Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Alte und neue Pagen

dem Vierten 13 Kammer-, 3 Jagd- und 24 Silberpagen gab. So schlimm
wie in Samt-Germain und Fontainebleau trieben es in Dresden die
jungen Herren zwar nicht, daß aber auch sie keine Musterknaben waren,
kann man sich denken, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die jüngsten
von ihnen schon mit dreizehn Jahren in manchen Stücken eine ähnliche
Freiheit genossen wie bei uns heutzutage ein Student. Einige Stellen der
von Meschwitz zitierten Verordnungen deuten denn auch in der Tat darauf
hin, daß man die jungen Leute weder mit Lernen noch mit körperlicher Aus¬
bildung noch mit strenger Disziplin überlastete. "Damit -- läßt Kurfürst
Johann Georg der Erste schreiben -- die Edelknaben, die wir Unserm ge¬
liebten Sohn zuordnen möchten, nicht wie das dumme Vieh aufwachsen, noch
die Zeit mit Müßiggang vergeblich zubringen, soll der Präzeptor ihnen in
guten Historien deu Tag über etwas zu lesen fürgeben ..." -- auch sollten
die Pagen einer andern Verordnung zufolge künftig fleißig in die Kirche
gehn und sich des Lesens schlechter Fabelbücher und aller Leichtfertigkeit ent¬
halten. Bei den Exerzitien, sagt Meschwitz, wurde besondres Gewicht auf die
Pflege des Ballspiels gelegt. Jeder eintretende Page sollte auf dieses Spiel
hingewiesen, und es sollte dafür gesorgt werden, daß die Pagen gegen Ball¬
meister, Marqueur und Balljungen höflich wären und sich im Ballhause des
Karten- und Würfelspiels enthielten. Für jeden Leser ein so plastischer
Zug, daß man mit einemmal das ganze patriarchalische Getriebe vor Augen
zu haben glaubt. Bei Tisch -- die Pagen wurden damals noch gemein¬
schaftlich aus der Hofküche beköstigt -- sollten die Großen den Kleinen nicht
alles wegessen, und auf die Pagenjungen, eine kleine Höllenbrut, die eigentlich
zur Bedienung der Pagen da waren, aber im Schloß allerhand Unfug ver¬
übten und zum Beispiel das Zinngeschirr zerschmolzen hatten, sollte scharf
Obacht gegeben werden.

Nach einer weitern Zeit, in der es ein wenig drüber und drunter Herge¬
gaugen zu sein scheint, da die jungen Leute nicht bloß in vereinzelten Bürger¬
quartieren wohnten, sondern auch der eine hier, der andre dort in Wirts¬
häusern ihre Mahlzeiten einnahmen, kam es 1724 zur Kaserniernng, der
Ultimi rg,die> in allen Füllen, wo es sich darum handelt, flüssige, quecksilbrige
Elemente zusammenzuhalten und zu disziplinieren. Ani sich einen Begriff zu
machen, wieviel Nachsicht bisher von selten der allerhöchsten und höchsten
Herrschaften und wieviel guter Wille von feiten der bei ihnen zur Aufwartung
bestimmten Edelknaben dazu gehört hatte, daß die Sache noch soso, "beim
mittelsten Fenster" gegangen war, braucht man sich nur vorzustellen, man habe
einen do^, der auswärts wohnend und auswärts essend, zum Überfluß auch noch
ein Gymnasium besuche. Wenn man ihn braucht, wenn man ihn in die Stadt
schicken will, ist er nicht da; dunkle Gerüchte von Bacchanalien, die eine Herde
boys in einem verrufnen Keller abgehalten habe, von geprügelten Nachtwandlern,
abgerissenen Klingelzügen, umgehängten Schildern kommen einem täglich zu


