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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Denifle, Pater weiß und das evangelische Christentum

die Zahl der Dogmen möglichst zu reduzieren?) Ist das wirklich etwas
Schlimmes? Jesus spricht zu Martha: Eins nur ist notwendig, Ist nicht
die Eins die allerkleinste Zahl? (Denn von Brüchen kann hier, wo wir nicht
Arithmetik treiben, nicht die Rede sein.) Unter dem einen notwendigen verstehe
ich: den Glauben an den einen Gott, der die höchste Vernunft und Liebe ist,
und den guten Willen, diesem Gott auf vernünftige Weise und durch Übung
der Nächstenliebe nach besten, Wissen und Gewissen zu dienen. Dieses Eine
ist wirklich nur eines, obwohl es schon aussieht wie vier oder fünf "Glaubens¬
dinge". Es ist eben die Natur jedes lebendigen Einen, sich zu einer Vielheit
zu entfalten. Die Erkenntnis des Gläubigen kann unzählige Folgerungen aus
dem Grundglaubenssatze ziehn, die Praxis muß unzählige verschiedne An¬
wendungen davon macheu. Aber die Forderung, daß ich die Folgerungen, die
andre Leute gezogen haben, als Glaubenssätze annehmen, und daß von deren
Annahme meine Seligkeit abhängen soll, ist ungebührlich und lächerlich; be¬
sonders wenn es sich um das Glaubenssystem der römischen Kirche oder, was
dasselbe ist, der Scholastik handelt; denn dieses enthält Sätze, die, wie die Lehre
vom Teufel, von der Zauberei, vom Ablaß, unsägliches Unheil angerichtet haben,
ohne jemals den allergeringsten sittlichen, intellektuellen oder sonstigen Nutzen
zu stiften, und eine Menge andre Lehren, wir werden eine davon nennen, die
entweder der Vernunft oder der Erfahrung widersprechen. Das, worin sich die
Wirkung des christlichen Geistes am seeligsten, kräftigsten lind wohltätigsten er¬
weist, die Pfarrseelsorge, beruht ganz und gar auf jenem Einen. Sie besteht
darin, daß jenes Eine den Herzen eingepflanzt wird, und daß die Gläubigen
durch Wort, Beispiel und verständige Einrichtungen angeleitet werden, den von
jenem Einen geforderten und ermöglichten vernünftigen Tatgottesdicnst zu üben.
In diesem Wesentlichen der Pfarrtätigkeit besteht zwischen beiden Konfessionen
bei uns Deutschen wenigstens kein Unterschied. Wenn in die katholische Seel¬
sorge seit Pius dem Neunten unseligen Andenkens Rosenkränze, Skapuliere,
Ablässe, neue Heilige, Madonnen- und Papstvergötterung, Lourdesgrotteu und
ähnliche Dinge eingeschleppt und eingeschmuggelt worden sind, so hat das
wahrlich die echte christliche Seelsorge nicht gefördert. Solcher Kram erzeugt
nicht Christen, sondern Bigotterie und Fanatismus, Ketzerriecherei und Denun¬
ziantentum; und wenn man die Betschwestern beiderlei Geschlechts über die un¬
zähligen Dogmen, die die müßige Spekulation oder die Phantasie unbeschäftigter
Grübler produziert hat, examinierte, so würden sie die meisten nicht kennen und
bei der Nennung und Erklärung der übrigen uoch mehr Ketzereien verbrechen,
als es Dogmen gibt. Auch für den "Nihilismus" im Schoße des heutigen
Protestantismus wird Luther verantwortlich gemacht. Zugegeben, daß dieser
die Bahn auch für diese Entwicklung frei gemacht hat, so beherrscht der
Nihilismus doch bloß die protestantische Theologie, nicht das Gemeindeleben.
Gewiß ist auch ein großer Teil der protestantischen Bevölkerung dem Unglauben
verfallen; in Deutschland wenigstens; in Großbritannien und in Nordamerika


