Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Thomas Hardys Napoleonsdrama

welchem literarischen Gebiet er sich betätigt. Und doch ist unter den englischen
Autoren der Gegenwart einer, der da, wo er die höchsten Höhen seiner Kunst
erreicht, ein gewisses Anrecht auf eine Gegenüberstellung mit Shakespeare hat.
Die großangelegten Charaktere in den besten Erzählungen Thomas Hardhs
erinnern in der Art, wie sie gebildet wurden, wie sie sich von den großen,
ruhigen Linien des Hintergrundes abheben, an Shakespeare. Mit solchem
Ruhm scheint aber der alternde Meister der englischen Heimatkunst nicht zu¬
frieden gewesen zu sein; er hat nunmehr auch ein Drama geschrieben, freilich
eines, das von dem herkömmlichen Begriff Drama bedeutend abweicht.

In dem Kranz von Erzählungen, die Hardy um sein heimisches Wessex
geschlungen hat, ist eine, die sich von den übrigen durch ein schärfer ausge¬
prägtes, historisches Kolorit abhebt. Die am tiefsten einschneidenden Um¬
wälzungen, die die neuere Geschichte Europas zu verzeichnen hat, die napo¬
leonischen Kriege erscheinen in gigantischen Umrissen hinter dem Liebesidyll
des Iruinxöt-Nlijor, und als der ritterliche Stabstrompeter mit leichten Worten
und schwerem Herzen Abschied nimmt von seiner geliebten Jungfer Anne, da
ists, wie wenn leise Klänge der Retraitesignale an das Ohr des Lesers schlügen --
wie trübes Vorahnen der blutigen Kämpfe auf den spanischen Schlachtfeldern.

Damals hat Hardy in weiser Beschränkung das große Ringen der Völker
Europas gleichsam nur am Horizont erscheinen lassen; doch um jene Zeit ist
in ihm zuerst der Plan entstanden, die hier als Hintergrund gewählten Er¬
eignisse einmal in den Mittelpunkt einer Dichtung zu stellen, und nun, nach
zwanzig Jahren, hat dieser Gedanke endlich feste Form gewonnen in dem als
Trilogie angelegten Drama 'Ins v^niists (London, Macmillan & Co.), von
dem die beiden ersten Teile vollendet vorliegen.

Ein dreiteiliges Drama in neunzehn Akten mit hundertunddreißig Szenen
erscheint auf den ersten Blick als etwas ganz Abnormes. Hardy hat dies auch
selbst empfunden und eine Einleitung vorangestellt, in der er seinen Plan
gegen die zu erwartenden Einwendungen zu verteidigen sucht. Sogar eine so
umfangreiche Anlage kann natürlich das europäische Drama zu Beginn des
neunzehnten Jahrhunderts nur in den Hauptzügen fassen. Es gehört die er¬
gänzende Geschichtskenntnis des Lesers dazu, die Einzelheiten zu verbinden,
denn das Szenarium springt unruhig von Wessex nach Ulm, von Ulm nach
London, dann nach Trafalgar und in ähnlicher Weise fort. Um dies zu recht¬
fertigen, beruft sich Hardy auf keinen geringern als Äschylos, der in seinen
s,-.;!""^^" ^ Kenntnis des Mythos voraussetzen und deshalb über Einzel¬
nen hinweggehn durfte.

c^".k ""^ Verwandtschaft zwischen Hardys jüngsten Werk und den
^cyopfungen der griechischen Tragiker besteht nun tatsächlich, und zwar in
demselben >L>inne. wie die Geschichtsdramen Shakespeares mit jenen klassischen
"ramen verwandt sind. Aber während die drei großen Athener sowie auch
Shakespeare ein ganzes Volk zum Auditorium hatten und darum in der höchsten


