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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Luftreisen

von den weißen Hochflächen, in die sie einschneiden, und lassen die feinen Ver¬
ästelungen der Talgründe erkennen, ein Niesenrelief von wunderbarer Schönheit.
Und jetzt, 2 Uhr 15 Minuten im Südosten eine ansehnliche Stadt zu beiden
Ufern des Stromes, die durch zwei Brücken verbunden sind. Eine schnurgerade
Straße führt von ihr ostwärts über weite Schneefelder nach großen, ziemlich
steil, wenn auch nicht hoch sich erhebenden Waldungen, aus denen kleine Seen
hervorschauen. Der Wind treibt uns gerade auf die Stadt zu. Eine zweigipflige
Akropolis tritt aus ihr hervor: links, von hohen Gebäuden umgeben ein noch
höheres seltsames dunkles Rechteck, rechts ein niedrigeres langgestrecktes Helles
Gebäude, scheinbar ohne Dach.

Ein größerer Jubel ist kaum je aus einem Ballonkorb in die Atmosphäre
erklungen als bei dieser Wahrnehmung. Denn nun mit einemmal ist alles
klar, das dunkle Rechteck ist das wettergeschwärzte Domgerüst über der Albrechts¬
burg, das helle dachlose Gebäude die Fürsten- und Landesschule Se. Afra, die
Stadt zu ihren Füßen Meißen. Im Geiste steigen die ehrwürdigen Gestalten
meiner hochgelehrten Vorgänger im Rektorate aus dem ersten Jahrhundert der
Schulgeschichte von Vulpius und Fabricius an vor mir auf, sie schütteln be¬
denklich das Haupt, daß ihr Nachfolger es wagt, zwei ehemalige Zöglinge der
Landesschulen, einen Afraner und einen Grimmcnser, auf Faustischem Gefährt
an der geweihten Stätte vorüberzuführen. Nein, grollt ihm nicht und seht
ihn von den Wänden des Synodalzimmers herab künftig nicht noch ernster und
strenger an als bisher schon. Die Zeiten und die Menschen mit ihnen sind andre
geworden. Was hat allein das neunzehnte Jahrhundert uns alles gebracht,
worüber ihr nicht minder staunen würdet. Euch hat auch noch kein oberster
Leiter des Schulwesens die Mahnung zugerufen: "Wir müssen die Fenster weit
aufmachen in dem alten liebgewordnen Gebäude des humanistischen Gymnasiums,
um die frische moderne Luft herein zu lassen." Eins weiß ich gewiß: wäret
ihr jetzt bei mir im Korbe

und mitten darin das euch anvertraute Kleinod, ihr würdet aufjauchzen mit
mir und dann wohl in schwungvollen lateinischen Versen die Güte des All¬
mächtigen preisen, der euch die Gnade dieses Anblicks zuteil werden ließ.

Jede neue Entdeckung wird mit lauter Freude begrüßt. Da ist der "höckrige"
Turm des Domes und der Bischofsturm, dicht bei der Fürstenschule die Afra-
kirche, vor ihnen der große Schulgärten mit seinen beiden Spielplätzen, dort
der Plossen, an dem die Wege des Stadtparkes und der Goldgrund sich empor¬
wirbelt, von der idyllischen, durch Ludwig Richter so bekannt gewordnen
Martinskapelle bis zum Katharincnhofe mit seinem schönen Park, dazwischen
Landhaus an Landhaus, unter ihnen auch das unsers Reisegefährten, des Rechts¬
anwalts Dr. Reichel, der von den Seinen durch langwehende Tücher begrüßt


Luftreisen

von den weißen Hochflächen, in die sie einschneiden, und lassen die feinen Ver¬
ästelungen der Talgründe erkennen, ein Niesenrelief von wunderbarer Schönheit.
Und jetzt, 2 Uhr 15 Minuten im Südosten eine ansehnliche Stadt zu beiden
Ufern des Stromes, die durch zwei Brücken verbunden sind. Eine schnurgerade
Straße führt von ihr ostwärts über weite Schneefelder nach großen, ziemlich
steil, wenn auch nicht hoch sich erhebenden Waldungen, aus denen kleine Seen
hervorschauen. Der Wind treibt uns gerade auf die Stadt zu. Eine zweigipflige
Akropolis tritt aus ihr hervor: links, von hohen Gebäuden umgeben ein noch
höheres seltsames dunkles Rechteck, rechts ein niedrigeres langgestrecktes Helles
Gebäude, scheinbar ohne Dach.

Ein größerer Jubel ist kaum je aus einem Ballonkorb in die Atmosphäre
erklungen als bei dieser Wahrnehmung. Denn nun mit einemmal ist alles
klar, das dunkle Rechteck ist das wettergeschwärzte Domgerüst über der Albrechts¬
burg, das helle dachlose Gebäude die Fürsten- und Landesschule Se. Afra, die
Stadt zu ihren Füßen Meißen. Im Geiste steigen die ehrwürdigen Gestalten
meiner hochgelehrten Vorgänger im Rektorate aus dem ersten Jahrhundert der
Schulgeschichte von Vulpius und Fabricius an vor mir auf, sie schütteln be¬
denklich das Haupt, daß ihr Nachfolger es wagt, zwei ehemalige Zöglinge der
Landesschulen, einen Afraner und einen Grimmcnser, auf Faustischem Gefährt
an der geweihten Stätte vorüberzuführen. Nein, grollt ihm nicht und seht
ihn von den Wänden des Synodalzimmers herab künftig nicht noch ernster und
strenger an als bisher schon. Die Zeiten und die Menschen mit ihnen sind andre
geworden. Was hat allein das neunzehnte Jahrhundert uns alles gebracht,
worüber ihr nicht minder staunen würdet. Euch hat auch noch kein oberster
Leiter des Schulwesens die Mahnung zugerufen: „Wir müssen die Fenster weit
aufmachen in dem alten liebgewordnen Gebäude des humanistischen Gymnasiums,
um die frische moderne Luft herein zu lassen." Eins weiß ich gewiß: wäret
ihr jetzt bei mir im Korbe

