Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Lidern und Rinder ihren Körper im Turnen gepflegt haben, sogar Stenographie und Handfertig¬ Ein solches Verlangen ist im Grunde unverständig und unverständlich. Es Es ist unausbleiblich, daß man der höhern Schule, wie sie jetzt ist, Von einer Reform des Schulwesens soll hier nicht die Rede sein. Eine Lidern und Rinder ihren Körper im Turnen gepflegt haben, sogar Stenographie und Handfertig¬ Ein solches Verlangen ist im Grunde unverständig und unverständlich. Es Es ist unausbleiblich, daß man der höhern Schule, wie sie jetzt ist, Von einer Reform des Schulwesens soll hier nicht die Rede sein. Eine <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0028" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302016"/> <fw type="header" place="top"> Lidern und Rinder</fw><lb/> <p xml:id="ID_61" prev="#ID_60"> ihren Körper im Turnen gepflegt haben, sogar Stenographie und Handfertig¬<lb/> keit und — wenn es Mädchen sind — auch hauswirtschaftliche Kenntnisse<lb/> und Schneidern und eine rationelle Führung des Haushalts erlernt haben.<lb/> Die Schule soll, wie ein entrüsteter Schriftsteller sagt, „Kulturinüdchen für<lb/> alles" sein!</p><lb/> <p xml:id="ID_62"> Ein solches Verlangen ist im Grunde unverständig und unverständlich. Es<lb/> mußte, als beide Mächte, Schule und Haus, den Kontrakt trotzalledem schlössen,<lb/> dahin führen, daß nun zwar das ganze Programm abgespielt wird, aber keine<lb/> Nummer rechte und reine Befriedigung gewährt. Und das veranlaßte leider<lb/> eine Art Falschmünzerei. Die Eltern klagen zwar immer über das alte Latein<lb/> oder die dumme Mathematik, aber der brave Leruschüler gilt ihnen doch mehr<lb/> als der gute Junge. Das Leben später wertet wieder anders und fragt gar nicht<lb/> danach, ob ein Mensch in der Schule vierter oder vierzehnter saß, ob er eine<lb/> Prämie erhielt oder nicht. Und wer die Schule verläßt, urteilt in der nächsten<lb/> Minute schon ebenso. Aber eine schwere Lüge pflanzt er trotzdem fort und<lb/> trägt sie weit ins Leben hinein — die gräßliche Lüge von der sogenannten<lb/> höhern Bildung.</p><lb/> <p xml:id="ID_63"> Es ist unausbleiblich, daß man der höhern Schule, wie sie jetzt ist,<lb/> eine Anzahl von Seelenmorden aufbürdet, und die Schülertragik ist als Romcm-<lb/> snjet modern geworden. Aber es ist zunächst ebenso billig als ungerecht,<lb/> wenn man die Träger einer Institution für die Institution selbst und einen<lb/> ganzen Stand für die Kurzsichtigkeit und die Engherzigkeit einzelner verant¬<lb/> wortlich machen will. Warum springen in solchen Erzählungen denn nicht die<lb/> Eltern ein und retten ihre Kinder, wenn sie unters Rad kommen? Alle diese<lb/> pathologischen Enträtselungen nehmen es an Wahrheit doch nicht mit der<lb/> Meisternovelle Konrad Ferdinand Meyers auf, den „Leiden eines Knaben".<lb/> Dem armen jungen Sohne des Marschalls Boufflers wird die Jesuitenschule<lb/> mit ihrem mißbrauchten System zu einer Folterung. Aber den schwersten Teil<lb/> der Schuld wälzt doch das Urteil dem Vater zu, der durch den Nimbus der<lb/> Ehre hindurch nicht sehen kann und nicht sehen will, wie sich sein stilles Kind<lb/> unbarmherzig zu Tode quält.</p><lb/> <p xml:id="ID_64" next="#ID_65"> Von einer Reform des Schulwesens soll hier nicht die Rede sein. Eine<lb/> wirkliche Reform wäre Revolution. Sie müßte von den Eltern nicht weniger<lb/> als von den Lehrern ausgehn. Aber sie kann erst gelingen, wenn die An¬<lb/> stalten mit unendlich viel größern Mitteln ausgestattet sind, um eine sorgsame<lb/> Einzelbehandlung der Kinder zu ermöglichen, und wenn durch Wahlfreiheit in<lb/> den Unterrichtsgegenständen und durch Abschaffung aller angsteinflößenden Zucht¬<lb/> mittel und aller äußerlichen Reizmittel, wie Zensuren, Rangordnung und<lb/> Prämien und vor allem des Schreckgespenstes der Examina, das Lernen von<lb/> einer erniedrigenden Qual zum köstlichsten Genuß erhoben wird, vom Wort¬<lb/> wissen und Auswendiglernen zum Können, vom Tode zum Leben. Dann wird<lb/> auch die höhere Bildung keine papierne Etikette mehr sein. Tausende von</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0028]
Lidern und Rinder
ihren Körper im Turnen gepflegt haben, sogar Stenographie und Handfertig¬
keit und — wenn es Mädchen sind — auch hauswirtschaftliche Kenntnisse
und Schneidern und eine rationelle Führung des Haushalts erlernt haben.