Thomas Hardys Napoleonsdrama

welchem literarischen Gebiet er sich betätigt. Und doch ist unter den englischen
Autoren der Gegenwart einer, der da, wo er die höchsten Höhen seiner Kunst
erreicht, ein gewisses Anrecht auf eine Gegenüberstellung mit Shakespeare hat.
Die großangelegten Charaktere in den besten Erzählungen Thomas Hardhs
erinnern in der Art, wie sie gebildet wurden, wie sie sich von den großen,
ruhigen Linien des Hintergrundes abheben, an Shakespeare. Mit solchem
Ruhm scheint aber der alternde Meister der englischen Heimatkunst nicht zu¬
frieden gewesen zu sein; er hat nunmehr auch ein Drama geschrieben, freilich
eines, das von dem herkömmlichen Begriff Drama bedeutend abweicht.

In dem Kranz von Erzählungen, die Hardy um sein heimisches Wessex
geschlungen hat, ist eine, die sich von den übrigen durch ein schärfer ausge¬
prägtes, historisches Kolorit abhebt. Die am tiefsten einschneidenden Um¬
wälzungen, die die neuere Geschichte Europas zu verzeichnen hat, die napo¬
leonischen Kriege erscheinen in gigantischen Umrissen hinter dem Liebesidyll
des Iruinxöt-Nlijor, und als der ritterliche Stabstrompeter mit leichten Worten
und schwerem Herzen Abschied nimmt von seiner geliebten Jungfer Anne, da
ists, wie wenn leise Klänge der Retraitesignale an das Ohr des Lesers schlügen —
wie trübes Vorahnen der blutigen Kämpfe auf den spanischen Schlachtfeldern.

Damals hat Hardy in weiser Beschränkung das große Ringen der Völker
Europas gleichsam nur am Horizont erscheinen lassen; doch um jene Zeit ist
in ihm zuerst der Plan entstanden, die hier als Hintergrund gewählten Er¬
eignisse einmal in den Mittelpunkt einer Dichtung zu stellen, und nun, nach
zwanzig Jahren, hat dieser Gedanke endlich feste Form gewonnen in dem als
Trilogie angelegten Drama 'Ins v^niists (London, Macmillan & Co.), von
dem die beiden ersten Teile vollendet vorliegen.

Ein dreiteiliges Drama in neunzehn Akten mit hundertunddreißig Szenen
erscheint auf den ersten Blick als etwas ganz Abnormes. Hardy hat dies auch
selbst empfunden und eine Einleitung vorangestellt, in der er seinen Plan
gegen die zu erwartenden Einwendungen zu verteidigen sucht. Sogar eine so
umfangreiche Anlage kann natürlich das europäische Drama zu Beginn des
neunzehnten Jahrhunderts nur in den Hauptzügen fassen. Es gehört die er¬
gänzende Geschichtskenntnis des Lesers dazu, die Einzelheiten zu verbinden,
denn das Szenarium springt unruhig von Wessex nach Ulm, von Ulm nach
London, dann nach Trafalgar und in ähnlicher Weise fort. Um dies zu recht¬
fertigen, beruft sich Hardy auf keinen geringern als Äschylos, der in seinen
s,-.;!""^^" ^ Kenntnis des Mythos voraussetzen und deshalb über Einzel¬
nen hinweggehn durfte.

c^".k ""^ Verwandtschaft zwischen Hardys jüngsten Werk und den
^cyopfungen der griechischen Tragiker besteht nun tatsächlich, und zwar in
demselben >L>inne. wie die Geschichtsdramen Shakespeares mit jenen klassischen
«ramen verwandt sind. Aber während die drei großen Athener sowie auch
Shakespeare ein ganzes Volk zum Auditorium hatten und darum in der höchsten


