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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Ein Rompeildimn der Rechtswissenschaft sür Laien

kerngesund auch in einer großen Anzahl ihrer gesetzlichen Bestimmungen, hat
sie doch im einzelnen mehrfach durch Überspannung der Staatsmacht oder
falschen Gebrauch strafrechtlichen Zwanges verletzend in die Kirchenfreiheit
soir würden lieber sagen in die Gewissensfreiheit) eingegriffen. So etwa in
den Bestimmungen über die Absetzung von Kirchenbeamten und die Bestrafung
des Messelesens. ^Das allerschlimmste, was diese sich "liberal" gebärdende
Gesetzgebung am empfindlichsten kompromitierte, war, daß man widerstrebenden
Gemeinden Pfarrer, die sie nicht mochten, mit Brachialgewalt aufnötigte und
solche "Staatspfarrer" die Pfründeeinküufte jahrelang beziehen ließ, auch wen"
sie nicht eine einzige Amtshandlung zu verrichten hatten.) Das Urteil über
das verwerfliche Einzelne hat aber unvermeidlich das Urteil über das Ganze
bestimmt. Deshalb der kirchenpolitische Konflikt und die Stärkung des
politischen Katholizismus im Reiche. Die Lehre, die der moderne Staat aus
diesen Erfahrungen zu ziehen hat, liegt auf der Hand: jeder Rückfall in das
Staatskirchentum schwächt die durch das System der Kirchenhoheit gewähr¬
leistete feste und gerechte Position des Staates." An dieser Kirchenhoheit
hält der Verfasser fest, nicht bloß päpstlichen Ansprüchen gegenüber, sondern
auch im Widerspruch zu der auf die Trennung von Kirche und Staat ge¬
richteten Strömung. Radikal durchgeführt sei die Trennung nirgends, auch
in den Bereinigten Staaten nicht. In Belgien habe sie einen Zustand ge¬
schaffen, den man "die freie Kirche im unfreien Staate" nennen dürfe. Für
Frankreich, das Land der politischen und kirchenpolitischen Überraschungen,
eine Prognose zu stellen, würde gewagt sein. "Trügen nicht alle Erfahrungen
seiner Geschichte, so treten zwei Möglichkeiten in die Perspektive. Sie werden
wahrscheinlich einander ablösen. Hat die katholische Kirche in Frankreich ihre
Aktionskraft noch nicht eingebüßt, so wird ihr die Trennung vom Staate die
Freiheit geben, unter schrankenloser Ausnützung der demokratischen Verfassungs¬
form sowie unter dem Schutze und durch die Mittel der freien Vereinstätig¬
keit ihren Einfluß auf die Staatsleitung zu verstärken. Auch die Straf-
bestimmungen im fünften Teile des Trennungsgesetzes gegen Geistliche, die in
der Kirche politische Reden halten, werden sie daran nicht hindern. Die
damit eingeleitete Kirchenherrschaft jm einer solchen wird die Trennung
schwerlich führen; dazu sind die heutigen Franzosen doch wohl zu weltlich
gesinnt) wird aber der Staat der gallikanischen Traditionen auf die Dauer
nicht ertragen. Die Reaktion wird daher unvermeidlich, wahrscheinlich ebenso
rasch und unvermittelt erfolgen, wie dort alle kirchenpolitischen Erschtttteruugen
seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Sie wird endigen in einem ver¬
stärkten Staatskirchentum, und ein neuer Kreislauf kirchenpolitischer Systeme
wird beginnen." Gegen die Trennung im allgemeinen macht der Verfasser
die bekannten grundsätzlichen Bedenken geltend, namentlich, "daß der Staat
die Einbuße an Kirchenhoheit, die damit verbunden ist, nicht ertragen kann,
ohne sein Wesen zu verleugnen und seine Selbständigkeit preiszugeben"; sodann,


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kerngesund auch in einer großen Anzahl ihrer gesetzlichen Bestimmungen, hat
sie doch im einzelnen mehrfach durch Überspannung der Staatsmacht oder
falschen Gebrauch strafrechtlichen Zwanges verletzend in die Kirchenfreiheit
soir würden lieber sagen in die Gewissensfreiheit) eingegriffen. So etwa in
den Bestimmungen über die Absetzung von Kirchenbeamten und die Bestrafung
des Messelesens. ^Das allerschlimmste, was diese sich »liberal« gebärdende
Gesetzgebung am empfindlichsten kompromitierte, war, daß man widerstrebenden
Gemeinden Pfarrer, die sie nicht mochten, mit Brachialgewalt aufnötigte und
solche »Staatspfarrer« die Pfründeeinküufte jahrelang beziehen ließ, auch wen»
sie nicht eine einzige Amtshandlung zu verrichten hatten.) Das Urteil über
das verwerfliche Einzelne hat aber unvermeidlich das Urteil über das Ganze
bestimmt. Deshalb der kirchenpolitische Konflikt und die Stärkung des
politischen Katholizismus im Reiche. Die Lehre, die der moderne Staat aus
diesen Erfahrungen zu ziehen hat, liegt auf der Hand: jeder Rückfall in das
Staatskirchentum schwächt die durch das System der Kirchenhoheit gewähr¬
leistete feste und gerechte Position des Staates." An dieser Kirchenhoheit
hält der Verfasser fest, nicht bloß päpstlichen Ansprüchen gegenüber, sondern
auch im Widerspruch zu der auf die Trennung von Kirche und Staat ge¬
richteten Strömung. Radikal durchgeführt sei die Trennung nirgends, auch
in den Bereinigten Staaten nicht. In Belgien habe sie einen Zustand ge¬
schaffen, den man „die freie Kirche im unfreien Staate" nennen dürfe. Für
Frankreich, das Land der politischen und kirchenpolitischen Überraschungen,
eine Prognose zu stellen, würde gewagt sein. „Trügen nicht alle Erfahrungen
seiner Geschichte, so treten zwei Möglichkeiten in die Perspektive. Sie werden
wahrscheinlich einander ablösen. Hat die katholische Kirche in Frankreich ihre
Aktionskraft noch nicht eingebüßt, so wird ihr die Trennung vom Staate die
Freiheit geben, unter schrankenloser Ausnützung der demokratischen Verfassungs¬
form sowie unter dem Schutze und durch die Mittel der freien Vereinstätig¬
keit ihren Einfluß auf die Staatsleitung zu verstärken. Auch die Straf-
bestimmungen im fünften Teile des Trennungsgesetzes gegen Geistliche, die in
der Kirche politische Reden halten, werden sie daran nicht hindern. Die
damit eingeleitete Kirchenherrschaft jm einer solchen wird die Trennung
schwerlich führen; dazu sind die heutigen Franzosen doch wohl zu weltlich
gesinnt) wird aber der Staat der gallikanischen Traditionen auf die Dauer
nicht ertragen. Die Reaktion wird daher unvermeidlich, wahrscheinlich ebenso
rasch und unvermittelt erfolgen, wie dort alle kirchenpolitischen Erschtttteruugen
seit Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Sie wird endigen in einem ver¬
stärkten Staatskirchentum, und ein neuer Kreislauf kirchenpolitischer Systeme
wird beginnen." Gegen die Trennung im allgemeinen macht der Verfasser
die bekannten grundsätzlichen Bedenken geltend, namentlich, „daß der Staat
die Einbuße an Kirchenhoheit, die damit verbunden ist, nicht ertragen kann,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/306>, abgerufen am 06.02.2025.