Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Lidern und Kinder in die Natur. Die Kruste füllt ab, die der Tag ansetzte, und die Überfracht An langen Winterabenden, in der Dämmerung oder bei der Lampe, muß Lidern und Kinder in die Natur. Die Kruste füllt ab, die der Tag ansetzte, und die Überfracht An langen Winterabenden, in der Dämmerung oder bei der Lampe, muß <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302018"/> <fw type="header" place="top"> Lidern und Kinder</fw><lb/> <p xml:id="ID_69" prev="#ID_68"> in die Natur. Die Kruste füllt ab, die der Tag ansetzte, und die Überfracht<lb/> des Gedächtnisstoffs bleibt zu Hause. Die Eltern müssen aber hier die Kame¬<lb/> raden ihrer Kinder werden. Der kleine Geist hat tausend Fragen, auf die er<lb/> mehr erwartet als das souveräne „Das verstehst du noch nicht, mein Kind."<lb/> Es ist wunderbar, in welchem ursprünglichen, fast märchenhaft beseelten Ver¬<lb/> hältnis die naive Kindheit zur Natur steht, wie noch ein tiefer Instinkt hier<lb/> schlummert für alles, was in diesem Königreich atmet, für Baum und Blume,<lb/> für Vogel und Insekt. Und das darf nicht verkümmern. Warum soll der<lb/> Künstler allein in der Natur die Quelle seines Schaffens sehen? Sie ist es<lb/> für jeden Menschen. Sie teilt Gaben aus, die zum Segen jedes jungen<lb/> Gemüts werden und ihre jüngende Kraft behalten das ganze Leben lang. Seite<lb/> an Seite im sonnigen grünen Walde enthüllt das Kind seine kleinen Kümmer¬<lb/> nisse, seine kleinen Sünden, seine ganze Seele. Hier kann Elternwort Sorgen¬<lb/> falten glätten und Wunden heilen. Hier saugt das Kind Vertrauen ein. Und<lb/> dann wird der Mund mitteilsam. Das Kind ist ein Poet, wenn wir nur die<lb/> Prosa der Alltäglichkeit finden. In jedem jungen Geiste spukt eine Abenteuer¬<lb/> lust, lebt eine Robinsonade, schafft eine schlösserbanende und schlachtensiegende<lb/> Phantasie. Pflegt diese Kraft im Kinde, sie ist schöpferisch und deshalb<lb/> groß und schön!</p><lb/> <p xml:id="ID_70" next="#ID_71"> An langen Winterabenden, in der Dämmerung oder bei der Lampe, muß<lb/> sich eine Stunde finden, die ganz den Kindern gehört. Nicht eine Zeit, in der<lb/> Vater oder Mutter beim Exerzitium oder Aufsatz helfen — wobei bekanntlich<lb/> immer die Geduld reißt und harte Worte fallen —, sondern eine Zeit, die mit<lb/> Bewußtsein geschenkt wird. Mit den Kindern Kind zu sein ist freilich eine<lb/> Kunst, die vielen Vätern entschwunden ist, und das ist ein Unsegen für sie<lb/> selbst. Denn keine Freude kommt der Freude gleich, die durchs Zimmer geht,<lb/> wenn Vater und Mutter Geschichten erzählen, wenn sie mit den Kindern bauen,<lb/> Marken sammeln, Bilder besehen, musizieren, malen. Man denke an Goethes<lb/> Vater, der nicht zu alt war, noch mit seinen Kindern zusammen um die Wette<lb/> zu zeichnen, oder an die lustig fabulierende Frau Rat oder an das Bild voll<lb/> stiller Heiterkeit, auf dem der liebenswürdige Chodowiecki das köstliche Glück<lb/> seines Familienlebens in so herzgewinnender Schlichtheit malte. Um einen runden<lb/> Tisch sitzen fünf Kinder. Das älteste Mädchen beugt sich über einen Band mit<lb/> Kupferstichen. Ein Knabe zeichnet, und sein Brüderchen sieht ihm dabei zu.<lb/> Ein andres Mädchen spielt mit dem Jüngsten, und die Mutter lohnt es mit<lb/> zärtlichem, liebevollem Blick. Im Hintergrunde sitzt der Vater und schaut, mit<lb/> dem Pinsel in der Hand, über die Brille hinweg zu den Seinen hinüber. In<lb/> solcher Stunde lernt man seine Kinder schätzen und versteh». Hier meldet sich<lb/> das Talent. Und wer es weiß, womit sich seine Kinder beschäftigen, der weiß<lb/> auch, was aus ihnen werden kann. Der Mißklang des Lebens tönt daher, daß<lb/> die meisten Menschen eine Rolle spielen müssen, die weder ihren Wünschen noch<lb/> ihren Fähigkeiten entspricht. Und wenn auch nicht jedes Talent und jede</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0030]
Lidern und Kinder
in die Natur. Die Kruste füllt ab, die der Tag ansetzte, und die Überfracht
des Gedächtnisstoffs bleibt zu Hause. Die Eltern müssen aber hier die Kame¬
raden ihrer Kinder werden. Der kleine Geist hat tausend Fragen, auf die er
mehr erwartet als das souveräne „Das verstehst du noch nicht, mein Kind."
