Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.fahrende" Volk irr siebzehnte" Jahrhundert Coswig war nei siebzehnten Jahrhundert eine unbedeutende Landstadt, und Wer waren nun diese Hunderte und Tausende, die von Ort zu Ort bettelnd Vor allem ist mir aufgefallen, daß die Zunft viel weniger unter den fahrende» Volk irr siebzehnte» Jahrhundert Coswig war nei siebzehnten Jahrhundert eine unbedeutende Landstadt, und Wer waren nun diese Hunderte und Tausende, die von Ort zu Ort bettelnd Vor allem ist mir aufgefallen, daß die Zunft viel weniger unter den <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0254" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302242"/> <fw type="header" place="top"> fahrende» Volk irr siebzehnte» Jahrhundert</fw><lb/> <p xml:id="ID_1106"> Coswig war nei siebzehnten Jahrhundert eine unbedeutende Landstadt, und<lb/> es wurde durch den großen Krieg fast ganz an den Bettelstab gebracht. Aber<lb/> es lag an einer länderverbindenden Straße mit ungewöhnlichen Verkehr und<lb/> wurde durch die Nähe mehrerer Städte von größerer Bedeutung, vor allein<lb/> Zerbst, Dessau und Wittenberg belebt. Dabei hatte augenscheinlich der Stadt¬<lb/> schreiber, von Amtsgeschäften noch nicht überbürdet, für das fahrende Volk und<lb/> die, mannigfachen Neuigkeiten, die es mitbrachte, mehr Zeit und Interesse übrig<lb/> als seine Amtsbruder in großer» Städten, Leider sind die Stadtrechnungen<lb/> für gewisse Zeiträume, namentlich von ihrem Beginn im Jahre 1594 bis 163',»,<lb/> sehr lückenhaft, Bon 1617 bis 1639 fehlen sie ganz. Um so glücklicher fügte<lb/> es sich, daß gerade für diese Zeit die Kirchenrechnungen fast ununterbrochen<lb/> erhalten sind und die Ausweise der Stadtbücher auf diesem Gebiete willkommen<lb/> ergänzten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1107"> Wer waren nun diese Hunderte und Tausende, die von Ort zu Ort bettelnd<lb/> die Straßen bevölkerten? Sicherlich trieb sich damals, wie heute, viel arbeits¬<lb/> scheues, abenteuerlustiges Volk auf deu Straßen umher, und es fehlen anch nicht<lb/> ganz die frischfröhlichen Typen des fahrenden Schülers und des sorglosen Lands¬<lb/> knechts, Aber im ganzen läßt sich doch nicht verkennen, daß die überwiegende<lb/> Menge dieser Handwerker, Soldaten, Studenten, Lehrer und Pfarrer, Frauen<lb/> und Adlichen, die da in schier unabsehbarer Reihe dnrch die Stadtbncher eines<lb/> ganzen Jahrhunderts wallen, daß sie nicht zum Vergnügen betteln gingen. Ja<lb/> man kann getrost ein gutes Teil der von unsern Stadtschreibern vertrauens-<lb/> selig in ihre Rechnungen eingetragnen Klagelieder zu den Erfindungen werfe»,<lb/> es wird noch eine erschütternde Menge von Elend und Not übrig bleiben, die<lb/> die Leute init zwingender Notwendigkeit von der Scholle trieb und ihnen den<lb/> Wanderstab in die Hand drückte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1108" next="#ID_1109"> Vor allem ist mir aufgefallen, daß die Zunft viel weniger unter den<lb/> fahrenden Leuten vertreten war, als man nach den Schilderungen des spätern<lb/> Mittelalters und der darauffolgenden Jahrhunderte vermuten sollte. Allerdings<lb/> finden sich Handwerker aller denkbaren Berufe. Neben Leinwandwebern ans<lb/> Schlesien kommen Tuchmachergeselleu „aus der Dahme", aus Mittweida, aus<lb/> Flandern, ein Tuchknappc, „dem zu Magdeburg all sein gerät verbrannt", oder<lb/> „ein solcher aus Großenhahn, von 86 jähren". Gelegentlich begegnet uns auch<lb/> einmal ein Teppichweber, ein Kürschner oder ein „Riemerbnrsche, so auf der<lb/> straße ausgezogen"; auch Schuster siud nicht ganz selten, wenn auch meist von<lb/> Not oder Krankheit umgetrieben, wie zwei abgebrannte Schuster aus Pommern<lb/> (1661), einer aus Hamburg, der lange krank gelegen, ein andrer mit dem Krebs,<lb/> einer aus Hessen mit einer Hand und etliche Abgebrannte. Stärker vertreten<lb/> ist die schwarze Kunst, neben zahlreichen Papiermachergesellen wandten sich auch<lb/> Schriftgießer und Bnchdrnckergesellen an die offne Hand des Rates. Ein Gold¬<lb/> schmied ans Bernburg, ein Seidensticker. der lange krank gelegen, ein Glocken¬<lb/> gießergeselle repräsentieren die höhern gewerblichen Kjuiste. Gelegentlich kommt</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0254]
