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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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in Berlin, in denen man sich eine befriedigende Geselligkeit nicht anders
als in der Form üppiger Gelage verbunden mit mehr oder weniger schlüpfriger
Unterhaltung bis zum frühen Morgen denken zu können scheint. Aber das
sind doch nur Ausnahmen. Im allgemeinen ist sogar da, wo der raffinierteste
Luxus kultiviert wird, weder Maßlosigkeit in der Ausdehnung der Ver¬
gnügungen noch Ausgelassenheit und Anstößigkeit in der Unterhaltung zu
finden. Die noch vor dreißig Jahren übliche Dinerzeit um 5 Uhr Nachmittags
wird jetzt meist auf 7^ Uhr Abends gelegt, nicht etwa, um so eine nächtliche
Schwelgerei zu ermöglichen, sondern um den Gästen die Arbeitszeit des Tages
nicht zu verkümmern. Eine sehr verständige Neuerung! Und um 11, höchstens
um 12 Uhr sind diese Festlichkeiten zu Ende. Sollte es in der Provinz vstöris
pku-liens irgendwo "strenger" zugehen?

Und nnn gar erst die untern Klassen! Niemand wird so töricht sein,
den diese beherrschenden Geist etwa nach dem -- übrigens keineswegs extra¬
vaganten -- Leben in den Wirtshäusern der Arbeiterviertel beurteilen zu
wollen. Im großen und ganzen ist der Berliner Arbeiter hervorragend fleißig
und häuslich. In der Woche ist wenig von ihm zu sehen. Wer am Tage
die laugen geraden Straßenzüge des Nordens und des Ostens durchwandert,
stößt vorwiegend auf Kinder, die ihm durch ihre gute Kleidung und meist
auch durch ihre gesunde Gesichtsfarbe auffallen. Spuren einer allgemeinen
Liederlichkeit, die das Vorurteil hier vielleicht erwartet hat, sind nicht zu ent¬
decken. In keiner andern Weltstadt reichen die Arbeiterquartiere im Punkte
der Sauberkeit an die von Berlin heran. Will man aber das sogenannte
niedere Volk unsrer Reichshauptstadt beim Vergnügen beobachten, dann suche
man am Sonntag Nachmittag im Sommer in der weitern Umgebung die
Stätten auf, wo noch heute angeschrieben steht: "Hier können Familien Kaffee
kochen." Eine harmlosere Fröhlichkeit ist nicht zu denken, als sie sich hier
dem staunenden Wandrer in Hunderten immer wechselnder Bilder entrollt.
Wie oft suchst du in den Bergen oder auf dem platten Lande vergebens nach
einem echten Familienidyll! An den Ufern der Obersprce und der Dahme,
am Tegeler See und in der Jungfernheide, im Grünewald und an der Havel
findest du sie in Hülle und Fülle. Das ist keine sentimentale Schönfärberei.
Gewiß, auch hier fehlen die Ausnahmen nicht. Trotzdem darf man behaupten:
Alles in allein gibt es kein gesitteteres Volk als das von Berlin.




Den dunkelsten Schatten werfen für den Außenstehenden auf die Moralität
der Reichshauptstadt die Schilderungen gewisser Begleiterscheinungen des
Berliner Nachtlebens. Man meint, die Art, wie sich das Laster auf offner
Straße breit mache, könne nicht ohne nachteiligen Einfluß auf das sittliche
Empfinden der ganzen Bevölkerung bleiben. Ohne Zweifel wird damit ein


Grenzboten II 1907 ^

in Berlin, in denen man sich eine befriedigende Geselligkeit nicht anders
als in der Form üppiger Gelage verbunden mit mehr oder weniger schlüpfriger
Unterhaltung bis zum frühen Morgen denken zu können scheint. Aber das
sind doch nur Ausnahmen. Im allgemeinen ist sogar da, wo der raffinierteste
Luxus kultiviert wird, weder Maßlosigkeit in der Ausdehnung der Ver¬
gnügungen noch Ausgelassenheit und Anstößigkeit in der Unterhaltung zu
finden. Die noch vor dreißig Jahren übliche Dinerzeit um 5 Uhr Nachmittags
wird jetzt meist auf 7^ Uhr Abends gelegt, nicht etwa, um so eine nächtliche
Schwelgerei zu ermöglichen, sondern um den Gästen die Arbeitszeit des Tages
nicht zu verkümmern. Eine sehr verständige Neuerung! Und um 11, höchstens
um 12 Uhr sind diese Festlichkeiten zu Ende. Sollte es in der Provinz vstöris
pku-liens irgendwo „strenger" zugehen?