Alte und neue Pagen

dem Vierten 13 Kammer-, 3 Jagd- und 24 Silberpagen gab. So schlimm
wie in Samt-Germain und Fontainebleau trieben es in Dresden die
jungen Herren zwar nicht, daß aber auch sie keine Musterknaben waren,
kann man sich denken, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die jüngsten
von ihnen schon mit dreizehn Jahren in manchen Stücken eine ähnliche
Freiheit genossen wie bei uns heutzutage ein Student. Einige Stellen der
von Meschwitz zitierten Verordnungen deuten denn auch in der Tat darauf
hin, daß man die jungen Leute weder mit Lernen noch mit körperlicher Aus¬
bildung noch mit strenger Disziplin überlastete. „Damit — läßt Kurfürst
Johann Georg der Erste schreiben — die Edelknaben, die wir Unserm ge¬
liebten Sohn zuordnen möchten, nicht wie das dumme Vieh aufwachsen, noch
die Zeit mit Müßiggang vergeblich zubringen, soll der Präzeptor ihnen in
guten Historien deu Tag über etwas zu lesen fürgeben ..." — auch sollten
die Pagen einer andern Verordnung zufolge künftig fleißig in die Kirche
gehn und sich des Lesens schlechter Fabelbücher und aller Leichtfertigkeit ent¬
halten. Bei den Exerzitien, sagt Meschwitz, wurde besondres Gewicht auf die
Pflege des Ballspiels gelegt. Jeder eintretende Page sollte auf dieses Spiel
hingewiesen, und es sollte dafür gesorgt werden, daß die Pagen gegen Ball¬
meister, Marqueur und Balljungen höflich wären und sich im Ballhause des
Karten- und Würfelspiels enthielten. Für jeden Leser ein so plastischer
Zug, daß man mit einemmal das ganze patriarchalische Getriebe vor Augen
zu haben glaubt. Bei Tisch — die Pagen wurden damals noch gemein¬
schaftlich aus der Hofküche beköstigt — sollten die Großen den Kleinen nicht
alles wegessen, und auf die Pagenjungen, eine kleine Höllenbrut, die eigentlich
zur Bedienung der Pagen da waren, aber im Schloß allerhand Unfug ver¬
übten und zum Beispiel das Zinngeschirr zerschmolzen hatten, sollte scharf
Obacht gegeben werden.

Nach einer weitern Zeit, in der es ein wenig drüber und drunter Herge¬
gaugen zu sein scheint, da die jungen Leute nicht bloß in vereinzelten Bürger¬
quartieren wohnten, sondern auch der eine hier, der andre dort in Wirts¬
häusern ihre Mahlzeiten einnahmen, kam es 1724 zur Kaserniernng, der
Ultimi rg,die> in allen Füllen, wo es sich darum handelt, flüssige, quecksilbrige
Elemente zusammenzuhalten und zu disziplinieren. Ani sich einen Begriff zu
machen, wieviel Nachsicht bisher von selten der allerhöchsten und höchsten
Herrschaften und wieviel guter Wille von feiten der bei ihnen zur Aufwartung
bestimmten Edelknaben dazu gehört hatte, daß die Sache noch soso, „beim
mittelsten Fenster" gegangen war, braucht man sich nur vorzustellen, man habe
einen do^, der auswärts wohnend und auswärts essend, zum Überfluß auch noch
ein Gymnasium besuche. Wenn man ihn braucht, wenn man ihn in die Stadt
schicken will, ist er nicht da; dunkle Gerüchte von Bacchanalien, die eine Herde
boys in einem verrufnen Keller abgehalten habe, von geprügelten Nachtwandlern,
abgerissenen Klingelzügen, umgehängten Schildern kommen einem täglich zu