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0139" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/302127"/>
          <fw type="header" place="top"> Thomas Hardys Napoleonsdrama</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_602" prev="#ID_601"> welchem literarischen Gebiet er sich betätigt. Und doch ist unter den englischen<lb/>
Autoren der Gegenwart einer, der da, wo er die höchsten Höhen seiner Kunst<lb/>
erreicht, ein gewisses Anrecht auf eine Gegenüberstellung mit Shakespeare hat.<lb/>
Die großangelegten Charaktere in den besten Erzählungen Thomas Hardhs<lb/>
erinnern in der Art, wie sie gebildet wurden, wie sie sich von den großen,<lb/>
ruhigen Linien des Hintergrundes abheben, an Shakespeare. Mit solchem<lb/>
Ruhm scheint aber der alternde Meister der englischen Heimatkunst nicht zu¬<lb/>
frieden gewesen zu sein; er hat nunmehr auch ein Drama geschrieben, freilich<lb/>
eines, das von dem herkömmlichen Begriff Drama bedeutend abweicht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_603"> In dem Kranz von Erzählungen, die Hardy um sein heimisches Wessex<lb/>
geschlungen hat, ist eine, die sich von den übrigen durch ein schärfer ausge¬<lb/>
prägtes, historisches Kolorit abhebt. Die am tiefsten einschneidenden Um¬<lb/>
wälzungen, die die neuere Geschichte Europas zu verzeichnen hat, die napo¬<lb/>
leonischen Kriege erscheinen in gigantischen Umrissen hinter dem Liebesidyll<lb/>
des Iruinxöt-Nlijor, und als der ritterliche Stabstrompeter mit leichten Worten<lb/>
und schwerem Herzen Abschied nimmt von seiner geliebten Jungfer Anne, da<lb/>
ists, wie wenn leise Klänge der Retraitesignale an das Ohr des Lesers schlügen &#x2014;<lb/>
wie trübes Vorahnen der blutigen Kämpfe auf den spanischen Schlachtfeldern.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_604"> Damals hat Hardy in weiser Beschränkung das große Ringen der Völker<lb/>
Europas gleichsam nur am Horizont erscheinen lassen; doch um jene Zeit ist<lb/>
in ihm zuerst der Plan entstanden, die hier als Hintergrund gewählten Er¬<lb/>
eignisse einmal in den Mittelpunkt einer Dichtung zu stellen, und nun, nach<lb/>
zwanzig Jahren, hat dieser Gedanke endlich feste Form gewonnen in dem als<lb/>
Trilogie angelegten Drama 'Ins v^niists (London, Macmillan &amp; Co.), von<lb/>
dem die beiden ersten Teile vollendet vorliegen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_605"> Ein dreiteiliges Drama in neunzehn Akten mit hundertunddreißig Szenen<lb/>
erscheint auf den ersten Blick als etwas ganz Abnormes. Hardy hat dies auch<lb/>
selbst empfunden und eine Einleitung vorangestellt, in der er seinen Plan<lb/>
gegen die zu erwartenden Einwendungen zu verteidigen sucht. Sogar eine so<lb/>
umfangreiche Anlage kann natürlich das europäische Drama zu Beginn des<lb/>
neunzehnten Jahrhunderts nur in den Hauptzügen fassen. Es gehört die er¬<lb/>
gänzende Geschichtskenntnis des Lesers dazu, die Einzelheiten zu verbinden,<lb/>
denn das Szenarium springt unruhig von Wessex nach Ulm, von Ulm nach<lb/>
London, dann nach Trafalgar und in ähnlicher Weise fort. Um dies zu recht¬<lb/>
fertigen, beruft sich Hardy auf keinen geringern als Äschylos, der in seinen<lb/>
s,-.;!""^^" ^ Kenntnis des Mythos voraussetzen und deshalb über Einzel¬<lb/>
nen hinweggehn durfte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_606" next="#ID_607"> c^".k ""^ Verwandtschaft zwischen Hardys jüngsten Werk und den<lb/>
^cyopfungen der griechischen Tragiker besteht nun tatsächlich, und zwar in<lb/>