Und nnn gar erst die untern Klassen! Niemand wird so töricht sein,
den diese beherrschenden Geist etwa nach dem — übrigens keineswegs extra¬
vaganten — Leben in den Wirtshäusern der Arbeiterviertel beurteilen zu
wollen. Im großen und ganzen ist der Berliner Arbeiter hervorragend fleißig
und häuslich. In der Woche ist wenig von ihm zu sehen. Wer am Tage
die laugen geraden Straßenzüge des Nordens und des Ostens durchwandert,
stößt vorwiegend auf Kinder, die ihm durch ihre gute Kleidung und meist
auch durch ihre gesunde Gesichtsfarbe auffallen. Spuren einer allgemeinen
Liederlichkeit, die das Vorurteil hier vielleicht erwartet hat, sind nicht zu ent¬
decken. In keiner andern Weltstadt reichen die Arbeiterquartiere im Punkte
der Sauberkeit an die von Berlin heran. Will man aber das sogenannte
niedere Volk unsrer Reichshauptstadt beim Vergnügen beobachten, dann suche
man am Sonntag Nachmittag im Sommer in der weitern Umgebung die
Stätten auf, wo noch heute angeschrieben steht: „Hier können Familien Kaffee
kochen." Eine harmlosere Fröhlichkeit ist nicht zu denken, als sie sich hier
dem staunenden Wandrer in Hunderten immer wechselnder Bilder entrollt.
Wie oft suchst du in den Bergen oder auf dem platten Lande vergebens nach
einem echten Familienidyll! An den Ufern der Obersprce und der Dahme,
am Tegeler See und in der Jungfernheide, im Grünewald und an der Havel
findest du sie in Hülle und Fülle. Das ist keine sentimentale Schönfärberei.
Gewiß, auch hier fehlen die Ausnahmen nicht. Trotzdem darf man behaupten:
Alles in allein gibt es kein gesitteteres Volk als das von Berlin.




Den dunkelsten Schatten werfen für den Außenstehenden auf die Moralität
der Reichshauptstadt die Schilderungen gewisser Begleiterscheinungen des
Berliner Nachtlebens. Man meint, die Art, wie sich das Laster auf offner
Straße breit mache, könne nicht ohne nachteiligen Einfluß auf das sittliche
Empfinden der ganzen Bevölkerung bleiben. Ohne Zweifel wird damit ein


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[0293] in Berlin, in denen man sich eine befriedigende Geselligkeit nicht anders als in der Form üppiger Gelage verbunden mit mehr oder weniger schlüpfriger Unterhaltung bis zum frühen Morgen denken zu können scheint. Aber das sind doch nur Ausnahmen. Im allgemeinen ist sogar da, wo der raffinierteste Luxus kultiviert wird, weder Maßlosigkeit in der Ausdehnung der Ver¬ gnügungen noch Ausgelassenheit und Anstößigkeit in der Unterhaltung zu finden. Die noch vor dreißig Jahren übliche Dinerzeit um 5 Uhr Nachmittags wird jetzt meist auf 7^ Uhr Abends gelegt, nicht etwa, um so eine nächtliche Schwelgerei zu ermöglichen, sondern um den Gästen die Arbeitszeit des Tages nicht zu verkümmern. Eine sehr verständige Neuerung! Und um 11, höchstens um 12 Uhr sind diese Festlichkeiten zu Ende. Sollte es in der Provinz vstöris pku-liens irgendwo „strenger" zugehen? Und nnn gar erst die untern Klassen! Niemand wird so töricht sein, den diese beherrschenden Geist etwa nach dem — übrigens keineswegs extra¬ vaganten — Leben in den Wirtshäusern der Arbeiterviertel beurteilen zu wollen. Im großen und ganzen ist der Berliner Arbeiter hervorragend fleißig und häuslich. In der Woche ist wenig von ihm zu sehen. Wer am Tage die laugen geraden Straßenzüge des Nordens und des Ostens durchwandert, stößt vorwiegend auf Kinder, die ihm durch ihre gute Kleidung und meist auch durch ihre gesunde Gesichtsfarbe auffallen. Spuren einer allgemeinen Liederlichkeit, die das Vorurteil hier vielleicht erwartet hat, sind nicht zu ent¬ decken. In keiner andern Weltstadt reichen die Arbeiterquartiere im Punkte der Sauberkeit an die von Berlin heran. Will man aber das sogenannte niedere Volk unsrer Reichshauptstadt beim Vergnügen beobachten, dann suche man am Sonntag Nachmittag im Sommer in der weitern Umgebung die Stätten auf, wo noch heute angeschrieben steht: „Hier können Familien Kaffee kochen." Eine harmlosere Fröhlichkeit ist nicht zu denken, als sie sich hier dem staunenden Wandrer in Hunderten immer wechselnder Bilder entrollt. Wie oft suchst du in den Bergen oder auf dem platten Lande vergebens nach einem echten Familienidyll! An den Ufern der Obersprce und der Dahme, am Tegeler See und in der Jungfernheide, im Grünewald und an der Havel findest du sie in Hülle und Fülle. Das ist keine sentimentale Schönfärberei. Gewiß, auch hier fehlen die Ausnahmen nicht. Trotzdem darf man behaupten: Alles in allein gibt es kein gesitteteres Volk als das von Berlin. Den dunkelsten Schatten werfen für den Außenstehenden auf die Moralität der Reichshauptstadt die Schilderungen gewisser Begleiterscheinungen des Berliner Nachtlebens. Man meint, die Art, wie sich das Laster auf offner Straße breit mache, könne nicht ohne nachteiligen Einfluß auf das sittliche Empfinden der ganzen Bevölkerung bleiben. Ohne Zweifel wird damit ein Grenzboten II 1907 ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/293>, abgerufen am 06.02.2025.