Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Fahrendes Volk im siebzehnten Jahrhundert Zieko nach Coswig hatte fahren lassen, gleichzeitig sind aber noch zwei Groschen Jämmerlich ist es zu lesen, wie viele Frauen, zuweilen auch Männer, eine Es mag zum Schluß noch erlaubt sein, einen Blick auf die vielen Kranken Fahrendes Volk im siebzehnten Jahrhundert Zieko nach Coswig hatte fahren lassen, gleichzeitig sind aber noch zwei Groschen Jämmerlich ist es zu lesen, wie viele Frauen, zuweilen auch Männer, eine Es mag zum Schluß noch erlaubt sein, einen Blick auf die vielen Kranken <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0261" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302249"/> <fw type="header" place="top"> Fahrendes Volk im siebzehnten Jahrhundert</fw><lb/> <p xml:id="ID_1126" prev="#ID_1125"> Zieko nach Coswig hatte fahren lassen, gleichzeitig sind aber noch zwei Groschen<lb/> sechs Pfennig verzeichnet „diesem pauer von Ziecko zum trinkgclde, welcher in<lb/> Ermangelung einer hoffnhre diß iveib biß Gribo geführet".</p><lb/> <p xml:id="ID_1127"> Jämmerlich ist es zu lesen, wie viele Frauen, zuweilen auch Männer, eine<lb/> größere oder kleinere Kinderschar auf dieser Wanderung mit sich herum führen<lb/> mußten. Eine Frau mit zwei kleinen .Kindern, eine arme Frau aus der Schlesigk<lb/> mit vier, eine aus Pohlen mit zwei, ein Ladiner mit drei Kindern aus See¬<lb/> hausen, ein Pfarrer mit sieben Kindern aus dem Meckelburgischen, so geht das<lb/> alle Jahre. Aber was wollte es schließlich bedeuten gegen die armen Kleinen,<lb/> die ganz allein und hilflos die damalige Welt voll Krieg, Brand, Rund und<lb/> Mord durchwandern mußten, wie zwei arme Kinder aus Koburg 1654, drei<lb/> arme Knaben aus Zollhäuser, deren Eltern irgendwo krank lagen, oder zwei<lb/> „blutarme Soldaten Kiuder, so keine Eltern mehr gehabt". Zuweilen nahmen<lb/> sich ihrer fremde Leute an, wie der „zwei armen, Vater- und mutterlosen kleinen<lb/> Kinder bei Eilenburg her, die von einem Orte zum andern gefiihret werden<lb/> "Nissen" (1V79).</p><lb/> <p xml:id="ID_1128" next="#ID_1129"> Es mag zum Schluß noch erlaubt sein, einen Blick auf die vielen Kranken<lb/> zu werfen, die neben den verarmten oder ans andern Gründen bettelnden<lb/> Vagabunden ihre Straße zogen und neben ihrer Armut noch ihre Gebrechen<lb/> zur Erregung der Mildtätigkeit ins Feld führen konnten. Neben ganz bekannte«<lb/> Leide» lernen wir dabei auch recht fremdartig anmutende Krankheiten und<lb/> Gebrechen kennen. Viele haben die schwere Not, das schwere Gebrechen, die<lb/> fallende Sucht oder hinfallende Seuche, andre kommen mit dem Wurm unterm<lb/> Angesicht, mit der schweren Hauptkrankheit, mit dem reisenden Stein oder einem<lb/> Gewächse all der Nase. Unendlich ist begreiflicherweise die Zahl derer mit<lb/> öffnen Schäden oder abgenommnen Armen und Beinen, denn in jener Zeit<lb/> ohne Asepsis und Reinlichkeit schlug beinahe regelmäßig der Brand oder das<lb/> kalte Feuer zu erhaltenen Wunden und Verletzungen hinzu. Auch mit Morbum<lb/> gallieum, einem unreinen Haupt oder einer Schlange im Bein kamen sie ge¬<lb/> legentlich in Coswig an. Daß der Aberglaube eine ziemlich große Rolle<lb/> spielte, beweisen viele Fälle, wo Leute angeblich „im Trunk vergeben", bezaubert<lb/> worden, vom Satan besessen oder vom bösen Feinde angefochten waren. Die<lb/> Heilung wurde ihnen allen erschwert teils durch den tiefen Stand der ärztlichen<lb/> Kunst, teils durch die übertriebnen Forderungen, die die Ärzte häufig stellten.<lb/> So betteln viele, um das Honorar zusammenzubringen, das die Ärzte von ihnen<lb/> vor der Heilung ihrer Gebrechen verlangen, wieder andre sammeln Almosen, um<lb/> Medikamente für ihre kranken Angehörigen zu kaufen, und nicht wenige klagen, daß<lb/> sie um einen lahmen Schenkel oder dergleichen „ihr Vermögen verarzet". So ist<lb/> es erklärlich, daß man zu den weltberühmten Bädern wie Karlsbad und Warm¬<lb/> bad mehr Vertrauen hatte als zu den Medizinern und Chirurgen, und daß<lb/> auch Kranke, die aus eignem Vermögen dahin nicht gelangen konnten, sich<lb/> durchzubetteln versuchten. Fast jedes Jahr hat solche Armen aufzuweisen, die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0261]
Fahrendes Volk im siebzehnten Jahrhundert
Zieko nach Coswig hatte fahren lassen, gleichzeitig sind aber noch zwei Groschen
sechs Pfennig verzeichnet „diesem pauer von Ziecko zum trinkgclde, welcher in
Ermangelung einer hoffnhre diß iveib biß Gribo geführet".
