Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Für die Reichshauptstadt Die lauteste Klage aber bleibt die über das zügellose Straßentreiben in Immerhin -- das sei ohne weiteres zugegeben -- ist ein Nachtbild wie Wo stecken eigentlich die richtigen, die bodenständigen Berliner? Auch Für die Reichshauptstadt Die lauteste Klage aber bleibt die über das zügellose Straßentreiben in Immerhin — das sei ohne weiteres zugegeben — ist ein Nachtbild wie Wo stecken eigentlich die richtigen, die bodenständigen Berliner? Auch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0234" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302222"/> <fw type="header" place="top"> Für die Reichshauptstadt</fw><lb/> <p xml:id="ID_1043"> Die lauteste Klage aber bleibt die über das zügellose Straßentreiben in<lb/> den Nachtstunden. Für den der Berliner Verhältnisse Unkundigen sei bemerkt,<lb/> daß sich dieses Treiben fast ausschließlich auf eine einzige der Hauptverkehrs¬<lb/> adern, die Friedrichstraße beschränkt. Da in ihr und ihrer nächsten Umgebung<lb/> die meistbesuchten Restaurants zusammengedrängt sind, so ist ein lebhaftes<lb/> Kommen und Gehen der Menschen bis tief in die Nacht hinein selbstverständlich.<lb/> Zu den notgedrungnen Passanten aber gesellen sich solche, denen es Vergnügen<lb/> macht, auf dem hell erleuchteten Asphalt zu flanieren. Dazwischen mischen sich<lb/> nicht wenige Exemplare der Spezies Vvnns vulUvg,AÄ. So entsteht ein zu¬<lb/> weilen beängstigendes Gewühl, dem jedoch — von seltnen Ausnahmen ab¬<lb/> gesehen — weder lärmendes Treiben noch grobe Anstößigkeiten nachgesagt werden<lb/> können. Schon die Ruhe des nordischen Charakters wirkt mäßigend.</p><lb/> <p xml:id="ID_1044"> Immerhin — das sei ohne weiteres zugegeben — ist ein Nachtbild wie<lb/> das der Friedrichstraße etwas außergewöhnliches und für feinere Naturen ab¬<lb/> stoßendes. Aber wem verdanken wir es? Den wirklichen Berlinern wahrlich<lb/> nicht. Soweit sie in ihm überhaupt vertreten sind, gehen sie ruhig ihres Weges.<lb/> Die recht eigentlich maßgebenden „Faktoren" sind die Fremden, zum kleinern<lb/> Teile Ausländer, zum weitaus größern brave Landsleute aus allen Teilen des<lb/> Deutschen Reichs, die sich zu geschäftlichen oder beruflichen Zwecken oder zum<lb/> Vergnügen kürzere oder längere Zeit in Berlin aufhalten und sich bei dieser<lb/> Gelegenheit einmal austoben wollen. Sage man nicht, daß sie die Verführten<lb/> seien! Umgekehrt, ihnen selber unbewußt schaffen sie erst die Situation, in der<lb/> Spekulanten aller Art ihren Wünschen, ihrem Vergnügungsbedürfnis entgegen¬<lb/> kommen können. Wollt ihr also den „Berliner Sumpf" verdammen, so haltet<lb/> euch zunächst nicht an die einheimische Bevölkerung der Reichshauptstadt,<lb/> sondern an die biedern Provinzialen, die um die mitternächtliche Stunde die<lb/> Friedrichstraße bevölkern! Sie sind es, die die Herren Sittenrichter für „die<lb/> Berliner" ansehen.</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p xml:id="ID_1045" next="#ID_1046"> Wo stecken eigentlich die richtigen, die bodenständigen Berliner? Auch<lb/> der fleißigste Gesellschaftsmensch, der allwöchentlich vier, fünf Einladungen<lb/> zum Mittagessen ungestraft zu überwinden vermag, wird, wenn er am Schluß<lb/> der Saison die Summe zieht, schwerlich ein volles Hundert geborner Berliner<lb/> zu nennen wissen, mit denen er an all den dichtbesetzten Tafeln zusammen¬<lb/> getroffen ist. Im Beamtentum, in der Großindustrie, in der höhern Kauf¬<lb/> mannschaft, in Wissenschaft und Kunst — überall überwiegt stark das von<lb/> außen zugezogne Element. Dasselbe ist der Fall in den untersten Schichten<lb/> der Bevölkerung. Am ersten dürfte im Mittelstände, wenigstens im Handwerk,<lb/> das antochthone Berlinertum verhältnismüßig zahlreich vertreten sein. In<lb/> diesen Zustand des Zurnckgedrängtseins ist es erst im Laufe der Zeit geraten.<lb/> Bis zu der mit dem Jahre 1866 begonnenen gewaltigen Wandlung war</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0234]
Für die Reichshauptstadt
Die lauteste Klage aber bleibt die über das zügellose Straßentreiben in
den Nachtstunden. Für den der Berliner Verhältnisse Unkundigen sei bemerkt,
daß sich dieses Treiben fast ausschließlich auf eine einzige der Hauptverkehrs¬
adern, die Friedrichstraße beschränkt. Da in ihr und ihrer nächsten Umgebung
die meistbesuchten Restaurants zusammengedrängt sind, so ist ein lebhaftes
Kommen und Gehen der Menschen bis tief in die Nacht hinein selbstverständlich.
