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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Äjomas Hardys Napoleonsdrama

einige wichtige Phasen, zu denen England in keiner Beziehung stand, nur
leicht gestreift worden sind.

Das geschah zweifellos ganz unabsichtlich. Hardys Künstlerschaft steht
auf einer Höhe, die über jegliches chauvinistische Parteiergreifen erhaben ist.
Was sich so äußert, ist nur das instinktive Zugehörigkeitsgefühl zu seinem
Lande und im engern Sinne zu seiner Heimat Wessex, die, sobald der Schau¬
platz dorthin verlegt ist, mit sichtbarer Liebe geschildert wird. Aber eben dieser
ihm unbewußt innewohnende Heimatssinn engt zuweilen Hardys Gesichtskreis
mehr ein, als für einen so groß angelegten Plan wünschenswert ist. Eine an
sich gewiß denkwürdige Debatte im Unterhaus in fünffüßige Jamben zu
formen, ist ein höchst undankbares Unternehmen, das den ersten Teil des
Dramas ganz unnötig belastet und im Fortschreiten hemmt.

Auch in der eingehendem Charakteristik der Hauptpersonen wird Hardy
dem Geschichtsforscher nichts neues sagen können, wenn auch sein gewissenhaft
abwägendes Urteil hohe Achtung einflößt. Das Drama ist keine Apotheose
Napoleons. Es betont ebenso die persönliche Tapferkeit des Korsen wie fein
unedelmütiges Verhalten im Verkehr mit den besiegten Fürsten und deutet
gewisse plebejische Nuancen seines Benehmens mehr als einmal an. Seiner
Trennung von Josephine sind mehrere Szenen gewidmet, und auch der Be¬
gegnung mit der Königin Luise zu Tilsit wird ein breiter Raum zugeteilt,
wobei des Dichters warme Sympathie für die unglückliche Fürstin deutlich
durchschimmert. Hier ist es auch, wo Hardy betont, daß Napoleon als einziger
das Walten des höchsten Willens unterscheide, der ihm seine Laufbahn auf¬
zwinge. Bonaparte erwidert auf die Bitten der Königin: "Ich verdiene Ihr
Mitleid. In mir ist etwas, was mich unaufhaltsam vorwärts treibt. Mein
Stern ist für mein Tun verantwortlich, nicht ich!"

Es ist für Hardys Weltanschauung überaus bezeichnend, wie er jener
banalen Redensart die tiefste Bedeutung beimißt, um daran seine Theorie von
der Unfreiheit des menschlichen Willens zu erläutern. Die Erdbewohner wühlten,
in freier Wahl ihren Impulsen zu folgen, und werden doch in jedem Augen¬
blick geleitet und beeinflußt -- nicht etwa von einem persönlichen Gott. Den
Glauben hat Hardy verloren. Auch eine sittliche Weltordnung erscheint ihm
undenkbar. Die irdischen Geschicke lenkt eine blinde, stumme Willenseinheit,
die achtlos das Rad des Weltgetriebes schwingt. Ihre Pläne werden mit
^mein riesigen Spinngewebe verglichen, und der Geist der Jahre macht dem
Genius des Mitleids die feinen Fäden des unzerreißbaren Gespinstes sichtbar,
an die das Tun und Lassen der Sterblichen unwiderruflich gekettet ist. Weit
Zurück ins klassische Altertum greift Hnrdy, um Belege für seine Theorie zu
finden. Er zitiert Sophokles, wie er früher einmal Äschylos zitiert hat, um
zu zeigen, wie auch sie ihren Gottesglauben verloren und an der höchsten
Gerechtigkeit verzweifelten. Doch ebenso wie seine von schneidender Ironie
durchtränkte Erwähnung des "Herrn der Götter" -- ?r<ZLiciiznt- ok tue IinnwitÄls,


Grenzboien II 1907 18
Äjomas Hardys Napoleonsdrama

einige wichtige Phasen, zu denen England in keiner Beziehung stand, nur
leicht gestreift worden sind.

Das geschah zweifellos ganz unabsichtlich. Hardys Künstlerschaft steht
auf einer Höhe, die über jegliches chauvinistische Parteiergreifen erhaben ist.
Was sich so äußert, ist nur das instinktive Zugehörigkeitsgefühl zu seinem
Lande und im engern Sinne zu seiner Heimat Wessex, die, sobald der Schau¬
platz dorthin verlegt ist, mit sichtbarer Liebe geschildert wird. Aber eben dieser
ihm unbewußt innewohnende Heimatssinn engt zuweilen Hardys Gesichtskreis
mehr ein, als für einen so groß angelegten Plan wünschenswert ist. Eine an
sich gewiß denkwürdige Debatte im Unterhaus in fünffüßige Jamben zu
formen, ist ein höchst undankbares Unternehmen, das den ersten Teil des
Dramas ganz unnötig belastet und im Fortschreiten hemmt.

Auch in der eingehendem Charakteristik der Hauptpersonen wird Hardy
dem Geschichtsforscher nichts neues sagen können, wenn auch sein gewissenhaft
abwägendes Urteil hohe Achtung einflößt. Das Drama ist keine Apotheose
Napoleons. Es betont ebenso die persönliche Tapferkeit des Korsen wie fein
unedelmütiges Verhalten im Verkehr mit den besiegten Fürsten und deutet
gewisse plebejische Nuancen seines Benehmens mehr als einmal an. Seiner
Trennung von Josephine sind mehrere Szenen gewidmet, und auch der Be¬
gegnung mit der Königin Luise zu Tilsit wird ein breiter Raum zugeteilt,
wobei des Dichters warme Sympathie für die unglückliche Fürstin deutlich
durchschimmert. Hier ist es auch, wo Hardy betont, daß Napoleon als einziger
das Walten des höchsten Willens unterscheide, der ihm seine Laufbahn auf¬
zwinge. Bonaparte erwidert auf die Bitten der Königin: „Ich verdiene Ihr
Mitleid. In mir ist etwas, was mich unaufhaltsam vorwärts treibt. Mein
Stern ist für mein Tun verantwortlich, nicht ich!"

