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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Für die Reichshauptstadt

Berlin nicht einmal in vollem Maße das, was es als Hauptstadt des Groß-
staatcs Preußen hätte sein sollen. Der Westen, durch das Königreich Hannover
von der Hauptmasse der Monarchie getrennt, führte noch ein ziemlich ge¬
sondertes Dasein; nur für die alten Provinzen war Berlin recht eigentlich
die Kapitale. War auch schon damals die Fluktuation der Bevölkerung, be¬
sonders in den untern Schichten, nicht gering, so gab es doch ein Alt-
berlinertum, das dem Leben dieser Landeshauptstadt seinen unverkennbaren
Stempel aufdrückte. Erst mit der Erweiterung des Staates im Jahre 1866
und alsbald darauf mit der Errichtung des neuen Deutschen Reiches begann
jene Überflutung mit Zuzüglern, die den Volks- und Gesellschaftskörper
Berlins von Grund aus umgestalten sollte.

Ganz besonders das Leben des höhern Bürgertums ist von diesem Umwand¬
lungsprozeß ergriffen worden. Man kaun sich einen größern Unterschied nicht
denken, als den zwischen dem Berliner Diner von vor fünfzig Jahren und
von hente. In jener guten alten Zeit lud man bescheiden "zu einem Teller
Suppe", und die Gäste waren reichlich zufrieden mit ein paar Gängen, die
über das Sonntagsmahl eines guten Bürgerhauses uicht weit hinausgingen.
Heute strotzen die im elektrischen Lichte prangenden und mit den köstlichsten
Blumen bestreuten Tafeln von den auserlesensten Leckerbissen aller Zonen,
und ganze Batterien feingeschliffner Gläser füllen sich mit den edelsten Marken
des deutschen und des französischen Weinbaues. Seinen Anfang nahm dieser
Luxus in der sogenannten Gründerzeit der ersten Hälfte der siebziger Jahre.
Jus Maßlose übertrieben, wie sich der wirtschaftliche Unternehmungsgeist in
dem siegestrunknen jungen Reiche darstellte, waren anch die gesellschaftlichen
Genüsse. In den Hof- und Beamtenkreisen spottete man wohl über die
geschmacklosen Manieren des plötzlich reich gewordnen Parvenus; aber ehe
man es sich versah, wurde man selbst von dem übermütigen Strudel mit fort¬
gerissen, und die ans Spartanische streifenden altpreußischen Sitten wurden vou
ihm verschlungen. Der Rückschlag nach dem Zusammenbruch der Gründerzeit
dauerte uicht lange genug, als daß er auch das Niveau des gesellschaftlichen
Aufwands wieder hätte herabziehen können. Ein neuer wirtschaftlicher Auf¬
schwung auf gesunderer Grundlage hob an und steigerte sich allmählich zu
ungeahnter Höhe. In den führenden Kreisen des Wirtschaftsgetriebes häuften
sich nie gekannte Reichtümer, und entsprechend gestaltete sich in ihnen das
Wohlleben. Und diese Kreise wurden tonangebend für alle, anch für die, die
an dem Reicherwerden der Nation nur sehr mittelbar und bescheiden teil¬
nahmen. Adel, Beamtentum, Gelehrtentum und Künstlerschaft -- niemand
wollte hinter der Bourgeoisie zurückstehn. Und das ansteckende Beispiel wirkte
weiter fort nach unten, durch alle Klassen, bis in das Proletariat. Mehr
oder weniger gewöhnte man sich daran, über die Verhältnisse hinaus zu leben,
mit Seufzen und Murren vielleicht, aber ohne den Entschluß, ohne die Fähig¬
keit, dem furchtbaren Zwange der allgemeinen Genußsucht zu widerstehn.


Für die Reichshauptstadt

Berlin nicht einmal in vollem Maße das, was es als Hauptstadt des Groß-
staatcs Preußen hätte sein sollen. Der Westen, durch das Königreich Hannover
von der Hauptmasse der Monarchie getrennt, führte noch ein ziemlich ge¬
sondertes Dasein; nur für die alten Provinzen war Berlin recht eigentlich
die Kapitale. War auch schon damals die Fluktuation der Bevölkerung, be¬
sonders in den untern Schichten, nicht gering, so gab es doch ein Alt-
berlinertum, das dem Leben dieser Landeshauptstadt seinen unverkennbaren
Stempel aufdrückte. Erst mit der Erweiterung des Staates im Jahre 1866
und alsbald darauf mit der Errichtung des neuen Deutschen Reiches begann
jene Überflutung mit Zuzüglern, die den Volks- und Gesellschaftskörper
Berlins von Grund aus umgestalten sollte.