Es ist wunderbar, in welchem ursprünglichen, fast märchenhaft beseelten Ver¬
hältnis die naive Kindheit zur Natur steht, wie noch ein tiefer Instinkt hier
schlummert für alles, was in diesem Königreich atmet, für Baum und Blume,
für Vogel und Insekt. Und das darf nicht verkümmern. Warum soll der
Künstler allein in der Natur die Quelle seines Schaffens sehen? Sie ist es
für jeden Menschen. Sie teilt Gaben aus, die zum Segen jedes jungen
Gemüts werden und ihre jüngende Kraft behalten das ganze Leben lang. Seite
an Seite im sonnigen grünen Walde enthüllt das Kind seine kleinen Kümmer¬
nisse, seine kleinen Sünden, seine ganze Seele. Hier kann Elternwort Sorgen¬
falten glätten und Wunden heilen. Hier saugt das Kind Vertrauen ein. Und
dann wird der Mund mitteilsam. Das Kind ist ein Poet, wenn wir nur die
Prosa der Alltäglichkeit finden. In jedem jungen Geiste spukt eine Abenteuer¬
lust, lebt eine Robinsonade, schafft eine schlösserbanende und schlachtensiegende
Phantasie. Pflegt diese Kraft im Kinde, sie ist schöpferisch und deshalb
groß und schön!
An langen Winterabenden, in der Dämmerung oder bei der Lampe, muß
sich eine Stunde finden, die ganz den Kindern gehört. Nicht eine Zeit, in der
Vater oder Mutter beim Exerzitium oder Aufsatz helfen — wobei bekanntlich
immer die Geduld reißt und harte Worte fallen —, sondern eine Zeit, die mit
Bewußtsein geschenkt wird. Mit den Kindern Kind zu sein ist freilich eine
Kunst, die vielen Vätern entschwunden ist, und das ist ein Unsegen für sie
selbst. Denn keine Freude kommt der Freude gleich, die durchs Zimmer geht,
wenn Vater und Mutter Geschichten erzählen, wenn sie mit den Kindern bauen,
Marken sammeln, Bilder besehen, musizieren, malen. Man denke an Goethes
Vater, der nicht zu alt war, noch mit seinen Kindern zusammen um die Wette
zu zeichnen, oder an die lustig fabulierende Frau Rat oder an das Bild voll
stiller Heiterkeit, auf dem der liebenswürdige Chodowiecki das köstliche Glück
seines Familienlebens in so herzgewinnender Schlichtheit malte. Um einen runden
Tisch sitzen fünf Kinder. Das älteste Mädchen beugt sich über einen Band mit
Kupferstichen. Ein Knabe zeichnet, und sein Brüderchen sieht ihm dabei zu.
Ein andres Mädchen spielt mit dem Jüngsten, und die Mutter lohnt es mit
zärtlichem, liebevollem Blick. Im Hintergrunde sitzt der Vater und schaut, mit
dem Pinsel in der Hand, über die Brille hinweg zu den Seinen hinüber. In
solcher Stunde lernt man seine Kinder schätzen und versteh». Hier meldet sich
das Talent. Und wer es weiß, womit sich seine Kinder beschäftigen, der weiß
auch, was aus ihnen werden kann. Der Mißklang des Lebens tönt daher, daß
die meisten Menschen eine Rolle spielen müssen, die weder ihren Wünschen noch
ihren Fähigkeiten entspricht. Und wenn auch nicht jedes Talent und jede
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