Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.Hemmungen des Fortschritts in "Lhina Der chinesische Staat, soweit von einem solchen überhaupt die Rede sein Dagegen ist China im Laufe seiner Geschichte mehr als ein großer Staats¬ Hemmungen des Fortschritts in «Lhina Der chinesische Staat, soweit von einem solchen überhaupt die Rede sein Dagegen ist China im Laufe seiner Geschichte mehr als ein großer Staats¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0014" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302002"/> <fw type="header" place="top"> Hemmungen des Fortschritts in «Lhina</fw><lb/> <p xml:id="ID_19"> Der chinesische Staat, soweit von einem solchen überhaupt die Rede sein<lb/> kann, hat sich ebensowenig wie der europäische als organisches Ergebnis aus<lb/> Geschlechtsverbänden entwickelt, auch er mußte künstlich geschaffen werden. Das<lb/> geschah auf die Weise, daß der Gentilorgcmisation eine von ihr unabhängige<lb/> Herrenkaste, die der Gelehrten, aufgepfropft wurde. Die staatlichen Prüfungen,<lb/> die in China theoretisch jedem Einzelnen den Übergang zum Literateutum er¬<lb/> möglichen, durchbrechen das der Gentilorganisation eigne Autoritätsprinzip, indem<lb/> sie den Nangunterschieden nach Alter und Stellung in der Familie eine dieser<lb/> übergeordnete Rangordnung nach dem Grade des Wissens entgegensetzen. Vor<lb/> den Prüfungen sind alle gleich, und wer eine besteht, kehrt wie ein Sieger in<lb/> sein Heimatdorf zurück, wo ihn alt und jung ehrt, und jeder, der nicht schon<lb/> den gleichen oder einen höhern Rang bekleidet, willig seinem Rate folgt. Der<lb/> gewaltige Einfluß, den die Mandarine ausüben, findet seine einfache Erklärung<lb/> in der Tatsache, daß der Literat im Gegensatze zu gewöhnlichem Volk eine<lb/> Individualität sein darf. Die größere Bewegungsfreiheit schafft ihm einen<lb/> gewaltigen Vorsprung vor dem Untertanen, den die Fesseln des Gentilismus das<lb/> ganze Leben hindurch nicht zum unabhängigen Manne werden lassen. Nie und<lb/> nirgends waren jedoch Gelehrte, ohne daß sie von außen getrieben und gestoßen<lb/> wurden, Förderer des Fortschritts. In China erst recht nicht, wo sie bis heute das<lb/> Monopol der Macht besaßen und das einem Moralprediger verdanken, der sie<lb/> vor zweieinhalb Jahrtausenden lehrte, ihr Dichten und Trachten auf die Pflege<lb/> der unübertrefflichen Weisheit der Alten zu richten. Die chinesischen Literaten<lb/> haben darum auch nie etwas getan, ihre Nation ans den Fesseln des Gentilismus<lb/> zu befreien; sie waren immer die schlimmsten Feinde jeder freien Regung im<lb/> Volksleben.</p><lb/> <p xml:id="ID_20" next="#ID_21"> Dagegen ist China im Laufe seiner Geschichte mehr als ein großer Staats¬<lb/> mann erstanden, der sich an das Problem der Befreiung des Volkes aus den<lb/> Banden eines engherzigen Patriarchalismns herangewagt hat. Wenn die<lb/> Lösung noch jedem mißlang, so lag dies daran, daß die Menschenmassen, deren<lb/> Leben in eine neue Bahn gelenkt werden sollte, zu rasch anwuchsen. Dem<lb/> fortwährenden Überquellen der chinesischen Bevölkerung über die Grenzen des<lb/> jeweils bewohnten Raumes boten weder schollenkleberische fremde Urbewohner<lb/> noch geographische Hindernisse besondre Schwierigkeiten. Der erste Kaiser der<lb/> Tsindynastie, Sadi Hoangti, der den chinesischen Einheitsstaat gründete, unter¬<lb/> nahm während seiner tatenreichen Regierung (246 bis 210 v. Chr.) auch den<lb/> Versuch, das Clanwesen zu sprengen und die Macht der Literaten zu brechen.<lb/> Wegen seines wuchtigen Zusammenschmiedens des Riesenreichs, seines er¬<lb/> barmungslosen Wegfegens alle? Schwächlichen, Dahindämmernden und Klein¬<lb/> lichen, seines Zertrümmerns eines morschen, unheilbaren, Marasmus verfallnen<lb/> Feudalsystems, nennt man ihn in Europa gern den Napoleon Chinas. Er<lb/> war ein eifriger Anhänger Laotses, des großen Zeitgenossen Konfutses, der<lb/> dessen geistesarmen Sozialismus einen um so geistreichem Individualismus</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0014]