demselben &gt;L&gt;inne. wie die Geschichtsdramen Shakespeares mit jenen klassischen<lb/>
«ramen verwandt sind. Aber während die drei großen Athener sowie auch<lb/>
Shakespeare ein ganzes Volk zum Auditorium hatten und darum in der höchsten</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0139] Thomas Hardys Napoleonsdrama welchem literarischen Gebiet er sich betätigt. Und doch ist unter den englischen Autoren der Gegenwart einer, der da, wo er die höchsten Höhen seiner Kunst erreicht, ein gewisses Anrecht auf eine Gegenüberstellung mit Shakespeare hat. Die großangelegten Charaktere in den besten Erzählungen Thomas Hardhs erinnern in der Art, wie sie gebildet wurden, wie sie sich von den großen, ruhigen Linien des Hintergrundes abheben, an Shakespeare. Mit solchem Ruhm scheint aber der alternde Meister der englischen Heimatkunst nicht zu¬ frieden gewesen zu sein; er hat nunmehr auch ein Drama geschrieben, freilich eines, das von dem herkömmlichen Begriff Drama bedeutend abweicht. In dem Kranz von Erzählungen, die Hardy um sein heimisches Wessex geschlungen hat, ist eine, die sich von den übrigen durch ein schärfer ausge¬ prägtes, historisches Kolorit abhebt. Die am tiefsten einschneidenden Um¬ wälzungen, die die neuere Geschichte Europas zu verzeichnen hat, die napo¬ leonischen Kriege erscheinen in gigantischen Umrissen hinter dem Liebesidyll des Iruinxöt-Nlijor, und als der ritterliche Stabstrompeter mit leichten Worten und schwerem Herzen Abschied nimmt von seiner geliebten Jungfer Anne, da ists, wie wenn leise Klänge der Retraitesignale an das Ohr des Lesers schlügen — wie trübes Vorahnen der blutigen Kämpfe auf den spanischen Schlachtfeldern. Damals hat Hardy in weiser Beschränkung das große Ringen der Völker Europas gleichsam nur am Horizont erscheinen lassen; doch um jene Zeit ist in ihm zuerst der Plan entstanden, die hier als Hintergrund gewählten Er¬ eignisse einmal in den Mittelpunkt einer Dichtung zu stellen, und nun, nach zwanzig Jahren, hat dieser Gedanke endlich feste Form gewonnen in dem als Trilogie angelegten Drama 'Ins v^niists (London, Macmillan & Co.), von dem die beiden ersten Teile vollendet vorliegen. Ein dreiteiliges Drama in neunzehn Akten mit hundertunddreißig Szenen erscheint auf den ersten Blick als etwas ganz Abnormes. Hardy hat dies auch selbst empfunden und eine Einleitung vorangestellt, in der er seinen Plan gegen die zu erwartenden Einwendungen zu verteidigen sucht. Sogar eine so umfangreiche Anlage kann natürlich das europäische Drama zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nur in den Hauptzügen fassen. Es gehört die er¬ gänzende Geschichtskenntnis des Lesers dazu, die Einzelheiten zu verbinden, denn das Szenarium springt unruhig von Wessex nach Ulm, von Ulm nach London, dann nach Trafalgar und in ähnlicher Weise fort. Um dies zu recht¬ fertigen, beruft sich Hardy auf keinen geringern als Äschylos, der in seinen s,-.;!""^^" ^ Kenntnis des Mythos voraussetzen und deshalb über Einzel¬ nen hinweggehn durfte. c^".k ""^ Verwandtschaft zwischen Hardys jüngsten Werk und den ^cyopfungen der griechischen Tragiker besteht nun tatsächlich, und zwar in demselben >L>inne. wie die Geschichtsdramen Shakespeares mit jenen klassischen «ramen verwandt sind. Aber während die drei großen Athener sowie auch Shakespeare ein ganzes Volk zum Auditorium hatten und darum in der höchsten

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/139
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/139>, abgerufen am 06.02.2025.