Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Zweckbegriff und lNaterialsprache im Kunstgemerbe Vergewaltigung des Materials aus. Die besten künstlerischen Gedanken er¬ Für die heutige Kunstindustrie, die den Markt beherrscht und das äußere Zweckbegriff und lNaterialsprache im Kunstgemerbe Vergewaltigung des Materials aus. Die besten künstlerischen Gedanken er¬ Für die heutige Kunstindustrie, die den Markt beherrscht und das äußere <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0034" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302022"/> <fw type="header" place="top"> Zweckbegriff und lNaterialsprache im Kunstgemerbe</fw><lb/> <p xml:id="ID_79" prev="#ID_78"> Vergewaltigung des Materials aus. Die besten künstlerischen Gedanken er¬<lb/> geben sich immer aus der Natur des Stoffes. Die Kunstformen haben sich<lb/> aus der Natureigenschaft der Rohstoffe entwickelt; alle biegsamen und zähen,<lb/> dem Zerreißen widerstehenden Materien gehören zur textilen Kunst, die weichen,<lb/> bildsamen, plastischen zur keramischen Kunst mit allen Schöpfformen und Ge¬<lb/> fäßen, die stabförmigen, elastischen Materien zur Zimmerei, die den Holzbau,<lb/> den Hausrat und einen Teil des Steinbaus und der Metallotechnik umfaßt,<lb/> und die dichten, dem Zerdrücken und Knicken widerstehenden gehören zur Stein¬<lb/> kunst, zur Erdarbeit, zur Schnitzerei und zum Teil zur Juwelierkunst. Die<lb/> vier Klassen sind nicht streng unterschieden, sondern durch eine Fülle von Über¬<lb/> gängen verbunden, wonach gewisse Techniken und Materien verschiednen Ge¬<lb/> bieten zugleich angehören. Maßgebend ist, daß das Werk erstens ein Resultat<lb/> des beabsichtigten Gebrauchs oder Zwecks in tatsächlicher oder symbolischer<lb/> Auffassung und zweitens ein Resultat des Stoffes, der Werkzeuge und Proze¬<lb/> duren darstellt.</p><lb/> <p xml:id="ID_80" next="#ID_81"> Für die heutige Kunstindustrie, die den Markt beherrscht und das äußere<lb/> Gesicht unsrer Kultur im Städtebau, im Wohnhaus und im Handwerk be¬<lb/> stimmt, ist charakteristisch, daß die überlieferten und von der alten Kunst scharf<lb/> unterschiednem Merkmale eines bestimmten Materials und einer bestimmten<lb/> Herstellungsweise andern Materialien und andern Herstellungsweisen willkürlich<lb/> aufgedrängt werden. Diese Merkmale, aus dem ursächlichen Zusammenhang<lb/> gelöst und gewaltsam verteilt, herrschen als Schmuckformen in der Absicht ihrer<lb/> Hersteller auf Kosten einer sachlich schönen Gestaltung vor. So finden wir<lb/> an Verputzbauten den trügerischen Schein von Quadermauern, an Stuck¬<lb/> fassaden die abgegossenen und vervielfältigten Ornamente der Steinbildhanerei,<lb/> an Betoneisenwerken aufgeklebte Scheinsknlpturen, Kachelverkleidungen aus<lb/> Blech, Papiertapeten mit Holzmaserung, Tryglivenschlitze als Buchdeckel-<lb/> ornamcnt, den Prägestempel für Buchpressungcn als Motiv für Glasfenster,<lb/> Metallornamente in ermüdender Wiederholung in gleicher vergrößerter oder<lb/> verkleinerter Form, auf Suppentöpfen, Gürtelschließen, Halsbroschen und Ofen¬<lb/> vorsetzern, plastische Entwürfe für Marmor in Bronze, Keramik, Holz oder<lb/> Aluminium, ein und dieselbe Pslanzenstilisierung in Leder geschnitten, in Metall<lb/> getrieben oder gepreßt, auf keramische Objekte gemalt oder gebrannt, in Hand-<lb/> uud Maschinenstickerei ausgeführt, als Buchschmuck verwandt, ziseliert, gegossen,<lb/> gestochen, gebrannt, gedruckt, gestickt, gewebt und geschnitzt. Das Material<lb/> und sein Ausdruck ist bei diesem sinnlosen pseudokünstlerischen Verfahren, das<lb/> sich in der gesamten Produktion breit macht, gänzlich unterdrückt. Auch Kon-<lb/> struktionsformen werden in ihrer äußern Charakteristik häufig verwechselt, eine<lb/> sehr alte Sünde, die sich namentlich in den neuen, vergänglichen Ausstellungs¬<lb/> bauten verrät. Holzarchitekturen werden behandelt wie Steinbau, Metall¬<lb/> formen treten im Holzstil auf, was namentlich an manchem Hausrat erkennbar<lb/> ist, und Einflüsse der alten keramischen Kunst zeigen sich in diesem oder in</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0034]