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0198" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302186"/>
          <fw type="header" place="top"> Alte und neue Pagen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_893" prev="#ID_892"> dem Vierten 13 Kammer-, 3 Jagd- und 24 Silberpagen gab. So schlimm<lb/>
wie in Samt-Germain und Fontainebleau trieben es in Dresden die<lb/>
jungen Herren zwar nicht, daß aber auch sie keine Musterknaben waren,<lb/>
kann man sich denken, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die jüngsten<lb/>
von ihnen schon mit dreizehn Jahren in manchen Stücken eine ähnliche<lb/>
Freiheit genossen wie bei uns heutzutage ein Student. Einige Stellen der<lb/>
von Meschwitz zitierten Verordnungen deuten denn auch in der Tat darauf<lb/>
hin, daß man die jungen Leute weder mit Lernen noch mit körperlicher Aus¬<lb/>
bildung noch mit strenger Disziplin überlastete. &#x201E;Damit &#x2014; läßt Kurfürst<lb/>
Johann Georg der Erste schreiben &#x2014; die Edelknaben, die wir Unserm ge¬<lb/>
liebten Sohn zuordnen möchten, nicht wie das dumme Vieh aufwachsen, noch<lb/>
die Zeit mit Müßiggang vergeblich zubringen, soll der Präzeptor ihnen in<lb/>
guten Historien deu Tag über etwas zu lesen fürgeben ..." &#x2014; auch sollten<lb/>
die Pagen einer andern Verordnung zufolge künftig fleißig in die Kirche<lb/>
gehn und sich des Lesens schlechter Fabelbücher und aller Leichtfertigkeit ent¬<lb/>
halten. Bei den Exerzitien, sagt Meschwitz, wurde besondres Gewicht auf die<lb/>
Pflege des Ballspiels gelegt. Jeder eintretende Page sollte auf dieses Spiel<lb/>
hingewiesen, und es sollte dafür gesorgt werden, daß die Pagen gegen Ball¬<lb/>
meister, Marqueur und Balljungen höflich wären und sich im Ballhause des<lb/>
Karten- und Würfelspiels enthielten. Für jeden Leser ein so plastischer<lb/>
Zug, daß man mit einemmal das ganze patriarchalische Getriebe vor Augen<lb/>
zu haben glaubt. Bei Tisch &#x2014; die Pagen wurden damals noch gemein¬<lb/>
schaftlich aus der Hofküche beköstigt &#x2014; sollten die Großen den Kleinen nicht<lb/>
alles wegessen, und auf die Pagenjungen, eine kleine Höllenbrut, die eigentlich<lb/>
zur Bedienung der Pagen da waren, aber im Schloß allerhand Unfug ver¬<lb/>
übten und zum Beispiel das Zinngeschirr zerschmolzen hatten, sollte scharf<lb/>
Obacht gegeben werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_894" next="#ID_895"> Nach einer weitern Zeit, in der es ein wenig drüber und drunter Herge¬<lb/>
gaugen zu sein scheint, da die jungen Leute nicht bloß in vereinzelten Bürger¬<lb/>
quartieren wohnten, sondern auch der eine hier, der andre dort in Wirts¬<lb/>
häusern ihre Mahlzeiten einnahmen, kam es 1724 zur Kaserniernng, der<lb/>
Ultimi rg,die&gt; in allen Füllen, wo es sich darum handelt, flüssige, quecksilbrige<lb/>
Elemente zusammenzuhalten und zu disziplinieren. Ani sich einen Begriff zu<lb/>
machen, wieviel Nachsicht bisher von selten der allerhöchsten und höchsten<lb/>
Herrschaften und wieviel guter Wille von feiten der bei ihnen zur Aufwartung<lb/>
bestimmten Edelknaben dazu gehört hatte, daß die Sache noch soso, &#x201E;beim<lb/>
mittelsten Fenster" gegangen war, braucht man sich nur vorzustellen, man habe<lb/>
einen do^, der auswärts wohnend und auswärts essend, zum Überfluß auch noch<lb/>
ein Gymnasium besuche. Wenn man ihn braucht, wenn man ihn in die Stadt<lb/>
schicken will, ist er nicht da; dunkle Gerüchte von Bacchanalien, die eine Herde<lb/>