Es ist für Hardys Weltanschauung überaus bezeichnend, wie er jener
banalen Redensart die tiefste Bedeutung beimißt, um daran seine Theorie von
der Unfreiheit des menschlichen Willens zu erläutern. Die Erdbewohner wühlten,
in freier Wahl ihren Impulsen zu folgen, und werden doch in jedem Augen¬
blick geleitet und beeinflußt — nicht etwa von einem persönlichen Gott. Den
Glauben hat Hardy verloren. Auch eine sittliche Weltordnung erscheint ihm
undenkbar. Die irdischen Geschicke lenkt eine blinde, stumme Willenseinheit,
die achtlos das Rad des Weltgetriebes schwingt. Ihre Pläne werden mit
^mein riesigen Spinngewebe verglichen, und der Geist der Jahre macht dem
Genius des Mitleids die feinen Fäden des unzerreißbaren Gespinstes sichtbar,
an die das Tun und Lassen der Sterblichen unwiderruflich gekettet ist. Weit
Zurück ins klassische Altertum greift Hnrdy, um Belege für seine Theorie zu
finden. Er zitiert Sophokles, wie er früher einmal Äschylos zitiert hat, um
zu zeigen, wie auch sie ihren Gottesglauben verloren und an der höchsten
Gerechtigkeit verzweifelten. Doch ebenso wie seine von schneidender Ironie
durchtränkte Erwähnung des „Herrn der Götter" — ?r<ZLiciiznt- ok tue IinnwitÄls,


Grenzboien II 1907 18
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[0141] Äjomas Hardys Napoleonsdrama einige wichtige Phasen, zu denen England in keiner Beziehung stand, nur leicht gestreift worden sind. Das geschah zweifellos ganz unabsichtlich. Hardys Künstlerschaft steht auf einer Höhe, die über jegliches chauvinistische Parteiergreifen erhaben ist. Was sich so äußert, ist nur das instinktive Zugehörigkeitsgefühl zu seinem Lande und im engern Sinne zu seiner Heimat Wessex, die, sobald der Schau¬ platz dorthin verlegt ist, mit sichtbarer Liebe geschildert wird. Aber eben dieser ihm unbewußt innewohnende Heimatssinn engt zuweilen Hardys Gesichtskreis mehr ein, als für einen so groß angelegten Plan wünschenswert ist. Eine an sich gewiß denkwürdige Debatte im Unterhaus in fünffüßige Jamben zu formen, ist ein höchst undankbares Unternehmen, das den ersten Teil des Dramas ganz unnötig belastet und im Fortschreiten hemmt. Auch in der eingehendem Charakteristik der Hauptpersonen wird Hardy dem Geschichtsforscher nichts neues sagen können, wenn auch sein gewissenhaft abwägendes Urteil hohe Achtung einflößt. Das Drama ist keine Apotheose Napoleons. Es betont ebenso die persönliche Tapferkeit des Korsen wie fein unedelmütiges Verhalten im Verkehr mit den besiegten Fürsten und deutet gewisse plebejische Nuancen seines Benehmens mehr als einmal an. Seiner Trennung von Josephine sind mehrere Szenen gewidmet, und auch der Be¬ gegnung mit der Königin Luise zu Tilsit wird ein breiter Raum zugeteilt, wobei des Dichters warme Sympathie für die unglückliche Fürstin deutlich durchschimmert. Hier ist es auch, wo Hardy betont, daß Napoleon als einziger das Walten des höchsten Willens unterscheide, der ihm seine Laufbahn auf¬ zwinge. Bonaparte erwidert auf die Bitten der Königin: „Ich verdiene Ihr Mitleid. In mir ist etwas, was mich unaufhaltsam vorwärts treibt. Mein Stern ist für mein Tun verantwortlich, nicht ich!" Es ist für Hardys Weltanschauung überaus bezeichnend, wie er jener banalen Redensart die tiefste Bedeutung beimißt, um daran seine Theorie von der Unfreiheit des menschlichen Willens zu erläutern. Die Erdbewohner wühlten, in freier Wahl ihren Impulsen zu folgen, und werden doch in jedem Augen¬ blick geleitet und beeinflußt — nicht etwa von einem persönlichen Gott. Den Glauben hat Hardy verloren. Auch eine sittliche Weltordnung erscheint ihm undenkbar. Die irdischen Geschicke lenkt eine blinde, stumme Willenseinheit, die achtlos das Rad des Weltgetriebes schwingt. Ihre Pläne werden mit ^mein riesigen Spinngewebe verglichen, und der Geist der Jahre macht dem Genius des Mitleids die feinen Fäden des unzerreißbaren Gespinstes sichtbar, an die das Tun und Lassen der Sterblichen unwiderruflich gekettet ist. Weit Zurück ins klassische Altertum greift Hnrdy, um Belege für seine Theorie zu finden. Er zitiert Sophokles, wie er früher einmal Äschylos zitiert hat, um zu zeigen, wie auch sie ihren Gottesglauben verloren und an der höchsten Gerechtigkeit verzweifelten. Doch ebenso wie seine von schneidender Ironie durchtränkte Erwähnung des „Herrn der Götter" — ?r<ZLiciiznt- ok tue IinnwitÄls, Grenzboien II 1907 18

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/141>, abgerufen am 06.02.2025.