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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Lidern und Kinder

Gustaf af Geijerstam sagt die Frau zu ihrem Manne: "Weißt du, warum unser
John gestorben ist? Ich weiß ja, daß er Lungenentzündung hatte. Der Doktor
hat es mir gesagt, und er muß es verstehn. Aber ich kann nicht glauben, daß
es so war. Er starb, weil ich nie dazu kam, eine Mutter für ihn zu sein.
Ich habe ihn nicht selbst genährt; ich hatte ja nie Zeit. Ich habe ihn nie ge¬
pflegt, als er klein war. Nicht zu mir kam er mit seinen Freuden und Leiden --
zu Fremden. Nicht auf meinem Schoße lernte er zum erstenmal in einem Buche
lesen. Wieder bei Fremden. Nicht ich war es, die mit ihm spielte; nicht ich, die ihn
erzog; nicht ich, die ihm irgendetwas gab. . . . Ich habe ihn weinen gesehen, wenn
ich fortging -- und doch bin ich gegangen. Ich wollte anfangen, alles das
für ihn zu sein, was Mütter für ihre Kinder sein müssen -- aber ich kam nicht
dazu. Als er starb, war das die Strafe, die mich endlich erreichte, die
Strafe!"

Daß Eltern ihre Kinder gut kleiden und nähren, ist ja selbstverständlich.
Aber ich möchte, daß sie sich einmal ganz ernstlich die Frage vorlegten: Habe
ich Gelegenheit, meine Kinder recht zu beobachten? Wieviel Minuten des Tages
beschäftige ich mich freiwillig mit ihnen? Erziehe ich sie wirklich? Sehr viele,
die ehrlich sind, werden sagen: "Ich glaubte, das hätte ich alles nicht nötig;
denn dazu ist ja die Schule da." So wird die Schule der verborgne Grund,
der die Einheit des Familienlebens auflöst. Das Elternhaus hat die Seelen
der Kinder an die Schule verkauft -- aus einer sanften Bequemlichkeit oder
aus einer verzagten Unfähigkeit. Zwischen dem Vaterhause und der Schule ist
ein eiserner Vorhang heruntergelassen. Nach Jahren empfängt die Familie ihre
Kleinen als erwachsne Menschen zurück, voll belastet mit einer Gedächtnis- und
Verstandesbildung. Jede Enttäuschung, die nun das Leben bringt, wird ge¬
dankenlos und bedenkenlos der Schulpädagogik zur Last gelegt.

Ein Kofferträger kann mir mein Gepäck abnehmen; aber meine Sorgen
kann ich ihm nicht aufbürden. Auch die Schule kann das nicht leisten, was
man von ihr verlangt. Was soll die Schule alles leisten! Sie soll den In¬
tellekt der Kinder fördern, eine große Summe nützlicher und unnützer Kennt¬
nisse vermitteln, die Schüler im Himmel und auf der Erde zurechtweisen, tote
und lebende Sprachen lehren, dem Theologen und dem Philologen, dem Rechts¬
gelehrten und dem Arzt, dem Naturwissenschaftler und dem Elektrotechniker,
dem Kaufmann und dem Soldaten seinen Weg ebnen. Der Lehrer selbst soll
sich in jeder Minute in Zucht und die ganze Klasse im Zaume haben, soll im
Unterricht streng und milde, gerecht und liebenswürdig, interessant und begeisternd
und sachlich sein und mit praktischem Erfolge Begabte und Unbegabte gleich¬
müßig vorwärts bringen. Er soll nicht nur kluge sondern auch sittliche Menschen
bilden, die empfänglich sind für alles Schöne und Gute, Menschen, die in der
Geschichte aller Völker und Länder zu Hause siud und doch von Vaterlands¬
stolz glühen, die nie den berühmten deutschen Idealismus verlieren, aber doch
auch praktisch das Leben meistern, die künstlerisch zeichnen und singen können,