Zu den notgedrungnen Passanten aber gesellen sich solche, denen es Vergnügen
macht, auf dem hell erleuchteten Asphalt zu flanieren. Dazwischen mischen sich
nicht wenige Exemplare der Spezies Vvnns vulUvg,AÄ. So entsteht ein zu¬
weilen beängstigendes Gewühl, dem jedoch — von seltnen Ausnahmen ab¬
gesehen — weder lärmendes Treiben noch grobe Anstößigkeiten nachgesagt werden
können. Schon die Ruhe des nordischen Charakters wirkt mäßigend.
Immerhin — das sei ohne weiteres zugegeben — ist ein Nachtbild wie
das der Friedrichstraße etwas außergewöhnliches und für feinere Naturen ab¬
stoßendes. Aber wem verdanken wir es? Den wirklichen Berlinern wahrlich
nicht. Soweit sie in ihm überhaupt vertreten sind, gehen sie ruhig ihres Weges.
Die recht eigentlich maßgebenden „Faktoren" sind die Fremden, zum kleinern
Teile Ausländer, zum weitaus größern brave Landsleute aus allen Teilen des
Deutschen Reichs, die sich zu geschäftlichen oder beruflichen Zwecken oder zum
Vergnügen kürzere oder längere Zeit in Berlin aufhalten und sich bei dieser
Gelegenheit einmal austoben wollen. Sage man nicht, daß sie die Verführten
seien! Umgekehrt, ihnen selber unbewußt schaffen sie erst die Situation, in der
Spekulanten aller Art ihren Wünschen, ihrem Vergnügungsbedürfnis entgegen¬
kommen können. Wollt ihr also den „Berliner Sumpf" verdammen, so haltet
euch zunächst nicht an die einheimische Bevölkerung der Reichshauptstadt,
sondern an die biedern Provinzialen, die um die mitternächtliche Stunde die
Friedrichstraße bevölkern! Sie sind es, die die Herren Sittenrichter für „die
Berliner" ansehen.
Wo stecken eigentlich die richtigen, die bodenständigen Berliner? Auch
der fleißigste Gesellschaftsmensch, der allwöchentlich vier, fünf Einladungen
zum Mittagessen ungestraft zu überwinden vermag, wird, wenn er am Schluß
der Saison die Summe zieht, schwerlich ein volles Hundert geborner Berliner
zu nennen wissen, mit denen er an all den dichtbesetzten Tafeln zusammen¬
getroffen ist. Im Beamtentum, in der Großindustrie, in der höhern Kauf¬
mannschaft, in Wissenschaft und Kunst — überall überwiegt stark das von
außen zugezogne Element. Dasselbe ist der Fall in den untersten Schichten
der Bevölkerung. Am ersten dürfte im Mittelstände, wenigstens im Handwerk,
das antochthone Berlinertum verhältnismüßig zahlreich vertreten sein. In
diesen Zustand des Zurnckgedrängtseins ist es erst im Laufe der Zeit geraten.
Bis zu der mit dem Jahre 1866 begonnenen gewaltigen Wandlung war
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