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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr.

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Adolf Schmitthenner

durch Spott oder Karikatur bloßzustellen. Er tut es nicht, weil er viel
zu viel Liebe hat für das Kleine des Menschenlebens, für das Einfache des
Dorfes und der Kleinstadt und viel zu viel Sinn für das Humoristische daran.
Seine Erzählungen, insbesondre "Michel Angelo" und der Roman "Leonie",
enthalten eine Fülle der köstlichsten Szenen aus dem Leben der Kleinstadt.
Wie man dort Feste feiert, die Menschen taxiert, arbeitet und sich vergnügt,
das schildert er mit genauester Kenntnis; und wie man am Stammtisch ver¬
kommen kann, das zeigt eine gewöhnlich scheinende und doch fast in jedem Zug
außerordentlich bezeichnende, ja geradezu typische Szene in "Leonie". Schmitt-
henner schenkt allerdings seinen Gestalten nichts, er übermalt nichts und schleift
Ecken und Kanten nicht ab; man vergegenwärtige sich nur die Mutter der
Psyche oder auch die freilich wieder ganz anders geartete des Michel Angelo;
namentlich in "Psyche" herrscht eine fast grausame Realistik, wie überhaupt
Schmitthenner schlankweg zu den Realisten gerechnet werden muß. Was ihn
von der landläufigen Sorte der Realisten unterscheidet, war nur die Kleinigkeit,
daß er ein Dichter, kein Beschreiber war. Und ein Dichter weiß nicht bloß
auch das naturalistische in eine Höhe zu heben, wo es eben nicht mehr
naturalistisch, sondern dichterisch wirkt, er weiß auch weise Maß zu halten, und
das feine ästhetische Gefühl heißt ihn an der rechten Stelle halt machen.

Daß Schmitthenner eine im tiefsten Innern leidenschaftliche Natur war,
konnte man ihm zwar im Umgang keinen anmerken, denn er schien eine durch¬
aus sonnige Natur; aber in seinen Erzählungen rauscht wie ein unterirdischer
Strom diese Leidenschaftlichkeit, allerdings immer dichterisch gebändigt. Denn
er hatte sich offenbar für Leben und Dichten Schillers Wort gemerkt, daß
Sonnenschein des Dichters Stirne umfließen müsse, wenn es auch in seinein
Busen noch so sehr stürme. Diese Leidenschaftlichkeit kommt in vielen seiner
Erzählungen zum Ausdruck, am meisten in der bedeutendsten, die von geradezu
tragischer Wucht ist, in dem Roman "Leonie" (Leipzig, F. W. Gruuow, 1899),
von dem mich bloß das eine wundert, daß er noch keine weitere Auflage er¬
lebt hat. Es ist ein heikles eheliches Problem, das er hier behandelt: kurz
gesagt, die durch den Körperbau fast unmöglich gemachte Mutterschaft einer
liebenden Frau, die zweimal schon einem toten Kinde das Leben gegeben hat
und selbst kaum gerettet wurde, und daher die Frage der gegenseitigen ehe¬
lichen Enthaltsamkeit und deren psychologische Folgen. Wie nun dieses
Problem hier behandelt wird, das ist nicht bloß fast in jedem Zug originell,
sondern auch so zart und rein und keusch in der Darstellung, daß man ge¬
radezu sagen kann, Schmitthenner hat hier gezeigt, wie ein Problem, das sich
im wesentlichen doch um die Sinnlichkeit im engern Sinne dreht, behandelt
werden müsse. Dabei geht er keiner Situation aus dem Wege, und die
Schilderung einer Liebesnacht ist vielleicht das schönste und reinste, was je
ein deutscher Dichter in dieser Art gedichtet hat. Man hat an dem Roman den
Entschluß des Ehepaars, unmittelbar vor der Geburt des Kindes gemeinsam zu


Adolf Schmitthenner

durch Spott oder Karikatur bloßzustellen. Er tut es nicht, weil er viel
zu viel Liebe hat für das Kleine des Menschenlebens, für das Einfache des
Dorfes und der Kleinstadt und viel zu viel Sinn für das Humoristische daran.
Seine Erzählungen, insbesondre „Michel Angelo" und der Roman „Leonie",
enthalten eine Fülle der köstlichsten Szenen aus dem Leben der Kleinstadt.
Wie man dort Feste feiert, die Menschen taxiert, arbeitet und sich vergnügt,
das schildert er mit genauester Kenntnis; und wie man am Stammtisch ver¬
kommen kann, das zeigt eine gewöhnlich scheinende und doch fast in jedem Zug
außerordentlich bezeichnende, ja geradezu typische Szene in „Leonie". Schmitt-
henner schenkt allerdings seinen Gestalten nichts, er übermalt nichts und schleift
Ecken und Kanten nicht ab; man vergegenwärtige sich nur die Mutter der
Psyche oder auch die freilich wieder ganz anders geartete des Michel Angelo;
namentlich in „Psyche" herrscht eine fast grausame Realistik, wie überhaupt
Schmitthenner schlankweg zu den Realisten gerechnet werden muß. Was ihn
von der landläufigen Sorte der Realisten unterscheidet, war nur die Kleinigkeit,
daß er ein Dichter, kein Beschreiber war. Und ein Dichter weiß nicht bloß
auch das naturalistische in eine Höhe zu heben, wo es eben nicht mehr
naturalistisch, sondern dichterisch wirkt, er weiß auch weise Maß zu halten, und
das feine ästhetische Gefühl heißt ihn an der rechten Stelle halt machen.

