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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Luftreisen

ineinander. Haben wir im allgemeinen die anfängliche Richtung beibehalten, so
müßte der Fluß die Oder sein, die Geschwindigkeit wäre dann allerdings später
wesentlich größer geworden. Aber die Oder sieht anders aus, wir kennen sie
von unserm Fluge nach Rußland, sie ist durch Buhnen, die von beiden Ufern
vorspringen, reguliert, das ist hier nicht der Fall. Auch das Gelände stimmt
nicht, es bietet zu viel Abwechslung, zu viel Höhenunterschiede, und in seiner
Lieblichkeit heimelt es uns eigentümlich an. Sollten wir in der Tat über
sächsischen Fluren schweben, sollte der Fluß die Elbe sein? Aber wie wäre
das möglich? Um neun Uhr schon waren wir an der Elbe, und nun sollten
wirs wieder sein? Wo wären wir dann in der Zwischenzeit gewesen?

Aufs neue tritt flüchtig ein nach Nordosten geöffneter Bogen des Stromes
hervor, eine größere Stadt liegt auf der uns zugewandten Seite, vier Eisen¬
bahnlinien, von denen eine den Fluß überbrückt, treffen bei ihr zusammen.
Immer anmutiger wird die Landschaft, die weiße Schneepackung läßt ihre
schwellenden Formen deutlich hervortreten, flache Kuppen, dicht beieinander,
nur eine davon, die schon weit hinter uns liegt, mit Wald bestanden, viel
kleine Ortschaften dazwischen gestreut. Die Straßen, die sie verbinden, sind,
soweit nicht Baumreihen sie einfassen, kaum wahrnehmbar, alles einfarbig weiß,
und doch ein entzückendes Bild. Die Krümmungen der Wege und leichte Schatten
auf der Schneefläche bestätigen uns, daß es ein Hügelland ist, das wir überfliegen.

Von Norden her vernehmen wir das Geräusch eines Zuges, jetzt kommt
er selbst in unsern Gesichtskreis. Wo er vorüber ist, erkennen wir seine Spur;
vor ihm können wir sie nur ahnen, die Maschine arbeitet sich also mit einem
Schneepflug durch die frisch gefallnen Weißen Massen. An einigen Dörfern
vorüber fährt er nach Süden. Gerade zur rechten Zeit teilen sich auch vor uus
die Wolken und machen den Blick frei auf ein altes Städtchen mit krummen
Gassen, auf dem trapezförmigen Markte steht das Rathaus, auf einem kleinern
Platze daneben eine dreispitzige gotische Kirche; Fabriken und in einiger Ent¬
fernung größere Güter umgeben den Ort, eine Reihe von fünf Schlitten offenbar
mit Sonntagsausflüglern bewegt sich auf der einen Bach begleitenden Land¬
straße nach Osten dem Strome zu. Der Bahnzug windet sich steigend im Bogen
um die Stadt herum, fast scheint es, als wollte er vorüberfahren, erst am
äußersten Südende hält er. Es ist 1 Uhr 50 Minuten, das wird uns mit Hilfe
des Kursbuches den Ort bestimmen lassen. Wir folgen dem Zuge und fliegen
über den Bahnhof hinweg, während die Lokomotive den Zug verläßt und
Güterwagen herbeiholt. Die Bahnhofsgebäude zeichnen wir mit einigen Strichen
ins Notizbuch, um daran einen weitern Anhalt zu besitzen. Nach fünf Minuten
fährt der Zug weiter, immer aufwärts sich quälend, an einer Ortschaft vorüber,
bei der übernächsten hält er zum zweitenmal.