Ganz besonders das Leben des höhern Bürgertums ist von diesem Umwand¬
lungsprozeß ergriffen worden. Man kaun sich einen größern Unterschied nicht
denken, als den zwischen dem Berliner Diner von vor fünfzig Jahren und
von hente. In jener guten alten Zeit lud man bescheiden „zu einem Teller
Suppe", und die Gäste waren reichlich zufrieden mit ein paar Gängen, die
über das Sonntagsmahl eines guten Bürgerhauses uicht weit hinausgingen.
Heute strotzen die im elektrischen Lichte prangenden und mit den köstlichsten
Blumen bestreuten Tafeln von den auserlesensten Leckerbissen aller Zonen,
und ganze Batterien feingeschliffner Gläser füllen sich mit den edelsten Marken
des deutschen und des französischen Weinbaues. Seinen Anfang nahm dieser
Luxus in der sogenannten Gründerzeit der ersten Hälfte der siebziger Jahre.
Jus Maßlose übertrieben, wie sich der wirtschaftliche Unternehmungsgeist in
dem siegestrunknen jungen Reiche darstellte, waren anch die gesellschaftlichen
Genüsse. In den Hof- und Beamtenkreisen spottete man wohl über die
geschmacklosen Manieren des plötzlich reich gewordnen Parvenus; aber ehe
man es sich versah, wurde man selbst von dem übermütigen Strudel mit fort¬
gerissen, und die ans Spartanische streifenden altpreußischen Sitten wurden vou
ihm verschlungen. Der Rückschlag nach dem Zusammenbruch der Gründerzeit
dauerte uicht lange genug, als daß er auch das Niveau des gesellschaftlichen
Aufwands wieder hätte herabziehen können. Ein neuer wirtschaftlicher Auf¬
schwung auf gesunderer Grundlage hob an und steigerte sich allmählich zu
ungeahnter Höhe. In den führenden Kreisen des Wirtschaftsgetriebes häuften
sich nie gekannte Reichtümer, und entsprechend gestaltete sich in ihnen das
Wohlleben. Und diese Kreise wurden tonangebend für alle, anch für die, die
an dem Reicherwerden der Nation nur sehr mittelbar und bescheiden teil¬
nahmen. Adel, Beamtentum, Gelehrtentum und Künstlerschaft — niemand
wollte hinter der Bourgeoisie zurückstehn. Und das ansteckende Beispiel wirkte
weiter fort nach unten, durch alle Klassen, bis in das Proletariat. Mehr
oder weniger gewöhnte man sich daran, über die Verhältnisse hinaus zu leben,
mit Seufzen und Murren vielleicht, aber ohne den Entschluß, ohne die Fähig¬
keit, dem furchtbaren Zwange der allgemeinen Genußsucht zu widerstehn.


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[0235] Für die Reichshauptstadt Berlin nicht einmal in vollem Maße das, was es als Hauptstadt des Groß- staatcs Preußen hätte sein sollen. Der Westen, durch das Königreich Hannover von der Hauptmasse der Monarchie getrennt, führte noch ein ziemlich ge¬ sondertes Dasein; nur für die alten Provinzen war Berlin recht eigentlich die Kapitale. War auch schon damals die Fluktuation der Bevölkerung, be¬ sonders in den untern Schichten, nicht gering, so gab es doch ein Alt- berlinertum, das dem Leben dieser Landeshauptstadt seinen unverkennbaren Stempel aufdrückte. Erst mit der Erweiterung des Staates im Jahre 1866 und alsbald darauf mit der Errichtung des neuen Deutschen Reiches begann jene Überflutung mit Zuzüglern, die den Volks- und Gesellschaftskörper Berlins von Grund aus umgestalten sollte. Ganz besonders das Leben des höhern Bürgertums ist von diesem Umwand¬ lungsprozeß ergriffen worden. Man kaun sich einen größern Unterschied nicht denken, als den zwischen dem Berliner Diner von vor fünfzig Jahren und von hente. In jener guten alten Zeit lud man bescheiden „zu einem Teller Suppe", und die Gäste waren reichlich zufrieden mit ein paar Gängen, die über das Sonntagsmahl eines guten Bürgerhauses uicht weit hinausgingen. Heute strotzen die im elektrischen Lichte prangenden und mit den köstlichsten Blumen bestreuten Tafeln von den auserlesensten Leckerbissen aller Zonen, und ganze Batterien feingeschliffner Gläser füllen sich mit den edelsten Marken des deutschen und des französischen Weinbaues. Seinen Anfang nahm dieser Luxus in der sogenannten Gründerzeit der ersten Hälfte der siebziger Jahre. Jus Maßlose übertrieben, wie sich der wirtschaftliche Unternehmungsgeist in dem siegestrunknen jungen Reiche darstellte, waren anch die gesellschaftlichen Genüsse. In den Hof- und Beamtenkreisen spottete man wohl über die geschmacklosen Manieren des plötzlich reich gewordnen Parvenus; aber ehe man es sich versah, wurde man selbst von dem übermütigen Strudel mit fort¬ gerissen, und die ans Spartanische streifenden altpreußischen Sitten wurden vou ihm verschlungen. Der Rückschlag nach dem Zusammenbruch der Gründerzeit dauerte uicht lange genug, als daß er auch das Niveau des gesellschaftlichen Aufwands wieder hätte herabziehen können. Ein neuer wirtschaftlicher Auf¬ schwung auf gesunderer Grundlage hob an und steigerte sich allmählich zu ungeahnter Höhe. In den führenden Kreisen des Wirtschaftsgetriebes häuften sich nie gekannte Reichtümer, und entsprechend gestaltete sich in ihnen das Wohlleben. Und diese Kreise wurden tonangebend für alle, anch für die, die an dem Reicherwerden der Nation nur sehr mittelbar und bescheiden teil¬ nahmen. Adel, Beamtentum, Gelehrtentum und Künstlerschaft — niemand wollte hinter der Bourgeoisie zurückstehn. Und das ansteckende Beispiel wirkte weiter fort nach unten, durch alle Klassen, bis in das Proletariat. Mehr oder weniger gewöhnte man sich daran, über die Verhältnisse hinaus zu leben, mit Seufzen und Murren vielleicht, aber ohne den Entschluß, ohne die Fähig¬ keit, dem furchtbaren Zwange der allgemeinen Genußsucht zu widerstehn.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/235>, abgerufen am 06.02.2025.