Die Schule soll, wie ein entrüsteter Schriftsteller sagt, „Kulturinüdchen für
alles" sein!
Ein solches Verlangen ist im Grunde unverständig und unverständlich. Es
mußte, als beide Mächte, Schule und Haus, den Kontrakt trotzalledem schlössen,
dahin führen, daß nun zwar das ganze Programm abgespielt wird, aber keine
Nummer rechte und reine Befriedigung gewährt. Und das veranlaßte leider
eine Art Falschmünzerei. Die Eltern klagen zwar immer über das alte Latein
oder die dumme Mathematik, aber der brave Leruschüler gilt ihnen doch mehr
als der gute Junge. Das Leben später wertet wieder anders und fragt gar nicht
danach, ob ein Mensch in der Schule vierter oder vierzehnter saß, ob er eine
Prämie erhielt oder nicht. Und wer die Schule verläßt, urteilt in der nächsten
Minute schon ebenso. Aber eine schwere Lüge pflanzt er trotzdem fort und
trägt sie weit ins Leben hinein — die gräßliche Lüge von der sogenannten
höhern Bildung.
Es ist unausbleiblich, daß man der höhern Schule, wie sie jetzt ist,
eine Anzahl von Seelenmorden aufbürdet, und die Schülertragik ist als Romcm-
snjet modern geworden. Aber es ist zunächst ebenso billig als ungerecht,
wenn man die Träger einer Institution für die Institution selbst und einen
ganzen Stand für die Kurzsichtigkeit und die Engherzigkeit einzelner verant¬
wortlich machen will. Warum springen in solchen Erzählungen denn nicht die
Eltern ein und retten ihre Kinder, wenn sie unters Rad kommen? Alle diese
pathologischen Enträtselungen nehmen es an Wahrheit doch nicht mit der
Meisternovelle Konrad Ferdinand Meyers auf, den „Leiden eines Knaben".
Dem armen jungen Sohne des Marschalls Boufflers wird die Jesuitenschule
mit ihrem mißbrauchten System zu einer Folterung. Aber den schwersten Teil
der Schuld wälzt doch das Urteil dem Vater zu, der durch den Nimbus der
Ehre hindurch nicht sehen kann und nicht sehen will, wie sich sein stilles Kind
unbarmherzig zu Tode quält.
Von einer Reform des Schulwesens soll hier nicht die Rede sein. Eine
wirkliche Reform wäre Revolution. Sie müßte von den Eltern nicht weniger
als von den Lehrern ausgehn. Aber sie kann erst gelingen, wenn die An¬
stalten mit unendlich viel größern Mitteln ausgestattet sind, um eine sorgsame
Einzelbehandlung der Kinder zu ermöglichen, und wenn durch Wahlfreiheit in
den Unterrichtsgegenständen und durch Abschaffung aller angsteinflößenden Zucht¬
mittel und aller äußerlichen Reizmittel, wie Zensuren, Rangordnung und
Prämien und vor allem des Schreckgespenstes der Examina, das Lernen von
einer erniedrigenden Qual zum köstlichsten Genuß erhoben wird, vom Wort¬
wissen und Auswendiglernen zum Können, vom Tode zum Leben. Dann wird
auch die höhere Bildung keine papierne Etikette mehr sein. Tausende von
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