Zweckbegriff und lNaterialsprache im Kunstgemerbe
Vergewaltigung des Materials aus. Die besten künstlerischen Gedanken er¬
geben sich immer aus der Natur des Stoffes. Die Kunstformen haben sich
aus der Natureigenschaft der Rohstoffe entwickelt; alle biegsamen und zähen,
dem Zerreißen widerstehenden Materien gehören zur textilen Kunst, die weichen,
bildsamen, plastischen zur keramischen Kunst mit allen Schöpfformen und Ge¬
fäßen, die stabförmigen, elastischen Materien zur Zimmerei, die den Holzbau,
den Hausrat und einen Teil des Steinbaus und der Metallotechnik umfaßt,
und die dichten, dem Zerdrücken und Knicken widerstehenden gehören zur Stein¬
kunst, zur Erdarbeit, zur Schnitzerei und zum Teil zur Juwelierkunst. Die
vier Klassen sind nicht streng unterschieden, sondern durch eine Fülle von Über¬
gängen verbunden, wonach gewisse Techniken und Materien verschiednen Ge¬
bieten zugleich angehören. Maßgebend ist, daß das Werk erstens ein Resultat
des beabsichtigten Gebrauchs oder Zwecks in tatsächlicher oder symbolischer
Auffassung und zweitens ein Resultat des Stoffes, der Werkzeuge und Proze¬
duren darstellt.
Für die heutige Kunstindustrie, die den Markt beherrscht und das äußere
Gesicht unsrer Kultur im Städtebau, im Wohnhaus und im Handwerk be¬
stimmt, ist charakteristisch, daß die überlieferten und von der alten Kunst scharf
unterschiednem Merkmale eines bestimmten Materials und einer bestimmten
Herstellungsweise andern Materialien und andern Herstellungsweisen willkürlich
aufgedrängt werden. Diese Merkmale, aus dem ursächlichen Zusammenhang
gelöst und gewaltsam verteilt, herrschen als Schmuckformen in der Absicht ihrer
Hersteller auf Kosten einer sachlich schönen Gestaltung vor. So finden wir
an Verputzbauten den trügerischen Schein von Quadermauern, an Stuck¬
fassaden die abgegossenen und vervielfältigten Ornamente der Steinbildhanerei,
an Betoneisenwerken aufgeklebte Scheinsknlpturen, Kachelverkleidungen aus
Blech, Papiertapeten mit Holzmaserung, Tryglivenschlitze als Buchdeckel-
ornamcnt, den Prägestempel für Buchpressungcn als Motiv für Glasfenster,
Metallornamente in ermüdender Wiederholung in gleicher vergrößerter oder
verkleinerter Form, auf Suppentöpfen, Gürtelschließen, Halsbroschen und Ofen¬
vorsetzern, plastische Entwürfe für Marmor in Bronze, Keramik, Holz oder
Aluminium, ein und dieselbe Pslanzenstilisierung in Leder geschnitten, in Metall
getrieben oder gepreßt, auf keramische Objekte gemalt oder gebrannt, in Hand-
uud Maschinenstickerei ausgeführt, als Buchschmuck verwandt, ziseliert, gegossen,
gestochen, gebrannt, gedruckt, gestickt, gewebt und geschnitzt. Das Material
und sein Ausdruck ist bei diesem sinnlosen pseudokünstlerischen Verfahren, das
sich in der gesamten Produktion breit macht, gänzlich unterdrückt. Auch Kon-
struktionsformen werden in ihrer äußern Charakteristik häufig verwechselt, eine
sehr alte Sünde, die sich namentlich in den neuen, vergänglichen Ausstellungs¬
bauten verrät. Holzarchitekturen werden behandelt wie Steinbau, Metall¬
formen treten im Holzstil auf, was namentlich an manchem Hausrat erkennbar
ist, und Einflüsse der alten keramischen Kunst zeigen sich in diesem oder in
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