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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Für die Reichshauptstadt

Abermals jedoch muß man fragen: Sind es "die Berliner", die diesen
Zustand verschuldeten? Wer sie wirklich kennt, muß ihnen bezeugen, daß sie
sich dem neuen Geiste tapfer widersetzt und ihren ehedem so arg verschrienen
"ästhetischen Tee" mit heldenmütiger Zähigkeit verteidigt haben. Noch heute
kann man beobachten, wie sich die alten Berliner Familien im Mittelstande
durch einen ziemlich philisterhaften, in der obern Schicht durch einen schön¬
geistigen Zug von der übrigen Gesellschaft abheben. Sie bilden, wieviel sie
sich auch auf ihre politisch-fortschrittliche Gesinnung zugute tun mögen, in
dem heutigen reichshauptstädtischen Kulturleben ein überwiegend konservatives
Element. Nicht sie sind es wahrlich, die ihre gute Vaterstadt zum Sammel-
punkt eines prunkenden sybaritischen Lebensgenusses gemacht haben. Aber
auch den Adoptivberlinern, jener großen Masse, der Berlin in langen Jahren
der Arbeit zu einer zweiten Heimat geworden ist, kann man nicht die ganze
oder auch nur den größern Teil der Schuld zuschieben. Nein, ist hier eine
Schuld, so ist es die Gesamtheit der deutschen Nation, die sie zu tragen hat.
Die Kehrseite unsrer mächtig und erfolgreich emporstrebenden wirtschaftlichen
Entwicklung, die starke, oft zügellose Neigung zu üppigem materiellen Genießen,
ist keine Eigentümlichkeit Berlins; überall im Reiche stoßen wir auf dieselbe
Erscheinung. Und es ist nicht wahr, daß erst das böse Beispiel Berlins die
tugendhaften Kinder der Mutter Germania da draußen angesteckt habe. Hier
ist nur der Brennpunkt, in dem sich die Strahlen aus dem ganzen lieben
Vaterlande sammeln. Tritt in Berlin der genußsüchtige Materialismus unsrer
Zeit greller als sonstwo zutage, so brauchen darum "die Berliner" nicht
schlechter zu sein als wir alle. Es ist nur die massige Konzentration des
Übels, die das abschreckende Bild erzeugt. Aber im Grunde ist dieses Bild,
wie schon gesagt, das Spiegelbild des Gesamtznstandes unsers Volkes.

Vielleicht kann diese Wahrheit denen, die so rasch zu einem Verdammungs-
urteil bereit sind, ein Anlaß zu genauerer Prüfung sein, ob das gesellschaft¬
liche Leben Berlins deun wirklich der Sündenpfuhl ist, als den mau es ver¬
schreit. Kein Vernünftiger wird die oben geschilderten Sitten der höhern
Schichten ohne weiteres rechtfertigen wollen. Die Gefahr besteht, daß der
herrschende Luxus, wenn nicht endlich eine verstündige Reaktion gegen ihn
durchdringt, zum Krebsschaden wird. In der Hauptsache aber doch nur für
den Geldbeutel! Daß über ganz Berlin eine verpestete Atmosphäre lagere,
die mich auf die Moral der "anständigsten" Kreise abfärbe, ist eine leicht¬
fertige Behauptung, für die es keine Beweise gibt. Wer etwa den Grad der
Sittlichkeit eitler Bevölkerung nach dem Kirchenbesuche bemessen wollte, der
würde den Berlinern ein Zeugnis erster Klasse ausstellen müssen. Die Reichs¬
hauptstadt ist in den letzten Jahrzehnten mit einer ansehnlichen Zahl neuer
Gotteshäuser ausgestattet worden. Sie alle sind an den gewöhnlichen Sonn¬
tagen reichlich besetzt, all den hohen Festen zum Erdrücken überfüllt. Über
die Äußerlichkeit dieses Maßstabes ist freilich kein Zweifel. Aber wer kann