fahrende» Volk irr siebzehnte» Jahrhundert
Coswig war nei siebzehnten Jahrhundert eine unbedeutende Landstadt, und
es wurde durch den großen Krieg fast ganz an den Bettelstab gebracht. Aber
es lag an einer länderverbindenden Straße mit ungewöhnlichen Verkehr und
wurde durch die Nähe mehrerer Städte von größerer Bedeutung, vor allein
Zerbst, Dessau und Wittenberg belebt. Dabei hatte augenscheinlich der Stadt¬
schreiber, von Amtsgeschäften noch nicht überbürdet, für das fahrende Volk und
die, mannigfachen Neuigkeiten, die es mitbrachte, mehr Zeit und Interesse übrig
als seine Amtsbruder in großer» Städten, Leider sind die Stadtrechnungen
für gewisse Zeiträume, namentlich von ihrem Beginn im Jahre 1594 bis 163',»,
sehr lückenhaft, Bon 1617 bis 1639 fehlen sie ganz. Um so glücklicher fügte
es sich, daß gerade für diese Zeit die Kirchenrechnungen fast ununterbrochen
erhalten sind und die Ausweise der Stadtbücher auf diesem Gebiete willkommen
ergänzten.
Wer waren nun diese Hunderte und Tausende, die von Ort zu Ort bettelnd
die Straßen bevölkerten? Sicherlich trieb sich damals, wie heute, viel arbeits¬
scheues, abenteuerlustiges Volk auf deu Straßen umher, und es fehlen anch nicht
ganz die frischfröhlichen Typen des fahrenden Schülers und des sorglosen Lands¬
knechts, Aber im ganzen läßt sich doch nicht verkennen, daß die überwiegende
Menge dieser Handwerker, Soldaten, Studenten, Lehrer und Pfarrer, Frauen
und Adlichen, die da in schier unabsehbarer Reihe dnrch die Stadtbncher eines
ganzen Jahrhunderts wallen, daß sie nicht zum Vergnügen betteln gingen. Ja
man kann getrost ein gutes Teil der von unsern Stadtschreibern vertrauens-
selig in ihre Rechnungen eingetragnen Klagelieder zu den Erfindungen werfe»,
es wird noch eine erschütternde Menge von Elend und Not übrig bleiben, die
die Leute init zwingender Notwendigkeit von der Scholle trieb und ihnen den
Wanderstab in die Hand drückte.
Vor allem ist mir aufgefallen, daß die Zunft viel weniger unter den
fahrenden Leuten vertreten war, als man nach den Schilderungen des spätern
Mittelalters und der darauffolgenden Jahrhunderte vermuten sollte. Allerdings
finden sich Handwerker aller denkbaren Berufe. Neben Leinwandwebern ans
Schlesien kommen Tuchmachergeselleu „aus der Dahme", aus Mittweida, aus
Flandern, ein Tuchknappc, „dem zu Magdeburg all sein gerät verbrannt", oder
„ein solcher aus Großenhahn, von 86 jähren". Gelegentlich begegnet uns auch
einmal ein Teppichweber, ein Kürschner oder ein „Riemerbnrsche, so auf der
straße ausgezogen"; auch Schuster siud nicht ganz selten, wenn auch meist von
Not oder Krankheit umgetrieben, wie zwei abgebrannte Schuster aus Pommern
(1661), einer aus Hamburg, der lange krank gelegen, ein andrer mit dem Krebs,
einer aus Hessen mit einer Hand und etliche Abgebrannte. Stärker vertreten
ist die schwarze Kunst, neben zahlreichen Papiermachergesellen wandten sich auch
Schriftgießer und Bnchdrnckergesellen an die offne Hand des Rates. Ein Gold¬
schmied ans Bernburg, ein Seidensticker. der lange krank gelegen, ein Glocken¬
gießergeselle repräsentieren die höhern gewerblichen Kjuiste. Gelegentlich kommt
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