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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Vor Revanchegedanken in Frankreich

Kriegsminister Andre, der Nachfolger Gallifets, war wieder mehr der Ansicht
Frehcinets, versammelte die von ihm bezeichneten dreizehn Mitglieder des
Kriegsrath um sich und erteilte ihnen Sonderaufträge in die Provinzen, wo¬
durch sie vorübergehend mit der Truppe in Berührung kamen. Nun scheint der
jetzige Kriegsminister, General Picquart, wieder mehr den Anschauungen Gallifets
zuzuneigen, denn seine letzten Ernennungen lassen erkennen, daß er unter den
zukünftigen Armeeführern auch Generale haben will, die außer ihrem Amte im
obersten Kriegsrat ein aktives Truppenkommando führen. Es liegt auf der Hand,
daß auch für uns dieser oberste Kriegsrat in Frankreich nicht ohne Interesse ist,
da wir aus seiner Zusammensetzung die zukünftigen, an entscheidender Stelle
stehenden, Führer kennen lernen. Außer dem Kriegsminister Picquart und dem
Chef des Generalstabs der Armee Pendezee gehören ihm zurzeit die Generale
Dalstein, zugleich Gouverneur von Paris, Millet. zugleich kommandierender General
des fünften Armeekorps, Mathis, zugleich Kommandeur des fünfzehnten Armee¬
korps, ferner Michal, Metzinger, Voyron, Hagron, Burnez, Borgnis-Desbordes
und de Lneroix an.

Vielfach ist jetzt in Frankreich die Ansicht verbreitet gewesen, daß in einem
Kriege nicht der oberste Kriegsrat den Höchstkommandierenden stellen werde,
sondern daß darüber der erst im vorigen Jahre organisierte Oberste Rat der
Nationalverteidigung die letzte Entscheidung zu treffen habe. Diese Auffassung
ist aber ganz entschieden unzutreffend. Denn dieser Oberste Rat ist durchaus
kein selbständiger Machtfaktor, sondern zunächst nur ein technischer Beirat
(vonssil tkvlmique), der in keiner Weise befugt sein soll, in schon vorhcmdne
staatliche oder rein militärische Einrichtungen entscheidend einzugreifen. Übrigens
verlautete in diesen Tagen, daß man an maßgebender Stelle mit der Ein¬
richtung dieses Rates durchaus nicht zufrieden sei/ Er sei durch seine viel¬
köpfige Zusammensetzung geradezu ein Hindernis und werde, nachdem er sich
bei seiner ersten und einzigen Einberufung im Januar dieses Jahres nicht bewährt
habe, sobald seine Tätigkeit nicht wieder aufnehmen.

Der "Fall Bailloud" hat aber noch nach andern militärischen Richtungen
die Augen geöffnet und der französischen Presse Veranlassung zu mancher
scharfen Kritik über die eigne Armee gegeben. Nicht nur der Generalstab und
die höhern Führer werden darin der Unfähigkeit und der ungenügenden Brauch¬
barkeit beschuldigt, sondern es werden auch Bedenken laut, daß Frankreich durch
Einführung der zweijährigen Dienstzeit auf einen falschen Weg geraten sei und
dadurch den Aufbau seiner ganzen Heeresorganisation ins Wanken gebracht
habe. Ein sehr deutliches Bild von diesen tatsächlichen Verhältnissen gibt der
eingehende Bericht des Abgeordneten Mcssimy über das Heeresbudget für 1907.
In scharfen Worten verurteilt der Deputierte, daß die französische Armee viel
zu viele und zu alte Generale habe und damit immer mehr in den Hinter¬
grund gerate im Vergleich zur benachbarten deutschen Armee. In Kommissionen
und Komitees, technischer und beratender Natur, säßen fast ausschließlich Generale,


Vor Revanchegedanken in Frankreich

Kriegsminister Andre, der Nachfolger Gallifets, war wieder mehr der Ansicht
Frehcinets, versammelte die von ihm bezeichneten dreizehn Mitglieder des
Kriegsrath um sich und erteilte ihnen Sonderaufträge in die Provinzen, wo¬
durch sie vorübergehend mit der Truppe in Berührung kamen. Nun scheint der
jetzige Kriegsminister, General Picquart, wieder mehr den Anschauungen Gallifets
zuzuneigen, denn seine letzten Ernennungen lassen erkennen, daß er unter den
zukünftigen Armeeführern auch Generale haben will, die außer ihrem Amte im
obersten Kriegsrat ein aktives Truppenkommando führen. Es liegt auf der Hand,
daß auch für uns dieser oberste Kriegsrat in Frankreich nicht ohne Interesse ist,
da wir aus seiner Zusammensetzung die zukünftigen, an entscheidender Stelle
stehenden, Führer kennen lernen. Außer dem Kriegsminister Picquart und dem
Chef des Generalstabs der Armee Pendezee gehören ihm zurzeit die Generale
Dalstein, zugleich Gouverneur von Paris, Millet. zugleich kommandierender General
des fünften Armeekorps, Mathis, zugleich Kommandeur des fünfzehnten Armee¬
korps, ferner Michal, Metzinger, Voyron, Hagron, Burnez, Borgnis-Desbordes
und de Lneroix an.

Vielfach ist jetzt in Frankreich die Ansicht verbreitet gewesen, daß in einem
Kriege nicht der oberste Kriegsrat den Höchstkommandierenden stellen werde,
sondern daß darüber der erst im vorigen Jahre organisierte Oberste Rat der
Nationalverteidigung die letzte Entscheidung zu treffen habe. Diese Auffassung
ist aber ganz entschieden unzutreffend. Denn dieser Oberste Rat ist durchaus
kein selbständiger Machtfaktor, sondern zunächst nur ein technischer Beirat
(vonssil tkvlmique), der in keiner Weise befugt sein soll, in schon vorhcmdne
staatliche oder rein militärische Einrichtungen entscheidend einzugreifen. Übrigens
verlautete in diesen Tagen, daß man an maßgebender Stelle mit der Ein¬
richtung dieses Rates durchaus nicht zufrieden sei/ Er sei durch seine viel¬
köpfige Zusammensetzung geradezu ein Hindernis und werde, nachdem er sich
bei seiner ersten und einzigen Einberufung im Januar dieses Jahres nicht bewährt
habe, sobald seine Tätigkeit nicht wieder aufnehmen.

Der „Fall Bailloud" hat aber noch nach andern militärischen Richtungen
die Augen geöffnet und der französischen Presse Veranlassung zu mancher
scharfen Kritik über die eigne Armee gegeben. Nicht nur der Generalstab und
die höhern Führer werden darin der Unfähigkeit und der ungenügenden Brauch¬
barkeit beschuldigt, sondern es werden auch Bedenken laut, daß Frankreich durch
Einführung der zweijährigen Dienstzeit auf einen falschen Weg geraten sei und
dadurch den Aufbau seiner ganzen Heeresorganisation ins Wanken gebracht
habe. Ein sehr deutliches Bild von diesen tatsächlichen Verhältnissen gibt der
eingehende Bericht des Abgeordneten Mcssimy über das Heeresbudget für 1907.
In scharfen Worten verurteilt der Deputierte, daß die französische Armee viel
zu viele und zu alte Generale habe und damit immer mehr in den Hinter¬
grund gerate im Vergleich zur benachbarten deutschen Armee. In Kommissionen
und Komitees, technischer und beratender Natur, säßen fast ausschließlich Generale,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/121>, abgerufen am 06.02.2025.