Welt nicht den Propheten und Erlöser, sondern bleiben hübsch zu Hause und ernähren uns redlich. Denn allen Weltverbesserern sollte stets die histo¬ risch beglaubigte alte Wahrheit vorschweben: die menschliche Gesellschaft hat zu ihrer Fortentwicklung allerdings Ausnahmemenschen, führende Geister, eigne Meinungsmänner nötig, gibt sich aber trotzdem alle Mühe, diese Ausucchme- menschen zu unterdrücken; die menschliche Gesellschaft jubelt öffentlich einem großen Manne zu und arbeitet doch heimlich an seinem Sturze. Darauf beruhen die Unbegreiflichkeiten in der Weltgeschichte, und darin ist das Paradoxe der Weltentwicklung begründet. Nur von Persönlichkeiten, von Charakteren werden die Massen — wenn auch widerwillig — fortgerissen, den Alltagsmenschen dagegen reißen — nur allzu willfährig — die Massen fort. Ganz widerstandslos aber werden die Massen fortgerissen von jenen Männern, die sie für ihre Meinungen steinigen wollen oder gesteinigt haben. Die glaubensstarke Meinung ist unsterblich, die Vertreter solcher Meinungen wirken weit über ihren Tod hinaus. Auch soll man sich nicht gar zu sehr darüber wundern, daß die Massen ihre großen Männer ge¬ steinigt und gekreuzigt haben. Bei den Durchschnittsmenschen, den schwachen Naturen, bildet sich ganz von selbst ein eigenartiger Groll gegen starke Geister, sie können es nicht ertragen, daß ein andrer wagt, was sie selbst niemals wagen würden. Die Menge fürchtet sich vor eignen Meinungen und verschwört sich gegen die Leute, die sie haben. Das sehnsüchtige Streben nach Gleichheit, nach Nivellierung steckt der Menschheit so im Blute, daß sie gemeinsam Front macht gegen jeden, der sich aus der Allgemeinheit, aus der großen weiten Ebene herausheben will. Jeder Mensch, der öffentlich bewundert wird, wird im ge¬ heimen gehaßt, das ist seit Jahrtausenden so gewesen und wird auch nicht anders werden können, weil es in der menschlichen Natur begründet ist, die nicht von Liebe zusammengehalten, sondern von Neid zerbröckelt wird. Unter dem Banne einer gewaltigen Persönlichkeit duckt sich die Menge nur so lange, als sie muß;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/420>, abgerufen am 06.02.2025.