boys in einem verrufnen Keller abgehalten habe, von geprügelten Nachtwandlern,<lb/>
abgerissenen Klingelzügen, umgehängten Schildern kommen einem täglich zu</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0198] Alte und neue Pagen dem Vierten 13 Kammer-, 3 Jagd- und 24 Silberpagen gab. So schlimm wie in Samt-Germain und Fontainebleau trieben es in Dresden die jungen Herren zwar nicht, daß aber auch sie keine Musterknaben waren, kann man sich denken, wenn man sich vergegenwärtigt, daß die jüngsten von ihnen schon mit dreizehn Jahren in manchen Stücken eine ähnliche Freiheit genossen wie bei uns heutzutage ein Student. Einige Stellen der von Meschwitz zitierten Verordnungen deuten denn auch in der Tat darauf hin, daß man die jungen Leute weder mit Lernen noch mit körperlicher Aus¬ bildung noch mit strenger Disziplin überlastete. „Damit — läßt Kurfürst Johann Georg der Erste schreiben — die Edelknaben, die wir Unserm ge¬ liebten Sohn zuordnen möchten, nicht wie das dumme Vieh aufwachsen, noch die Zeit mit Müßiggang vergeblich zubringen, soll der Präzeptor ihnen in guten Historien deu Tag über etwas zu lesen fürgeben ..." — auch sollten die Pagen einer andern Verordnung zufolge künftig fleißig in die Kirche gehn und sich des Lesens schlechter Fabelbücher und aller Leichtfertigkeit ent¬ halten. Bei den Exerzitien, sagt Meschwitz, wurde besondres Gewicht auf die Pflege des Ballspiels gelegt. Jeder eintretende Page sollte auf dieses Spiel hingewiesen, und es sollte dafür gesorgt werden, daß die Pagen gegen Ball¬ meister, Marqueur und Balljungen höflich wären und sich im Ballhause des Karten- und Würfelspiels enthielten. Für jeden Leser ein so plastischer Zug, daß man mit einemmal das ganze patriarchalische Getriebe vor Augen zu haben glaubt. Bei Tisch — die Pagen wurden damals noch gemein¬ schaftlich aus der Hofküche beköstigt — sollten die Großen den Kleinen nicht alles wegessen, und auf die Pagenjungen, eine kleine Höllenbrut, die eigentlich zur Bedienung der Pagen da waren, aber im Schloß allerhand Unfug ver¬ übten und zum Beispiel das Zinngeschirr zerschmolzen hatten, sollte scharf Obacht gegeben werden. Nach einer weitern Zeit, in der es ein wenig drüber und drunter Herge¬ gaugen zu sein scheint, da die jungen Leute nicht bloß in vereinzelten Bürger¬ quartieren wohnten, sondern auch der eine hier, der andre dort in Wirts¬ häusern ihre Mahlzeiten einnahmen, kam es 1724 zur Kaserniernng, der Ultimi rg,die> in allen Füllen, wo es sich darum handelt, flüssige, quecksilbrige Elemente zusammenzuhalten und zu disziplinieren. Ani sich einen Begriff zu machen, wieviel Nachsicht bisher von selten der allerhöchsten und höchsten Herrschaften und wieviel guter Wille von feiten der bei ihnen zur Aufwartung bestimmten Edelknaben dazu gehört hatte, daß die Sache noch soso, „beim mittelsten Fenster" gegangen war, braucht man sich nur vorzustellen, man habe einen do^, der auswärts wohnend und auswärts essend, zum Überfluß auch noch ein Gymnasium besuche. Wenn man ihn braucht, wenn man ihn in die Stadt schicken will, ist er nicht da; dunkle Gerüchte von Bacchanalien, die eine Herde boys in einem verrufnen Keller abgehalten habe, von geprügelten Nachtwandlern, abgerissenen Klingelzügen, umgehängten Schildern kommen einem täglich zu

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/198
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/198>, abgerufen am 06.02.2025.