Für die Reichshauptstadt

Abermals jedoch muß man fragen: Sind es „die Berliner", die diesen
Zustand verschuldeten? Wer sie wirklich kennt, muß ihnen bezeugen, daß sie
sich dem neuen Geiste tapfer widersetzt und ihren ehedem so arg verschrienen
„ästhetischen Tee" mit heldenmütiger Zähigkeit verteidigt haben. Noch heute
kann man beobachten, wie sich die alten Berliner Familien im Mittelstande
durch einen ziemlich philisterhaften, in der obern Schicht durch einen schön¬
geistigen Zug von der übrigen Gesellschaft abheben. Sie bilden, wieviel sie
sich auch auf ihre politisch-fortschrittliche Gesinnung zugute tun mögen, in
dem heutigen reichshauptstädtischen Kulturleben ein überwiegend konservatives
Element. Nicht sie sind es wahrlich, die ihre gute Vaterstadt zum Sammel-
punkt eines prunkenden sybaritischen Lebensgenusses gemacht haben. Aber
auch den Adoptivberlinern, jener großen Masse, der Berlin in langen Jahren
der Arbeit zu einer zweiten Heimat geworden ist, kann man nicht die ganze
oder auch nur den größern Teil der Schuld zuschieben. Nein, ist hier eine
Schuld, so ist es die Gesamtheit der deutschen Nation, die sie zu tragen hat.
Die Kehrseite unsrer mächtig und erfolgreich emporstrebenden wirtschaftlichen
Entwicklung, die starke, oft zügellose Neigung zu üppigem materiellen Genießen,
ist keine Eigentümlichkeit Berlins; überall im Reiche stoßen wir auf dieselbe
Erscheinung. Und es ist nicht wahr, daß erst das böse Beispiel Berlins die
tugendhaften Kinder der Mutter Germania da draußen angesteckt habe. Hier
ist nur der Brennpunkt, in dem sich die Strahlen aus dem ganzen lieben
Vaterlande sammeln. Tritt in Berlin der genußsüchtige Materialismus unsrer
Zeit greller als sonstwo zutage, so brauchen darum „die Berliner" nicht
schlechter zu sein als wir alle. Es ist nur die massige Konzentration des
Übels, die das abschreckende Bild erzeugt. Aber im Grunde ist dieses Bild,
wie schon gesagt, das Spiegelbild des Gesamtznstandes unsers Volkes.

Vielleicht kann diese Wahrheit denen, die so rasch zu einem Verdammungs-
urteil bereit sind, ein Anlaß zu genauerer Prüfung sein, ob das gesellschaft¬
liche Leben Berlins deun wirklich der Sündenpfuhl ist, als den mau es ver¬
schreit. Kein Vernünftiger wird die oben geschilderten Sitten der höhern
Schichten ohne weiteres rechtfertigen wollen. Die Gefahr besteht, daß der
herrschende Luxus, wenn nicht endlich eine verstündige Reaktion gegen ihn
durchdringt, zum Krebsschaden wird. In der Hauptsache aber doch nur für
den Geldbeutel! Daß über ganz Berlin eine verpestete Atmosphäre lagere,
die mich auf die Moral der „anständigsten" Kreise abfärbe, ist eine leicht¬
fertige Behauptung, für die es keine Beweise gibt. Wer etwa den Grad der
Sittlichkeit eitler Bevölkerung nach dem Kirchenbesuche bemessen wollte, der
würde den Berlinern ein Zeugnis erster Klasse ausstellen müssen. Die Reichs¬
hauptstadt ist in den letzten Jahrzehnten mit einer ansehnlichen Zahl neuer
Gotteshäuser ausgestattet worden. Sie alle sind an den gewöhnlichen Sonn¬
tagen reichlich besetzt, all den hohen Festen zum Erdrücken überfüllt. Über
die Äußerlichkeit dieses Maßstabes ist freilich kein Zweifel. Aber wer kann


