Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Fahrendes Oolk im siebzehnten Jahrhundert ein Glasurmacher, ein Ziegelstreich er, "ein Schmiedeknecht aus Dennemark, so Das größte Kontingent zum bettelnden Handwerk stellten aber nicht die Das gefahrvolle Gewerbe des Dachdeckers lieferte wohl unter allen die Kürzer faßt sich der Stcidtschrciber der sechziger Jahre: "einem Schiefer¬ Fahrendes Oolk im siebzehnten Jahrhundert ein Glasurmacher, ein Ziegelstreich er, „ein Schmiedeknecht aus Dennemark, so Das größte Kontingent zum bettelnden Handwerk stellten aber nicht die Das gefahrvolle Gewerbe des Dachdeckers lieferte wohl unter allen die Kürzer faßt sich der Stcidtschrciber der sechziger Jahre: „einem Schiefer¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0255" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302243"/> <fw type="header" place="top"> Fahrendes Oolk im siebzehnten Jahrhundert</fw><lb/> <p xml:id="ID_1109" prev="#ID_1108"> ein Glasurmacher, ein Ziegelstreich er, „ein Schmiedeknecht aus Dennemark, so<lb/> beraubt gewesen" (1066), ein Eisengießer aus Oberscheibe, ein Bäcker ans Zerbst,<lb/> ein Salzsieder aus Halle mit der schweren Not, aber das siud alles Ausnahme<lb/> erscheiuungen unter den Scharen der alltäglich Vorsprechenden, Auch Dach¬<lb/> decker, Zimmerleute, Maurer, Fleischer, Böttcher kommen, aber meist arbeits¬<lb/> unfähige oder durch irgendeinen Umstand ans dem Gleis geworfue Leute, wie<lb/> drei Leinewebergeselleu (1680), „so an vielen orthen bei graßircuder Pestilcnz-<lb/> zeit nicht eingelassen werden und dahero keine arbeit bekommen können".</p><lb/> <p xml:id="ID_1110"> Das größte Kontingent zum bettelnden Handwerk stellten aber nicht die<lb/> um Arbeit Anfragenden, sondern die im Beruf oder auf der Straße Verun¬<lb/> glückten. Zu einer Zeit, die ebenso aller Maßregeln zur Unfallverhütung wie<lb/> jeder Jnvalidenfürsorge und heimischen Armenpflege entbehrte, mußte ihre Zahl<lb/> erschreckend groß sein, und ihr Los wäre wohl fürchterlich gewesen, wenn man<lb/> nicht ihr Anrecht an die öffentliche Mildtätigkeit als selbstverständlich anerkannt<lb/> hätte. Während Karl der Große im Kapitnlar von 806 gebot, daß jeder<lb/> nasus des Kaisers seine Armen selbst ernähre und nicht gestatte, daß sie sich<lb/> bettelnd umhertrieben, hatten die Städte 800 Jahre später die Sache umgekehrt<lb/> und ernährten bereitwillig die Armut der halben Welt, mir ihre eigne stießen<lb/> sie in die Fremde hinaus.</p><lb/> <p xml:id="ID_1111"> Das gefahrvolle Gewerbe des Dachdeckers lieferte wohl unter allen die<lb/> meisten Krüppel, die zeitlebens darauf angewiesen waren, bettelnd durch die<lb/> weite Welt zu gehn oder sich tragen oder fahren zu lassen. Einem armen<lb/> Schieferdecker, dem ein Arm, ein Bein oder beide abgenommen waren, wurde<lb/> sehr oft und nicht kärglich gereicht. Es tat auch manchmal nicht der schreck¬<lb/> liche Fall (meist von Kirchcndächern oder Rathäusern) allein; neben einem, der<lb/> durch Blitzschlag zweimal den Arm gebrochen, kommt ein andrer „von Wirtz-<lb/> burg, der von einen, Gebew gefallen und mit der schweren Not beladen", und<lb/> ein Ziegeldecker, „der den arm angefallen, das kalte fewer darin bekommen und<lb/> den arm hat müssen lassen abnehmen."