Jämmerlich ist es zu lesen, wie viele Frauen, zuweilen auch Männer, eine
größere oder kleinere Kinderschar auf dieser Wanderung mit sich herum führen
mußten. Eine Frau mit zwei kleinen .Kindern, eine arme Frau aus der Schlesigk
mit vier, eine aus Pohlen mit zwei, ein Ladiner mit drei Kindern aus See¬
hausen, ein Pfarrer mit sieben Kindern aus dem Meckelburgischen, so geht das
alle Jahre. Aber was wollte es schließlich bedeuten gegen die armen Kleinen,
die ganz allein und hilflos die damalige Welt voll Krieg, Brand, Rund und
Mord durchwandern mußten, wie zwei arme Kinder aus Koburg 1654, drei
arme Knaben aus Zollhäuser, deren Eltern irgendwo krank lagen, oder zwei
„blutarme Soldaten Kiuder, so keine Eltern mehr gehabt". Zuweilen nahmen
sich ihrer fremde Leute an, wie der „zwei armen, Vater- und mutterlosen kleinen
Kinder bei Eilenburg her, die von einem Orte zum andern gefiihret werden
"Nissen" (1V79).
Es mag zum Schluß noch erlaubt sein, einen Blick auf die vielen Kranken
zu werfen, die neben den verarmten oder ans andern Gründen bettelnden
Vagabunden ihre Straße zogen und neben ihrer Armut noch ihre Gebrechen
zur Erregung der Mildtätigkeit ins Feld führen konnten. Neben ganz bekannte«
Leide» lernen wir dabei auch recht fremdartig anmutende Krankheiten und
Gebrechen kennen. Viele haben die schwere Not, das schwere Gebrechen, die
fallende Sucht oder hinfallende Seuche, andre kommen mit dem Wurm unterm
Angesicht, mit der schweren Hauptkrankheit, mit dem reisenden Stein oder einem
Gewächse all der Nase. Unendlich ist begreiflicherweise die Zahl derer mit
öffnen Schäden oder abgenommnen Armen und Beinen, denn in jener Zeit
ohne Asepsis und Reinlichkeit schlug beinahe regelmäßig der Brand oder das
kalte Feuer zu erhaltenen Wunden und Verletzungen hinzu. Auch mit Morbum
gallieum, einem unreinen Haupt oder einer Schlange im Bein kamen sie ge¬
legentlich in Coswig an. Daß der Aberglaube eine ziemlich große Rolle
spielte, beweisen viele Fälle, wo Leute angeblich „im Trunk vergeben", bezaubert
worden, vom Satan besessen oder vom bösen Feinde angefochten waren. Die
Heilung wurde ihnen allen erschwert teils durch den tiefen Stand der ärztlichen
Kunst, teils durch die übertriebnen Forderungen, die die Ärzte häufig stellten.
So betteln viele, um das Honorar zusammenzubringen, das die Ärzte von ihnen
vor der Heilung ihrer Gebrechen verlangen, wieder andre sammeln Almosen, um
Medikamente für ihre kranken Angehörigen zu kaufen, und nicht wenige klagen, daß
sie um einen lahmen Schenkel oder dergleichen „ihr Vermögen verarzet". So ist
es erklärlich, daß man zu den weltberühmten Bädern wie Karlsbad und Warm¬
bad mehr Vertrauen hatte als zu den Medizinern und Chirurgen, und daß
auch Kranke, die aus eignem Vermögen dahin nicht gelangen konnten, sich
durchzubetteln versuchten. Fast jedes Jahr hat solche Armen aufzuweisen, die
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