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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Und nun brachte jeder Tag neue Zeichen dafür, wie man Stcwenhagen
verstand, daß man ihn recht verstand. Bis nach Wien hin wurden seine Dramen
aufgeführt, und jede Woche noch meldet uns von neuen Zeichen, wie sich der
Dichter seine Welt erobert. Es gab wohl kaum eine große deutsche Zeitung
oder Zeitschrift, die im Laufe dieser letzten anderthalb Jahre seiner nicht gedacht
hätte, die Literatur geht nicht an ihm vorbei, und schon ist ans der Feder eines
angesehenen Literaturhistorikers eine wertvolle Monographie über den Jüngst-
verblichncn erschienen.

Und das alles, obwohl Fritz Stavenhagen erst am 18. September des
vorigen Jahres dreißig Jahre alt geworden wäre. Und das alles, ohne daß
sich anch nur eine ernst zu nehmende Stimme erhöbe und spräche: Dies ist zu
viel, so viel Kränze hat er nicht verdient, oder ihr feiert ihn jn nur, weil er
so früh gestorben ist. Nein, das sei uns fern und ist uns besonders fern, heute,
wo wir nicht mehr unter dem frischen Eindruck jenes tieftraurigen Tages stehn,
und wo wir zu abgeklärter Betrachtung fest den Blick auf sein Werk richten
können, das uns geblieben ist. Sechs Bände liegen vor uns, fünf Dramen und
ein Buch Erzählungen. Sie allein sollen sprechen und sagen, wer Fritz Staven¬
hagen war. Und was sie uns zu sagen haben, ist wahrlich genug. Wenn wir
im Geiste die einzelnen Werke an uns vorüberziehn lassen, mögen wir sie nun
auf der Bühne gesehen haben, soweit es Dramen sind, oder nur aus dem Buche
genossen: es muß uns in der Erinnerung auffallen, eine wie große Anzahl leib¬
haft dastehender Gestalten uns im Gedächtnis geblieben sind. Durchschnitts¬
menschen sind natürlich ein großer Teil all dieser Bauern, Fischer, kleinen Leute,
die der Dichter uns gegeben hat. Wie merkwürdig aber, daß jeder von ihnen
als eine Individualität vor uns steht! Das Volk, ans dem er zu Hause war,
war bei ihm so zu Hanse, daß er sich wie der Blinde in altgewohnter Umgebung
unter ihm zurechtfand, daß sich ans der andern Seite anch jeder einzelne in
seinen Werken sofort wiederfand. Das beginnt schon im "Jürgen Piepers",'"')
wo im Gasthof alles durcheinander lebt und webt, ohne daß sich je die Indi¬
vidualität an die Schablone verlöre. Und das geht weiter und erreicht seineu
Höhepunkt im "Dütschen Michel", für mich die Krone von Stavenhagens
Schöpfungen. Das Stück beginnt auf dem Schlosse des Grafen Mailing in
Mecklenburg. Der junge Graf ist von der Schule zurückgekehrt und feiert ein
dreitägiges Fest zu seinem Einzug. Auch die Bauern der Herrschaft sind seine
Gäste, und vor den Adlichen betreten sie die Säle des glänzenden Schlosses.
Mit feinster Kunst ist jeder von ihnen eingeführt, allmählich baut sich das Bild
auf, und als schließlich eine große Zahl dieser Dorfbewohner zusammen ist, da
kennen wir nun schon jeden, da wissen wir den Starren und den Entgegen-




*) Fritz Stavenhagen. Eine ästhetische Würdigung von Adolf Bartels. Dresden und
Leipzig. C. A. Kochs Verlagsbuchhandlung.
--) Sämtliche Schriften Stavenhagens sind im Gutenbergverlag N>>. Ernst Schultze zu Haw
bürg erschienen.

Und nun brachte jeder Tag neue Zeichen dafür, wie man Stcwenhagen
verstand, daß man ihn recht verstand. Bis nach Wien hin wurden seine Dramen
aufgeführt, und jede Woche noch meldet uns von neuen Zeichen, wie sich der
Dichter seine Welt erobert. Es gab wohl kaum eine große deutsche Zeitung
oder Zeitschrift, die im Laufe dieser letzten anderthalb Jahre seiner nicht gedacht
hätte, die Literatur geht nicht an ihm vorbei, und schon ist ans der Feder eines
angesehenen Literaturhistorikers eine wertvolle Monographie über den Jüngst-
verblichncn erschienen.

Und das alles, obwohl Fritz Stavenhagen erst am 18. September des
vorigen Jahres dreißig Jahre alt geworden wäre. Und das alles, ohne daß
sich anch nur eine ernst zu nehmende Stimme erhöbe und spräche: Dies ist zu
viel, so viel Kränze hat er nicht verdient, oder ihr feiert ihn jn nur, weil er
so früh gestorben ist. Nein, das sei uns fern und ist uns besonders fern, heute,
wo wir nicht mehr unter dem frischen Eindruck jenes tieftraurigen Tages stehn,
und wo wir zu abgeklärter Betrachtung fest den Blick auf sein Werk richten
können, das uns geblieben ist. Sechs Bände liegen vor uns, fünf Dramen und
ein Buch Erzählungen. Sie allein sollen sprechen und sagen, wer Fritz Staven¬
hagen war. Und was sie uns zu sagen haben, ist wahrlich genug. Wenn wir
im Geiste die einzelnen Werke an uns vorüberziehn lassen, mögen wir sie nun
auf der Bühne gesehen haben, soweit es Dramen sind, oder nur aus dem Buche
genossen: es muß uns in der Erinnerung auffallen, eine wie große Anzahl leib¬
haft dastehender Gestalten uns im Gedächtnis geblieben sind. Durchschnitts¬
menschen sind natürlich ein großer Teil all dieser Bauern, Fischer, kleinen Leute,
die der Dichter uns gegeben hat. Wie merkwürdig aber, daß jeder von ihnen
als eine Individualität vor uns steht! Das Volk, ans dem er zu Hause war,
war bei ihm so zu Hanse, daß er sich wie der Blinde in altgewohnter Umgebung
unter ihm zurechtfand, daß sich ans der andern Seite anch jeder einzelne in
seinen Werken sofort wiederfand. Das beginnt schon im „Jürgen Piepers",'"')
wo im Gasthof alles durcheinander lebt und webt, ohne daß sich je die Indi¬
vidualität an die Schablone verlöre. Und das geht weiter und erreicht seineu
Höhepunkt im „Dütschen Michel", für mich die Krone von Stavenhagens
Schöpfungen. Das Stück beginnt auf dem Schlosse des Grafen Mailing in
Mecklenburg. Der junge Graf ist von der Schule zurückgekehrt und feiert ein
dreitägiges Fest zu seinem Einzug. Auch die Bauern der Herrschaft sind seine
Gäste, und vor den Adlichen betreten sie die Säle des glänzenden Schlosses.
Mit feinster Kunst ist jeder von ihnen eingeführt, allmählich baut sich das Bild
auf, und als schließlich eine große Zahl dieser Dorfbewohner zusammen ist, da
kennen wir nun schon jeden, da wissen wir den Starren und den Entgegen-




*) Fritz Stavenhagen. Eine ästhetische Würdigung von Adolf Bartels. Dresden und
Leipzig. C. A. Kochs Verlagsbuchhandlung.
—) Sämtliche Schriften Stavenhagens sind im Gutenbergverlag N>>. Ernst Schultze zu Haw
bürg erschienen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/250>, abgerufen am 06.02.2025.