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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Sweckbegrisf und Materialsprache im Aunstgewerbe

wenn die reine gute Form gefunden ist, was eine weitaus schwierigere Kunst
ist als die Verzierungsknnst, dann erst darf es der Schöpfer oder Hersteller
wagen, noch mehr zu tun. Die gute Form, das gute Material, die richtige
Bearbeitung und Anwendung, der Kult der Farbe, das bedeutet einen so
ungeheuern geistigen Aufwand, eine solche Fülle von Forschungs- und Ent¬
deckungsarbeit, eine Unermeßlichkeit von künstlerischen Notwendigkeiten und
Möglichkeiten, daß zunächst gar keine Berechtigung vorliegt, etwas Über¬
flüssiges zu tun. Wenn dieses Überflüssige dennoch getan wird, geschieht es
meist auf Kosten der zwecklich-formalen Erfordernisse.

Aber wir brauchen Schönheit! Schönheit ist nichts Überflüssiges! Schön¬
heit ist nicht Luxus, sie ist eine Notwendigkeit, eine Bedingung des Daseins,
etwas schlechthin Unentbehrliebes! Ohne sie kann das Gute nicht bestehn,
die Liebe und die Freundschaft, die Wissenschaft und der Glaube und all die
außerordentlichen Kräfte, durch die die Welt fest und groß erscheint. Die
Kunst ist die Manifestation der Schönheit. Also umgebe man sein Leben mit
so viel Kunst, wie man nur vermag, und es wird nichts überflüssiges sein,
wie alles, was wegen der Schönheit geschieht. Aber es ist schlimm bestellt
um die Sache der Kunst, wenn der zwecklose Schnörkel das Wesen der Schön¬
heit vorstellen soll. Ein großer Teil unsrer Maschinen, ein gutgebautes Schiff,
ein elegantes Fahrzeug, Werkzeuge und Instrumente, eine Stradivarigeige,
die meisten Musikinstrumente mit Ausnahme des Klaviers, sind unbestritten
schön, obwohl sie keinen Zierat aufweisen. Eine prähistorische Fibel, ein
Biedermeiermöbel, ein Sattelzeug, ein guter Lederkoffer, ein elektrischer Glüh-
körpcr sind ebenfalls schön, was niemand leugnet. Man findet sie schön, und
mit vollem Recht, weil sie sachlich und organisch gedacht und aus gutem
Material gearbeitet sind, weil sie in vollkommner Weise ihren Zweck erfüllen.
Damit ein Gegenstand in vollkommner Weise seinen Zweck erfülle, ist ein ein¬
dringliches Studium über die Art der Bedürfnisse und der Anwendung nötig.
Ein unaufhörliches Prüfen und Neubilden, wofür der menschliche Organismus
das Maß liefert. Die Möglichkeiten der Gestaltung sind auf organischer
Grundlage unerschöpflich. Die Bedürfnisse, die Anwendung, die Maße wechseln
unaufhörlich, die Formen ändern sich, nur das Gesetz beharrt. Vollkommne
Zweckerfüllung ist das oberste Gesetz der Schönheit. Aber der Mensch und
sein Maß geben die eine Hälfte der Erfüllung, die andre Hälfte liefert das
Material und der Eigensinn des Materials.

Für das Material als Ausdruck ist der Grundsatz unumstößlich, daß die
stoffliche Unzulänglichkeit, die Spröde, Härte, Brechbarkeit usw. in sinngemäßer
Ausnützung die Stärke des Kunstwerks bildet. Die Materialeigenschaft liefert
die Charakteristik der kunstgewerblichen Leistung. Es gibt kein sicheres und
zuverlässiges Urteil über den praktischen und dekorativen Wert einer Arbeit,
wenn sie nicht auf der Kenntnis des Materials und seiner Eigenschaften beruht.
Der Verfall des Kunstgewerbes drückt sich immer in der Verkennung und der