Daß Schmitthenner eine im tiefsten Innern leidenschaftliche Natur war,
konnte man ihm zwar im Umgang keinen anmerken, denn er schien eine durch¬
aus sonnige Natur; aber in seinen Erzählungen rauscht wie ein unterirdischer
Strom diese Leidenschaftlichkeit, allerdings immer dichterisch gebändigt. Denn
er hatte sich offenbar für Leben und Dichten Schillers Wort gemerkt, daß
Sonnenschein des Dichters Stirne umfließen müsse, wenn es auch in seinein
Busen noch so sehr stürme. Diese Leidenschaftlichkeit kommt in vielen seiner
Erzählungen zum Ausdruck, am meisten in der bedeutendsten, die von geradezu
tragischer Wucht ist, in dem Roman „Leonie" (Leipzig, F. W. Gruuow, 1899),
von dem mich bloß das eine wundert, daß er noch keine weitere Auflage er¬
lebt hat. Es ist ein heikles eheliches Problem, das er hier behandelt: kurz
gesagt, die durch den Körperbau fast unmöglich gemachte Mutterschaft einer
liebenden Frau, die zweimal schon einem toten Kinde das Leben gegeben hat
und selbst kaum gerettet wurde, und daher die Frage der gegenseitigen ehe¬
lichen Enthaltsamkeit und deren psychologische Folgen. Wie nun dieses
Problem hier behandelt wird, das ist nicht bloß fast in jedem Zug originell,
sondern auch so zart und rein und keusch in der Darstellung, daß man ge¬
radezu sagen kann, Schmitthenner hat hier gezeigt, wie ein Problem, das sich
im wesentlichen doch um die Sinnlichkeit im engern Sinne dreht, behandelt
werden müsse. Dabei geht er keiner Situation aus dem Wege, und die
Schilderung einer Liebesnacht ist vielleicht das schönste und reinste, was je
ein deutscher Dichter in dieser Art gedichtet hat. Man hat an dem Roman den
Entschluß des Ehepaars, unmittelbar vor der Geburt des Kindes gemeinsam zu


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[0100] Adolf Schmitthenner durch Spott oder Karikatur bloßzustellen. Er tut es nicht, weil er viel zu viel Liebe hat für das Kleine des Menschenlebens, für das Einfache des Dorfes und der Kleinstadt und viel zu viel Sinn für das Humoristische daran. Seine Erzählungen, insbesondre „Michel Angelo" und der Roman „Leonie", enthalten eine Fülle der köstlichsten Szenen aus dem Leben der Kleinstadt. Wie man dort Feste feiert, die Menschen taxiert, arbeitet und sich vergnügt, das schildert er mit genauester Kenntnis; und wie man am Stammtisch ver¬ kommen kann, das zeigt eine gewöhnlich scheinende und doch fast in jedem Zug außerordentlich bezeichnende, ja geradezu typische Szene in „Leonie". Schmitt- henner schenkt allerdings seinen Gestalten nichts, er übermalt nichts und schleift Ecken und Kanten nicht ab; man vergegenwärtige sich nur die Mutter der Psyche oder auch die freilich wieder ganz anders geartete des Michel Angelo; namentlich in „Psyche" herrscht eine fast grausame Realistik, wie überhaupt Schmitthenner schlankweg zu den Realisten gerechnet werden muß. Was ihn von der landläufigen Sorte der Realisten unterscheidet, war nur die Kleinigkeit, daß er ein Dichter, kein Beschreiber war. Und ein Dichter weiß nicht bloß auch das naturalistische in eine Höhe zu heben, wo es eben nicht mehr naturalistisch, sondern dichterisch wirkt, er weiß auch weise Maß zu halten, und das feine ästhetische Gefühl heißt ihn an der rechten Stelle halt machen. Daß Schmitthenner eine im tiefsten Innern leidenschaftliche Natur war, konnte man ihm zwar im Umgang keinen anmerken, denn er schien eine durch¬ aus sonnige Natur; aber in seinen Erzählungen rauscht wie ein unterirdischer Strom diese Leidenschaftlichkeit, allerdings immer dichterisch gebändigt. Denn er hatte sich offenbar für Leben und Dichten Schillers Wort gemerkt, daß Sonnenschein des Dichters Stirne umfließen müsse, wenn es auch in seinein Busen noch so sehr stürme. Diese Leidenschaftlichkeit kommt in vielen seiner Erzählungen zum Ausdruck, am meisten in der bedeutendsten, die von geradezu tragischer Wucht ist, in dem Roman „Leonie" (Leipzig, F. W. Gruuow, 1899), von dem mich bloß das eine wundert, daß er noch keine weitere Auflage er¬ lebt hat. Es ist ein heikles eheliches Problem, das er hier behandelt: kurz gesagt, die durch den Körperbau fast unmöglich gemachte Mutterschaft einer liebenden Frau, die zweimal schon einem toten Kinde das Leben gegeben hat und selbst kaum gerettet wurde, und daher die Frage der gegenseitigen ehe¬ lichen Enthaltsamkeit und deren psychologische Folgen. Wie nun dieses Problem hier behandelt wird, das ist nicht bloß fast in jedem Zug originell, sondern auch so zart und rein und keusch in der Darstellung, daß man ge¬ radezu sagen kann, Schmitthenner hat hier gezeigt, wie ein Problem, das sich im wesentlichen doch um die Sinnlichkeit im engern Sinne dreht, behandelt werden müsse. Dabei geht er keiner Situation aus dem Wege, und die Schilderung einer Liebesnacht ist vielleicht das schönste und reinste, was je ein deutscher Dichter in dieser Art gedichtet hat. Man hat an dem Roman den Entschluß des Ehepaars, unmittelbar vor der Geburt des Kindes gemeinsam zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301987/100>, abgerufen am 06.02.2025.