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[0236] Für die Reichshauptstadt Abermals jedoch muß man fragen: Sind es „die Berliner", die diesen Zustand verschuldeten? Wer sie wirklich kennt, muß ihnen bezeugen, daß sie sich dem neuen Geiste tapfer widersetzt und ihren ehedem so arg verschrienen „ästhetischen Tee" mit heldenmütiger Zähigkeit verteidigt haben. Noch heute kann man beobachten, wie sich die alten Berliner Familien im Mittelstande durch einen ziemlich philisterhaften, in der obern Schicht durch einen schön¬ geistigen Zug von der übrigen Gesellschaft abheben. Sie bilden, wieviel sie sich auch auf ihre politisch-fortschrittliche Gesinnung zugute tun mögen, in dem heutigen reichshauptstädtischen Kulturleben ein überwiegend konservatives Element. Nicht sie sind es wahrlich, die ihre gute Vaterstadt zum Sammel- punkt eines prunkenden sybaritischen Lebensgenusses gemacht haben. Aber auch den Adoptivberlinern, jener großen Masse, der Berlin in langen Jahren der Arbeit zu einer zweiten Heimat geworden ist, kann man nicht die ganze oder auch nur den größern Teil der Schuld zuschieben. Nein, ist hier eine Schuld, so ist es die Gesamtheit der deutschen Nation, die sie zu tragen hat. Die Kehrseite unsrer mächtig und erfolgreich emporstrebenden wirtschaftlichen Entwicklung, die starke, oft zügellose Neigung zu üppigem materiellen Genießen, ist keine Eigentümlichkeit Berlins; überall im Reiche stoßen wir auf dieselbe Erscheinung. Und es ist nicht wahr, daß erst das böse Beispiel Berlins die tugendhaften Kinder der Mutter Germania da draußen angesteckt habe. Hier ist nur der Brennpunkt, in dem sich die Strahlen aus dem ganzen lieben Vaterlande sammeln. Tritt in Berlin der genußsüchtige Materialismus unsrer Zeit greller als sonstwo zutage, so brauchen darum „die Berliner" nicht schlechter zu sein als wir alle. Es ist nur die massige Konzentration des Übels, die das abschreckende Bild erzeugt. Aber im Grunde ist dieses Bild, wie schon gesagt, das Spiegelbild des Gesamtznstandes unsers Volkes. Vielleicht kann diese Wahrheit denen, die so rasch zu einem Verdammungs- urteil bereit sind, ein Anlaß zu genauerer Prüfung sein, ob das gesellschaft¬ liche Leben Berlins deun wirklich der Sündenpfuhl ist, als den mau es ver¬ schreit. Kein Vernünftiger wird die oben geschilderten Sitten der höhern Schichten ohne weiteres rechtfertigen wollen. Die Gefahr besteht, daß der herrschende Luxus, wenn nicht endlich eine verstündige Reaktion gegen ihn durchdringt, zum Krebsschaden wird. In der Hauptsache aber doch nur für den Geldbeutel! Daß über ganz Berlin eine verpestete Atmosphäre lagere, die mich auf die Moral der „anständigsten" Kreise abfärbe, ist eine leicht¬ fertige Behauptung, für die es keine Beweise gibt. Wer etwa den Grad der Sittlichkeit eitler Bevölkerung nach dem Kirchenbesuche bemessen wollte, der würde den Berlinern ein Zeugnis erster Klasse ausstellen müssen. Die Reichs¬ hauptstadt ist in den letzten Jahrzehnten mit einer ansehnlichen Zahl neuer Gotteshäuser ausgestattet worden. Sie alle sind an den gewöhnlichen Sonn¬ tagen reichlich besetzt, all den hohen Festen zum Erdrücken überfüllt. Über die Äußerlichkeit dieses Maßstabes ist freilich kein Zweifel. Aber wer kann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/236>, abgerufen am 06.02.2025.