Greirzbotcn II 1907 4
Sweckbegrisf und Materialsprache im Aunstgewerbe

wenn die reine gute Form gefunden ist, was eine weitaus schwierigere Kunst
ist als die Verzierungsknnst, dann erst darf es der Schöpfer oder Hersteller
wagen, noch mehr zu tun. Die gute Form, das gute Material, die richtige
Bearbeitung und Anwendung, der Kult der Farbe, das bedeutet einen so
ungeheuern geistigen Aufwand, eine solche Fülle von Forschungs- und Ent¬
deckungsarbeit, eine Unermeßlichkeit von künstlerischen Notwendigkeiten und
Möglichkeiten, daß zunächst gar keine Berechtigung vorliegt, etwas Über¬
flüssiges zu tun. Wenn dieses Überflüssige dennoch getan wird, geschieht es
meist auf Kosten der zwecklich-formalen Erfordernisse.

Aber wir brauchen Schönheit! Schönheit ist nichts Überflüssiges! Schön¬
heit ist nicht Luxus, sie ist eine Notwendigkeit, eine Bedingung des Daseins,
etwas schlechthin Unentbehrliebes! Ohne sie kann das Gute nicht bestehn,
die Liebe und die Freundschaft, die Wissenschaft und der Glaube und all die
außerordentlichen Kräfte, durch die die Welt fest und groß erscheint. Die
Kunst ist die Manifestation der Schönheit. Also umgebe man sein Leben mit
so viel Kunst, wie man nur vermag, und es wird nichts überflüssiges sein,
wie alles, was wegen der Schönheit geschieht. Aber es ist schlimm bestellt
um die Sache der Kunst, wenn der zwecklose Schnörkel das Wesen der Schön¬
heit vorstellen soll. Ein großer Teil unsrer Maschinen, ein gutgebautes Schiff,
ein elegantes Fahrzeug, Werkzeuge und Instrumente, eine Stradivarigeige,
die meisten Musikinstrumente mit Ausnahme des Klaviers, sind unbestritten
schön, obwohl sie keinen Zierat aufweisen. Eine prähistorische Fibel, ein
Biedermeiermöbel, ein Sattelzeug, ein guter Lederkoffer, ein elektrischer Glüh-
körpcr sind ebenfalls schön, was niemand leugnet. Man findet sie schön, und
mit vollem Recht, weil sie sachlich und organisch gedacht und aus gutem
Material gearbeitet sind, weil sie in vollkommner Weise ihren Zweck erfüllen.
Damit ein Gegenstand in vollkommner Weise seinen Zweck erfülle, ist ein ein¬
dringliches Studium über die Art der Bedürfnisse und der Anwendung nötig.
Ein unaufhörliches Prüfen und Neubilden, wofür der menschliche Organismus
das Maß liefert. Die Möglichkeiten der Gestaltung sind auf organischer
Grundlage unerschöpflich. Die Bedürfnisse, die Anwendung, die Maße wechseln
unaufhörlich, die Formen ändern sich, nur das Gesetz beharrt. Vollkommne
Zweckerfüllung ist das oberste Gesetz der Schönheit. Aber der Mensch und
sein Maß geben die eine Hälfte der Erfüllung, die andre Hälfte liefert das
Material und der Eigensinn des Materials.

Für das Material als Ausdruck ist der Grundsatz unumstößlich, daß die
stoffliche Unzulänglichkeit, die Spröde, Härte, Brechbarkeit usw. in sinngemäßer
Ausnützung die Stärke des Kunstwerks bildet. Die Materialeigenschaft liefert
die Charakteristik der kunstgewerblichen Leistung. Es gibt kein sicheres und
zuverlässiges Urteil über den praktischen und dekorativen Wert einer Arbeit,
wenn sie nicht auf der Kenntnis des Materials und seiner Eigenschaften beruht.
Der Verfall des Kunstgewerbes drückt sich immer in der Verkennung und der