Denifle, Pater weiß und das evangelische Christentum

die Zahl der Dogmen möglichst zu reduzieren?) Ist das wirklich etwas
Schlimmes? Jesus spricht zu Martha: Eins nur ist notwendig, Ist nicht
die Eins die allerkleinste Zahl? (Denn von Brüchen kann hier, wo wir nicht
Arithmetik treiben, nicht die Rede sein.) Unter dem einen notwendigen verstehe
ich: den Glauben an den einen Gott, der die höchste Vernunft und Liebe ist,
und den guten Willen, diesem Gott auf vernünftige Weise und durch Übung
der Nächstenliebe nach besten, Wissen und Gewissen zu dienen. Dieses Eine
ist wirklich nur eines, obwohl es schon aussieht wie vier oder fünf „Glaubens¬
dinge". Es ist eben die Natur jedes lebendigen Einen, sich zu einer Vielheit
zu entfalten. Die Erkenntnis des Gläubigen kann unzählige Folgerungen aus
dem Grundglaubenssatze ziehn, die Praxis muß unzählige verschiedne An¬
wendungen davon macheu. Aber die Forderung, daß ich die Folgerungen, die
andre Leute gezogen haben, als Glaubenssätze annehmen, und daß von deren
Annahme meine Seligkeit abhängen soll, ist ungebührlich und lächerlich; be¬
sonders wenn es sich um das Glaubenssystem der römischen Kirche oder, was
dasselbe ist, der Scholastik handelt; denn dieses enthält Sätze, die, wie die Lehre
vom Teufel, von der Zauberei, vom Ablaß, unsägliches Unheil angerichtet haben,
ohne jemals den allergeringsten sittlichen, intellektuellen oder sonstigen Nutzen
zu stiften, und eine Menge andre Lehren, wir werden eine davon nennen, die
entweder der Vernunft oder der Erfahrung widersprechen. Das, worin sich die
Wirkung des christlichen Geistes am seeligsten, kräftigsten lind wohltätigsten er¬
weist, die Pfarrseelsorge, beruht ganz und gar auf jenem Einen. Sie besteht
darin, daß jenes Eine den Herzen eingepflanzt wird, und daß die Gläubigen
durch Wort, Beispiel und verständige Einrichtungen angeleitet werden, den von
jenem Einen geforderten und ermöglichten vernünftigen Tatgottesdicnst zu üben.
In diesem Wesentlichen der Pfarrtätigkeit besteht zwischen beiden Konfessionen
bei uns Deutschen wenigstens kein Unterschied. Wenn in die katholische Seel¬
sorge seit Pius dem Neunten unseligen Andenkens Rosenkränze, Skapuliere,
Ablässe, neue Heilige, Madonnen- und Papstvergötterung, Lourdesgrotteu und
ähnliche Dinge eingeschleppt und eingeschmuggelt worden sind, so hat das
wahrlich die echte christliche Seelsorge nicht gefördert. Solcher Kram erzeugt
nicht Christen, sondern Bigotterie und Fanatismus, Ketzerriecherei und Denun¬
ziantentum; und wenn man die Betschwestern beiderlei Geschlechts über die un¬
zähligen Dogmen, die die müßige Spekulation oder die Phantasie unbeschäftigter
Grübler produziert hat, examinierte, so würden sie die meisten nicht kennen und
bei der Nennung und Erklärung der übrigen uoch mehr Ketzereien verbrechen,
als es Dogmen gibt. Auch für den „Nihilismus" im Schoße des heutigen
Protestantismus wird Luther verantwortlich gemacht. Zugegeben, daß dieser
die Bahn auch für diese Entwicklung frei gemacht hat, so beherrscht der
Nihilismus doch bloß die protestantische Theologie, nicht das Gemeindeleben.
Gewiß ist auch ein großer Teil der protestantischen Bevölkerung dem Unglauben
verfallen; in Deutschland wenigstens; in Großbritannien und in Nordamerika


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/95>, abgerufen am 24.07.2024.