Hemmungen des Fortschritts in «Lhina
Der chinesische Staat, soweit von einem solchen überhaupt die Rede sein
kann, hat sich ebensowenig wie der europäische als organisches Ergebnis aus
Geschlechtsverbänden entwickelt, auch er mußte künstlich geschaffen werden. Das
geschah auf die Weise, daß der Gentilorgcmisation eine von ihr unabhängige
Herrenkaste, die der Gelehrten, aufgepfropft wurde. Die staatlichen Prüfungen,
die in China theoretisch jedem Einzelnen den Übergang zum Literateutum er¬
möglichen, durchbrechen das der Gentilorganisation eigne Autoritätsprinzip, indem
sie den Nangunterschieden nach Alter und Stellung in der Familie eine dieser
übergeordnete Rangordnung nach dem Grade des Wissens entgegensetzen. Vor
den Prüfungen sind alle gleich, und wer eine besteht, kehrt wie ein Sieger in
sein Heimatdorf zurück, wo ihn alt und jung ehrt, und jeder, der nicht schon
den gleichen oder einen höhern Rang bekleidet, willig seinem Rate folgt. Der
gewaltige Einfluß, den die Mandarine ausüben, findet seine einfache Erklärung
in der Tatsache, daß der Literat im Gegensatze zu gewöhnlichem Volk eine
Individualität sein darf. Die größere Bewegungsfreiheit schafft ihm einen
gewaltigen Vorsprung vor dem Untertanen, den die Fesseln des Gentilismus das
ganze Leben hindurch nicht zum unabhängigen Manne werden lassen. Nie und
nirgends waren jedoch Gelehrte, ohne daß sie von außen getrieben und gestoßen
wurden, Förderer des Fortschritts. In China erst recht nicht, wo sie bis heute das
Monopol der Macht besaßen und das einem Moralprediger verdanken, der sie
vor zweieinhalb Jahrtausenden lehrte, ihr Dichten und Trachten auf die Pflege
der unübertrefflichen Weisheit der Alten zu richten. Die chinesischen Literaten
haben darum auch nie etwas getan, ihre Nation ans den Fesseln des Gentilismus
zu befreien; sie waren immer die schlimmsten Feinde jeder freien Regung im
Volksleben.
Dagegen ist China im Laufe seiner Geschichte mehr als ein großer Staats¬
mann erstanden, der sich an das Problem der Befreiung des Volkes aus den
Banden eines engherzigen Patriarchalismns herangewagt hat. Wenn die
Lösung noch jedem mißlang, so lag dies daran, daß die Menschenmassen, deren
Leben in eine neue Bahn gelenkt werden sollte, zu rasch anwuchsen. Dem
fortwährenden Überquellen der chinesischen Bevölkerung über die Grenzen des
jeweils bewohnten Raumes boten weder schollenkleberische fremde Urbewohner
noch geographische Hindernisse besondre Schwierigkeiten. Der erste Kaiser der
Tsindynastie, Sadi Hoangti, der den chinesischen Einheitsstaat gründete, unter¬
nahm während seiner tatenreichen Regierung (246 bis 210 v. Chr.) auch den
Versuch, das Clanwesen zu sprengen und die Macht der Literaten zu brechen.
Wegen seines wuchtigen Zusammenschmiedens des Riesenreichs, seines er¬
barmungslosen Wegfegens alle? Schwächlichen, Dahindämmernden und Klein¬
lichen, seines Zertrümmerns eines morschen, unheilbaren, Marasmus verfallnen
Feudalsystems, nennt man ihn in Europa gern den Napoleon Chinas. Er
war ein eifriger Anhänger Laotses, des großen Zeitgenossen Konfutses, der
dessen geistesarmen Sozialismus einen um so geistreichem Individualismus
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