Lidern und Kinder

Gustaf af Geijerstam sagt die Frau zu ihrem Manne: „Weißt du, warum unser
John gestorben ist? Ich weiß ja, daß er Lungenentzündung hatte. Der Doktor
hat es mir gesagt, und er muß es verstehn. Aber ich kann nicht glauben, daß
es so war. Er starb, weil ich nie dazu kam, eine Mutter für ihn zu sein.
Ich habe ihn nicht selbst genährt; ich hatte ja nie Zeit. Ich habe ihn nie ge¬
pflegt, als er klein war. Nicht zu mir kam er mit seinen Freuden und Leiden —
zu Fremden. Nicht auf meinem Schoße lernte er zum erstenmal in einem Buche
lesen. Wieder bei Fremden. Nicht ich war es, die mit ihm spielte; nicht ich, die ihn
erzog; nicht ich, die ihm irgendetwas gab. . . . Ich habe ihn weinen gesehen, wenn
ich fortging — und doch bin ich gegangen. Ich wollte anfangen, alles das
für ihn zu sein, was Mütter für ihre Kinder sein müssen — aber ich kam nicht
dazu. Als er starb, war das die Strafe, die mich endlich erreichte, die
Strafe!"

Daß Eltern ihre Kinder gut kleiden und nähren, ist ja selbstverständlich.
Aber ich möchte, daß sie sich einmal ganz ernstlich die Frage vorlegten: Habe
ich Gelegenheit, meine Kinder recht zu beobachten? Wieviel Minuten des Tages
beschäftige ich mich freiwillig mit ihnen? Erziehe ich sie wirklich? Sehr viele,
die ehrlich sind, werden sagen: „Ich glaubte, das hätte ich alles nicht nötig;
denn dazu ist ja die Schule da." So wird die Schule der verborgne Grund,
der die Einheit des Familienlebens auflöst. Das Elternhaus hat die Seelen
der Kinder an die Schule verkauft — aus einer sanften Bequemlichkeit oder
aus einer verzagten Unfähigkeit. Zwischen dem Vaterhause und der Schule ist
ein eiserner Vorhang heruntergelassen. Nach Jahren empfängt die Familie ihre
Kleinen als erwachsne Menschen zurück, voll belastet mit einer Gedächtnis- und
Verstandesbildung. Jede Enttäuschung, die nun das Leben bringt, wird ge¬
dankenlos und bedenkenlos der Schulpädagogik zur Last gelegt.

Ein Kofferträger kann mir mein Gepäck abnehmen; aber meine Sorgen
kann ich ihm nicht aufbürden. Auch die Schule kann das nicht leisten, was
man von ihr verlangt. Was soll die Schule alles leisten! Sie soll den In¬
tellekt der Kinder fördern, eine große Summe nützlicher und unnützer Kennt¬
nisse vermitteln, die Schüler im Himmel und auf der Erde zurechtweisen, tote
und lebende Sprachen lehren, dem Theologen und dem Philologen, dem Rechts¬
gelehrten und dem Arzt, dem Naturwissenschaftler und dem Elektrotechniker,
dem Kaufmann und dem Soldaten seinen Weg ebnen. Der Lehrer selbst soll
sich in jeder Minute in Zucht und die ganze Klasse im Zaume haben, soll im
Unterricht streng und milde, gerecht und liebenswürdig, interessant und begeisternd
und sachlich sein und mit praktischem Erfolge Begabte und Unbegabte gleich¬
müßig vorwärts bringen. Er soll nicht nur kluge sondern auch sittliche Menschen
bilden, die empfänglich sind für alles Schöne und Gute, Menschen, die in der
Geschichte aller Völker und Länder zu Hause siud und doch von Vaterlands¬
stolz glühen, die nie den berühmten deutschen Idealismus verlieren, aber doch
auch praktisch das Leben meistern, die künstlerisch zeichnen und singen können,


