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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Donisie, Pater Weiß und das evangelische Christentum

schamlos ausbeuteten und durch die religiöse Form, in der das geschah, die
sittlichen und religiösen Begriffe und die Gewissen verwirrten. Wenn, weil
diese Ausbeutung und Verwirrung auf einem Dogma beruhte, durch ihre Ver¬
urteilung das ganze Dogmengebäude der Kirche ins Wanken geriet und all¬
mählich zusammenbrach, was Luther nicht sogleich bemerkte -- um so schlimmer
für dieses Gebäude! Weiß rühmt gleich den meisten Katholiken von diesen,,
daß es ein geschlossenes Ganze sei, das nicht geteilt werden könne. Nun, die
Lehre vom Ablaß ist offenbar falsch, und daraus folgt also bei der an¬
genommenen Verkettung der Dogmen nach unsrer wie nach der orthodoxen
Logik, daß das ganze Glaubenssystem falsch ist. Es ist besonders die Furcht
vor dieser Folgerung, was die Kritik der Katholiken lahmt. Sie sagen sich:
wenn ich ein Steinchen Heransbreche, stürzt das ganze Gebände zusammen.
Darum schließen sie die Augen und klammern sich an "die Kirche" an. Auch
Denisle hat von sich bekannt: wenn er einmal vom Pfade der Orthodoxie abwiche,
so würde er ein ganz verzweifelter Glcmbensfeind werden. Die Gesinnung
solcher Männer ist sehr achtungswert, aber ihre Furcht entspringt der falschen
Vorstellung, daß der christliche Geist und das christliche Leben unlöslich mit einem
ausgearbeiteten theologischen System verkettet sei. Der lebendige Glaube und das
christliche Leben vieler evangelischer und Sektengemeinden beweist, wie unbegründet
diese Furcht ist. Um noch einmal auf Luthers vorgebliche Schuld zurückzukommen:
sie soll darin bestehn, daß er der Kirche ungehorsam wurde, der zu gehorchen er
durch Taufe und Eid verpflichtet war. Als Sechswochenkind kann man keinen
giltigen Eid ablegen, und wenn andre für einen geloben, so ist man als Erwachsener
durch dieses Gelöbnis nicht gebunden. Ja auch das eigne Gelöbnis eines Er¬
wachsenen bindet nicht, wenn es mit unvollständiger Einsicht in die Folgen ge¬
leistet worden ist. (Und das gilt von allen Klostergclöbnisfen junger Leute.)
Sind diese Folgen offenbar schlimm, so ist man verpflichtet, das unverständige
Gelöbnis zu brechen. Alles Schwören und Geloben ist gefährlich und dabei
unnütz; warum hält sich die Christenheit uicht an das klare und ausdrückliche
Gebot des Herrn: ihr sollt gar nicht schwören? Was insbesondre die Taufe
betrifft, so ist sie ein symbolischer Aufnahmeritus, sonst nichts. Soll die Kinder¬
taufe mehr, soll sie ein Gelöbnis sein, so muß sie als ungehörig und sinnlos
abgeschafft werden. Es gehört zu den Mißgriffen der Reformatoren, daß sie
mehrere richtige Konsequenzen ablehnten, die in dieser und in andern Be¬
ziehungen von den Wiedertäufern ans den reformatorischen Lehren gezogen
wurden.

Von Denifle gibt Weiß zu, daß er in seinem Buche eine unnötig ver¬
letzende Sprache geführt habe. Er entschuldigt ihn mit der Erregung, in der
er es geschrieben habe, und führt für diese drei Ursachen an, die ich gelten lasse.
Erstens Krankheit. Zweitens die Los von Rom-Bewegung, die ja in der Tat
einen gläubigen Katholiken, der noch dazu geborner Tiroler ist, tief verletzen
muß. Und er hat in dieser Bewegung eine ernstliche Gefahr für die Kirche