Die Wolken fliehen nach allen Seiten auseinander. Das Flußtal liegt in
weiter Ausdehnung östlich von unsrer Fahrtlinie, kleine Nebentäler senken sich
ihm zu, ihre entlaubten und teilweise schneefreien Bäume heben sie scharf ab


Grenzboten II 1907 19
Luftreisen

ineinander. Haben wir im allgemeinen die anfängliche Richtung beibehalten, so
müßte der Fluß die Oder sein, die Geschwindigkeit wäre dann allerdings später
wesentlich größer geworden. Aber die Oder sieht anders aus, wir kennen sie
von unserm Fluge nach Rußland, sie ist durch Buhnen, die von beiden Ufern
vorspringen, reguliert, das ist hier nicht der Fall. Auch das Gelände stimmt
nicht, es bietet zu viel Abwechslung, zu viel Höhenunterschiede, und in seiner
Lieblichkeit heimelt es uns eigentümlich an. Sollten wir in der Tat über
sächsischen Fluren schweben, sollte der Fluß die Elbe sein? Aber wie wäre
das möglich? Um neun Uhr schon waren wir an der Elbe, und nun sollten
wirs wieder sein? Wo wären wir dann in der Zwischenzeit gewesen?

Aufs neue tritt flüchtig ein nach Nordosten geöffneter Bogen des Stromes
hervor, eine größere Stadt liegt auf der uns zugewandten Seite, vier Eisen¬
bahnlinien, von denen eine den Fluß überbrückt, treffen bei ihr zusammen.
Immer anmutiger wird die Landschaft, die weiße Schneepackung läßt ihre
schwellenden Formen deutlich hervortreten, flache Kuppen, dicht beieinander,
nur eine davon, die schon weit hinter uns liegt, mit Wald bestanden, viel
kleine Ortschaften dazwischen gestreut. Die Straßen, die sie verbinden, sind,
soweit nicht Baumreihen sie einfassen, kaum wahrnehmbar, alles einfarbig weiß,
und doch ein entzückendes Bild. Die Krümmungen der Wege und leichte Schatten
auf der Schneefläche bestätigen uns, daß es ein Hügelland ist, das wir überfliegen.

Von Norden her vernehmen wir das Geräusch eines Zuges, jetzt kommt
er selbst in unsern Gesichtskreis. Wo er vorüber ist, erkennen wir seine Spur;
vor ihm können wir sie nur ahnen, die Maschine arbeitet sich also mit einem
Schneepflug durch die frisch gefallnen Weißen Massen. An einigen Dörfern
vorüber fährt er nach Süden. Gerade zur rechten Zeit teilen sich auch vor uus
die Wolken und machen den Blick frei auf ein altes Städtchen mit krummen
Gassen, auf dem trapezförmigen Markte steht das Rathaus, auf einem kleinern
Platze daneben eine dreispitzige gotische Kirche; Fabriken und in einiger Ent¬
fernung größere Güter umgeben den Ort, eine Reihe von fünf Schlitten offenbar
mit Sonntagsausflüglern bewegt sich auf der einen Bach begleitenden Land¬
straße nach Osten dem Strome zu. Der Bahnzug windet sich steigend im Bogen
um die Stadt herum, fast scheint es, als wollte er vorüberfahren, erst am
äußersten Südende hält er. Es ist 1 Uhr 50 Minuten, das wird uns mit Hilfe
des Kursbuches den Ort bestimmen lassen. Wir folgen dem Zuge und fliegen
über den Bahnhof hinweg, während die Lokomotive den Zug verläßt und
Güterwagen herbeiholt. Die Bahnhofsgebäude zeichnen wir mit einigen Strichen
ins Notizbuch, um daran einen weitern Anhalt zu besitzen. Nach fünf Minuten
fährt der Zug weiter, immer aufwärts sich quälend, an einer Ortschaft vorüber,
bei der übernächsten hält er zum zweitenmal.