</p><lb/> <p xml:id="ID_1112"> Kürzer faßt sich der Stcidtschrciber der sechziger Jahre: „einem Schiefer¬<lb/> decker, so hehre gefallen," heißt es einmal, und „einem von aldenburgk, welcher<lb/> sich eine Ribbe im leibe in Zwey gefallen". Auch verunglückte Zimmergesellen<lb/> sind nicht ganz selten, 1608 kommen ihrer zwei miteinander, der eine hat kein<lb/> und der andre nur ein Bein gehabt. In den Schächten der Bergwerke waren<lb/> ttnglücksfälle keine Seltenheit, und für die davon Getroffnen gab es nichts<lb/> '"ehr zu hoffen als das große Universalarmenhans: die Straße. Das Jahr<lb/> 1610 verzeichnet unter andern „einen lahmen Berghaner, welcher selbst Sie¬<lb/> benter verfallen und er allein darvon gekommen", 1614 gab man ein Almosen<lb/> »einem Berghawer selbstfünft in einen verfallenden Schacht geschlossen". Dieser<lb/> "klein wurde beim Nachgrade» wiedergefunden „und eine Monathszeit Stund<lb/> gelegen". Bergleute aus Freiberg und dem Harz, die zu Krüppeln gefallen<lb/> oder geschlagen sind, begegnen uns ziemlich häufig.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0255]
Fahrendes Oolk im siebzehnten Jahrhundert
ein Glasurmacher, ein Ziegelstreich er, „ein Schmiedeknecht aus Dennemark, so
beraubt gewesen" (1066), ein Eisengießer aus Oberscheibe, ein Bäcker ans Zerbst,
ein Salzsieder aus Halle mit der schweren Not, aber das siud alles Ausnahme
erscheiuungen unter den Scharen der alltäglich Vorsprechenden, Auch Dach¬
decker, Zimmerleute, Maurer, Fleischer, Böttcher kommen, aber meist arbeits¬
unfähige oder durch irgendeinen Umstand ans dem Gleis geworfue Leute, wie
drei Leinewebergeselleu (1680), „so an vielen orthen bei graßircuder Pestilcnz-
zeit nicht eingelassen werden und dahero keine arbeit bekommen können".
Das größte Kontingent zum bettelnden Handwerk stellten aber nicht die
um Arbeit Anfragenden, sondern die im Beruf oder auf der Straße Verun¬
glückten. Zu einer Zeit, die ebenso aller Maßregeln zur Unfallverhütung wie
jeder Jnvalidenfürsorge und heimischen Armenpflege entbehrte, mußte ihre Zahl
erschreckend groß sein, und ihr Los wäre wohl fürchterlich gewesen, wenn man
nicht ihr Anrecht an die öffentliche Mildtätigkeit als selbstverständlich anerkannt
hätte. Während Karl der Große im Kapitnlar von 806 gebot, daß jeder
nasus des Kaisers seine Armen selbst ernähre und nicht gestatte, daß sie sich
bettelnd umhertrieben, hatten die Städte 800 Jahre später die Sache umgekehrt
und ernährten bereitwillig die Armut der halben Welt, mir ihre eigne stießen
sie in die Fremde hinaus.
Das gefahrvolle Gewerbe des Dachdeckers lieferte wohl unter allen die
meisten Krüppel, die zeitlebens darauf angewiesen waren, bettelnd durch die
weite Welt zu gehn oder sich tragen oder fahren zu lassen. Einem armen
Schieferdecker, dem ein Arm, ein Bein oder beide abgenommen waren, wurde
sehr oft und nicht kärglich gereicht. Es tat auch manchmal nicht der schreck¬
liche Fall (meist von Kirchcndächern oder Rathäusern) allein; neben einem, der
durch Blitzschlag zweimal den Arm gebrochen, kommt ein andrer „von Wirtz-
burg, der von einen, Gebew gefallen und mit der schweren Not beladen", und
ein Ziegeldecker, „der den arm angefallen, das kalte fewer darin bekommen und
den arm hat müssen lassen abnehmen."
Kürzer faßt sich der Stcidtschrciber der sechziger Jahre: „einem Schiefer¬
decker, so hehre gefallen," heißt es einmal, und „einem von aldenburgk, welcher
sich eine Ribbe im leibe in Zwey gefallen". Auch verunglückte Zimmergesellen
sind nicht ganz selten, 1608 kommen ihrer zwei miteinander, der eine hat kein
und der andre nur ein Bein gehabt. In den Schächten der Bergwerke waren
ttnglücksfälle keine Seltenheit, und für die davon Getroffnen gab es nichts
'"ehr zu hoffen als das große Universalarmenhans: die Straße. Das Jahr
1610 verzeichnet unter andern „einen lahmen Berghaner, welcher selbst Sie¬
benter verfallen und er allein darvon gekommen", 1614 gab man ein Almosen
»einem Berghawer selbstfünft in einen verfallenden Schacht geschlossen". Dieser
"klein wurde beim Nachgrade» wiedergefunden „und eine Monathszeit Stund
gelegen". Bergleute aus Freiberg und dem Harz, die zu Krüppeln gefallen
oder geschlagen sind, begegnen uns ziemlich häufig.
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