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[0033] Sweckbegrisf und Materialsprache im Aunstgewerbe wenn die reine gute Form gefunden ist, was eine weitaus schwierigere Kunst ist als die Verzierungsknnst, dann erst darf es der Schöpfer oder Hersteller wagen, noch mehr zu tun. Die gute Form, das gute Material, die richtige Bearbeitung und Anwendung, der Kult der Farbe, das bedeutet einen so ungeheuern geistigen Aufwand, eine solche Fülle von Forschungs- und Ent¬ deckungsarbeit, eine Unermeßlichkeit von künstlerischen Notwendigkeiten und Möglichkeiten, daß zunächst gar keine Berechtigung vorliegt, etwas Über¬ flüssiges zu tun. Wenn dieses Überflüssige dennoch getan wird, geschieht es meist auf Kosten der zwecklich-formalen Erfordernisse. Aber wir brauchen Schönheit! Schönheit ist nichts Überflüssiges! Schön¬ heit ist nicht Luxus, sie ist eine Notwendigkeit, eine Bedingung des Daseins, etwas schlechthin Unentbehrliebes! Ohne sie kann das Gute nicht bestehn, die Liebe und die Freundschaft, die Wissenschaft und der Glaube und all die außerordentlichen Kräfte, durch die die Welt fest und groß erscheint. Die Kunst ist die Manifestation der Schönheit. Also umgebe man sein Leben mit so viel Kunst, wie man nur vermag, und es wird nichts überflüssiges sein, wie alles, was wegen der Schönheit geschieht. Aber es ist schlimm bestellt um die Sache der Kunst, wenn der zwecklose Schnörkel das Wesen der Schön¬ heit vorstellen soll. Ein großer Teil unsrer Maschinen, ein gutgebautes Schiff, ein elegantes Fahrzeug, Werkzeuge und Instrumente, eine Stradivarigeige, die meisten Musikinstrumente mit Ausnahme des Klaviers, sind unbestritten schön, obwohl sie keinen Zierat aufweisen. Eine prähistorische Fibel, ein Biedermeiermöbel, ein Sattelzeug, ein guter Lederkoffer, ein elektrischer Glüh- körpcr sind ebenfalls schön, was niemand leugnet. Man findet sie schön, und mit vollem Recht, weil sie sachlich und organisch gedacht und aus gutem Material gearbeitet sind, weil sie in vollkommner Weise ihren Zweck erfüllen. Damit ein Gegenstand in vollkommner Weise seinen Zweck erfülle, ist ein ein¬ dringliches Studium über die Art der Bedürfnisse und der Anwendung nötig. Ein unaufhörliches Prüfen und Neubilden, wofür der menschliche Organismus das Maß liefert. Die Möglichkeiten der Gestaltung sind auf organischer Grundlage unerschöpflich. Die Bedürfnisse, die Anwendung, die Maße wechseln unaufhörlich, die Formen ändern sich, nur das Gesetz beharrt. Vollkommne Zweckerfüllung ist das oberste Gesetz der Schönheit. Aber der Mensch und sein Maß geben die eine Hälfte der Erfüllung, die andre Hälfte liefert das Material und der Eigensinn des Materials. Für das Material als Ausdruck ist der Grundsatz unumstößlich, daß die stoffliche Unzulänglichkeit, die Spröde, Härte, Brechbarkeit usw. in sinngemäßer Ausnützung die Stärke des Kunstwerks bildet. Die Materialeigenschaft liefert die Charakteristik der kunstgewerblichen Leistung. Es gibt kein sicheres und zuverlässiges Urteil über den praktischen und dekorativen Wert einer Arbeit, wenn sie nicht auf der Kenntnis des Materials und seiner Eigenschaften beruht. Der Verfall des Kunstgewerbes drückt sich immer in der Verkennung und der Greirzbotcn II 1907 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/33>, abgerufen am 06.02.2025.