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[0027] Lidern und Kinder Gustaf af Geijerstam sagt die Frau zu ihrem Manne: „Weißt du, warum unser John gestorben ist? Ich weiß ja, daß er Lungenentzündung hatte. Der Doktor hat es mir gesagt, und er muß es verstehn. Aber ich kann nicht glauben, daß es so war. Er starb, weil ich nie dazu kam, eine Mutter für ihn zu sein. Ich habe ihn nicht selbst genährt; ich hatte ja nie Zeit. Ich habe ihn nie ge¬ pflegt, als er klein war. Nicht zu mir kam er mit seinen Freuden und Leiden — zu Fremden. Nicht auf meinem Schoße lernte er zum erstenmal in einem Buche lesen. Wieder bei Fremden. Nicht ich war es, die mit ihm spielte; nicht ich, die ihn erzog; nicht ich, die ihm irgendetwas gab. . . . Ich habe ihn weinen gesehen, wenn ich fortging — und doch bin ich gegangen. Ich wollte anfangen, alles das für ihn zu sein, was Mütter für ihre Kinder sein müssen — aber ich kam nicht dazu. Als er starb, war das die Strafe, die mich endlich erreichte, die Strafe!" Daß Eltern ihre Kinder gut kleiden und nähren, ist ja selbstverständlich. Aber ich möchte, daß sie sich einmal ganz ernstlich die Frage vorlegten: Habe ich Gelegenheit, meine Kinder recht zu beobachten? Wieviel Minuten des Tages beschäftige ich mich freiwillig mit ihnen? Erziehe ich sie wirklich? Sehr viele, die ehrlich sind, werden sagen: „Ich glaubte, das hätte ich alles nicht nötig; denn dazu ist ja die Schule da." So wird die Schule der verborgne Grund, der die Einheit des Familienlebens auflöst. Das Elternhaus hat die Seelen der Kinder an die Schule verkauft — aus einer sanften Bequemlichkeit oder aus einer verzagten Unfähigkeit. Zwischen dem Vaterhause und der Schule ist ein eiserner Vorhang heruntergelassen. Nach Jahren empfängt die Familie ihre Kleinen als erwachsne Menschen zurück, voll belastet mit einer Gedächtnis- und Verstandesbildung. Jede Enttäuschung, die nun das Leben bringt, wird ge¬ dankenlos und bedenkenlos der Schulpädagogik zur Last gelegt. Ein Kofferträger kann mir mein Gepäck abnehmen; aber meine Sorgen kann ich ihm nicht aufbürden. Auch die Schule kann das nicht leisten, was man von ihr verlangt. Was soll die Schule alles leisten! Sie soll den In¬ tellekt der Kinder fördern, eine große Summe nützlicher und unnützer Kennt¬ nisse vermitteln, die Schüler im Himmel und auf der Erde zurechtweisen, tote und lebende Sprachen lehren, dem Theologen und dem Philologen, dem Rechts¬ gelehrten und dem Arzt, dem Naturwissenschaftler und dem Elektrotechniker, dem Kaufmann und dem Soldaten seinen Weg ebnen. Der Lehrer selbst soll sich in jeder Minute in Zucht und die ganze Klasse im Zaume haben, soll im Unterricht streng und milde, gerecht und liebenswürdig, interessant und begeisternd und sachlich sein und mit praktischem Erfolge Begabte und Unbegabte gleich¬ müßig vorwärts bringen. Er soll nicht nur kluge sondern auch sittliche Menschen bilden, die empfänglich sind für alles Schöne und Gute, Menschen, die in der Geschichte aller Völker und Länder zu Hause siud und doch von Vaterlands¬ stolz glühen, die nie den berühmten deutschen Idealismus verlieren, aber doch auch praktisch das Leben meistern, die künstlerisch zeichnen und singen können,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/27>, abgerufen am 06.02.2025.