Grenzboten I 19V7 12
Donisie, Pater Weiß und das evangelische Christentum

schamlos ausbeuteten und durch die religiöse Form, in der das geschah, die
sittlichen und religiösen Begriffe und die Gewissen verwirrten. Wenn, weil
diese Ausbeutung und Verwirrung auf einem Dogma beruhte, durch ihre Ver¬
urteilung das ganze Dogmengebäude der Kirche ins Wanken geriet und all¬
mählich zusammenbrach, was Luther nicht sogleich bemerkte — um so schlimmer
für dieses Gebäude! Weiß rühmt gleich den meisten Katholiken von diesen,,
daß es ein geschlossenes Ganze sei, das nicht geteilt werden könne. Nun, die
Lehre vom Ablaß ist offenbar falsch, und daraus folgt also bei der an¬
genommenen Verkettung der Dogmen nach unsrer wie nach der orthodoxen
Logik, daß das ganze Glaubenssystem falsch ist. Es ist besonders die Furcht
vor dieser Folgerung, was die Kritik der Katholiken lahmt. Sie sagen sich:
wenn ich ein Steinchen Heransbreche, stürzt das ganze Gebände zusammen.
Darum schließen sie die Augen und klammern sich an „die Kirche" an. Auch
Denisle hat von sich bekannt: wenn er einmal vom Pfade der Orthodoxie abwiche,
so würde er ein ganz verzweifelter Glcmbensfeind werden. Die Gesinnung
solcher Männer ist sehr achtungswert, aber ihre Furcht entspringt der falschen
Vorstellung, daß der christliche Geist und das christliche Leben unlöslich mit einem
ausgearbeiteten theologischen System verkettet sei. Der lebendige Glaube und das
christliche Leben vieler evangelischer und Sektengemeinden beweist, wie unbegründet
diese Furcht ist. Um noch einmal auf Luthers vorgebliche Schuld zurückzukommen:
sie soll darin bestehn, daß er der Kirche ungehorsam wurde, der zu gehorchen er
durch Taufe und Eid verpflichtet war. Als Sechswochenkind kann man keinen
giltigen Eid ablegen, und wenn andre für einen geloben, so ist man als Erwachsener
durch dieses Gelöbnis nicht gebunden. Ja auch das eigne Gelöbnis eines Er¬
wachsenen bindet nicht, wenn es mit unvollständiger Einsicht in die Folgen ge¬
leistet worden ist. (Und das gilt von allen Klostergclöbnisfen junger Leute.)
Sind diese Folgen offenbar schlimm, so ist man verpflichtet, das unverständige
Gelöbnis zu brechen. Alles Schwören und Geloben ist gefährlich und dabei
unnütz; warum hält sich die Christenheit uicht an das klare und ausdrückliche
Gebot des Herrn: ihr sollt gar nicht schwören? Was insbesondre die Taufe
betrifft, so ist sie ein symbolischer Aufnahmeritus, sonst nichts. Soll die Kinder¬
taufe mehr, soll sie ein Gelöbnis sein, so muß sie als ungehörig und sinnlos
abgeschafft werden. Es gehört zu den Mißgriffen der Reformatoren, daß sie
mehrere richtige Konsequenzen ablehnten, die in dieser und in andern Be¬
ziehungen von den Wiedertäufern ans den reformatorischen Lehren gezogen
wurden.

Von Denifle gibt Weiß zu, daß er in seinem Buche eine unnötig ver¬
letzende Sprache geführt habe. Er entschuldigt ihn mit der Erregung, in der
er es geschrieben habe, und führt für diese drei Ursachen an, die ich gelten lasse.
Erstens Krankheit. Zweitens die Los von Rom-Bewegung, die ja in der Tat
einen gläubigen Katholiken, der noch dazu geborner Tiroler ist, tief verletzen
muß. Und er hat in dieser Bewegung eine ernstliche Gefahr für die Kirche


Grenzboten I 19V7 12
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/97>, abgerufen am 24.07.2024.