und mitten darin das euch anvertraute Kleinod, ihr würdet aufjauchzen mit
mir und dann wohl in schwungvollen lateinischen Versen die Güte des All¬
mächtigen preisen, der euch die Gnade dieses Anblicks zuteil werden ließ.

Jede neue Entdeckung wird mit lauter Freude begrüßt. Da ist der „höckrige"
Turm des Domes und der Bischofsturm, dicht bei der Fürstenschule die Afra-
kirche, vor ihnen der große Schulgärten mit seinen beiden Spielplätzen, dort
der Plossen, an dem die Wege des Stadtparkes und der Goldgrund sich empor¬
wirbelt, von der idyllischen, durch Ludwig Richter so bekannt gewordnen
Martinskapelle bis zum Katharincnhofe mit seinem schönen Park, dazwischen
Landhaus an Landhaus, unter ihnen auch das unsers Reisegefährten, des Rechts¬
anwalts Dr. Reichel, der von den Seinen durch langwehende Tücher begrüßt


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[0150] Luftreisen von den weißen Hochflächen, in die sie einschneiden, und lassen die feinen Ver¬ ästelungen der Talgründe erkennen, ein Niesenrelief von wunderbarer Schönheit. Und jetzt, 2 Uhr 15 Minuten im Südosten eine ansehnliche Stadt zu beiden Ufern des Stromes, die durch zwei Brücken verbunden sind. Eine schnurgerade Straße führt von ihr ostwärts über weite Schneefelder nach großen, ziemlich steil, wenn auch nicht hoch sich erhebenden Waldungen, aus denen kleine Seen hervorschauen. Der Wind treibt uns gerade auf die Stadt zu. Eine zweigipflige Akropolis tritt aus ihr hervor: links, von hohen Gebäuden umgeben ein noch höheres seltsames dunkles Rechteck, rechts ein niedrigeres langgestrecktes Helles Gebäude, scheinbar ohne Dach. Ein größerer Jubel ist kaum je aus einem Ballonkorb in die Atmosphäre erklungen als bei dieser Wahrnehmung. Denn nun mit einemmal ist alles klar, das dunkle Rechteck ist das wettergeschwärzte Domgerüst über der Albrechts¬ burg, das helle dachlose Gebäude die Fürsten- und Landesschule Se. Afra, die Stadt zu ihren Füßen Meißen. Im Geiste steigen die ehrwürdigen Gestalten meiner hochgelehrten Vorgänger im Rektorate aus dem ersten Jahrhundert der Schulgeschichte von Vulpius und Fabricius an vor mir auf, sie schütteln be¬ denklich das Haupt, daß ihr Nachfolger es wagt, zwei ehemalige Zöglinge der Landesschulen, einen Afraner und einen Grimmcnser, auf Faustischem Gefährt an der geweihten Stätte vorüberzuführen. Nein, grollt ihm nicht und seht ihn von den Wänden des Synodalzimmers herab künftig nicht noch ernster und strenger an als bisher schon. Die Zeiten und die Menschen mit ihnen sind andre geworden. Was hat allein das neunzehnte Jahrhundert uns alles gebracht, worüber ihr nicht minder staunen würdet. Euch hat auch noch kein oberster Leiter des Schulwesens die Mahnung zugerufen: „Wir müssen die Fenster weit aufmachen in dem alten liebgewordnen Gebäude des humanistischen Gymnasiums, um die frische moderne Luft herein zu lassen." Eins weiß ich gewiß: wäret ihr jetzt bei mir im Korbe und mitten darin das euch anvertraute Kleinod, ihr würdet aufjauchzen mit mir und dann wohl in schwungvollen lateinischen Versen die Güte des All¬ mächtigen preisen, der euch die Gnade dieses Anblicks zuteil werden ließ. Jede neue Entdeckung wird mit lauter Freude begrüßt. Da ist der „höckrige" Turm des Domes und der Bischofsturm, dicht bei der Fürstenschule die Afra- kirche, vor ihnen der große Schulgärten mit seinen beiden Spielplätzen, dort der Plossen, an dem die Wege des Stadtparkes und der Goldgrund sich empor¬ wirbelt, von der idyllischen, durch Ludwig Richter so bekannt gewordnen Martinskapelle bis zum Katharincnhofe mit seinem schönen Park, dazwischen Landhaus an Landhaus, unter ihnen auch das unsers Reisegefährten, des Rechts¬ anwalts Dr. Reichel, der von den Seinen durch langwehende Tücher begrüßt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/150>, abgerufen am 06.02.2025.