Die Wolken fliehen nach allen Seiten auseinander. Das Flußtal liegt in
weiter Ausdehnung östlich von unsrer Fahrtlinie, kleine Nebentäler senken sich
ihm zu, ihre entlaubten und teilweise schneefreien Bäume heben sie scharf ab


Grenzboten II 1907 19
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[0149] Luftreisen ineinander. Haben wir im allgemeinen die anfängliche Richtung beibehalten, so müßte der Fluß die Oder sein, die Geschwindigkeit wäre dann allerdings später wesentlich größer geworden. Aber die Oder sieht anders aus, wir kennen sie von unserm Fluge nach Rußland, sie ist durch Buhnen, die von beiden Ufern vorspringen, reguliert, das ist hier nicht der Fall. Auch das Gelände stimmt nicht, es bietet zu viel Abwechslung, zu viel Höhenunterschiede, und in seiner Lieblichkeit heimelt es uns eigentümlich an. Sollten wir in der Tat über sächsischen Fluren schweben, sollte der Fluß die Elbe sein? Aber wie wäre das möglich? Um neun Uhr schon waren wir an der Elbe, und nun sollten wirs wieder sein? Wo wären wir dann in der Zwischenzeit gewesen? Aufs neue tritt flüchtig ein nach Nordosten geöffneter Bogen des Stromes hervor, eine größere Stadt liegt auf der uns zugewandten Seite, vier Eisen¬ bahnlinien, von denen eine den Fluß überbrückt, treffen bei ihr zusammen. Immer anmutiger wird die Landschaft, die weiße Schneepackung läßt ihre schwellenden Formen deutlich hervortreten, flache Kuppen, dicht beieinander, nur eine davon, die schon weit hinter uns liegt, mit Wald bestanden, viel kleine Ortschaften dazwischen gestreut. Die Straßen, die sie verbinden, sind, soweit nicht Baumreihen sie einfassen, kaum wahrnehmbar, alles einfarbig weiß, und doch ein entzückendes Bild. Die Krümmungen der Wege und leichte Schatten auf der Schneefläche bestätigen uns, daß es ein Hügelland ist, das wir überfliegen. Von Norden her vernehmen wir das Geräusch eines Zuges, jetzt kommt er selbst in unsern Gesichtskreis. Wo er vorüber ist, erkennen wir seine Spur; vor ihm können wir sie nur ahnen, die Maschine arbeitet sich also mit einem Schneepflug durch die frisch gefallnen Weißen Massen. An einigen Dörfern vorüber fährt er nach Süden. Gerade zur rechten Zeit teilen sich auch vor uus die Wolken und machen den Blick frei auf ein altes Städtchen mit krummen Gassen, auf dem trapezförmigen Markte steht das Rathaus, auf einem kleinern Platze daneben eine dreispitzige gotische Kirche; Fabriken und in einiger Ent¬ fernung größere Güter umgeben den Ort, eine Reihe von fünf Schlitten offenbar mit Sonntagsausflüglern bewegt sich auf der einen Bach begleitenden Land¬ straße nach Osten dem Strome zu. Der Bahnzug windet sich steigend im Bogen um die Stadt herum, fast scheint es, als wollte er vorüberfahren, erst am äußersten Südende hält er. Es ist 1 Uhr 50 Minuten, das wird uns mit Hilfe des Kursbuches den Ort bestimmen lassen. Wir folgen dem Zuge und fliegen über den Bahnhof hinweg, während die Lokomotive den Zug verläßt und Güterwagen herbeiholt. Die Bahnhofsgebäude zeichnen wir mit einigen Strichen ins Notizbuch, um daran einen weitern Anhalt zu besitzen. Nach fünf Minuten fährt der Zug weiter, immer aufwärts sich quälend, an einer Ortschaft vorüber, bei der übernächsten hält er zum zweitenmal. Die Wolken fliehen nach allen Seiten auseinander. Das Flußtal liegt in weiter Ausdehnung östlich von unsrer Fahrtlinie, kleine Nebentäler senken sich ihm zu, ihre entlaubten und teilweise schneefreien Bäume heben sie scharf ab Grenzboten II 1907 19

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/149>, abgerufen am 06.02.2025.