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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Denifle, Pater Weiß und das evangelische Christentum

Luther erleichtert, der auch vielleicht das Urteil über ihn selbst milder gestaltet
hätte, Denifle hat diesen Gegenstand keineswegs ganz übersehen, sondern zu
verschiednen malen auf die Psychologie Luthers hingewiesen. Er hat ihr nur
nicht die genügende Beachtung geschenkt. Trotz dieses Mangels steht er auch
in diesem Stück weit über den Biographien Luthers, die wir aus protestantischen
Federn haben. Diese vernachlässigen die Psychologie in höchst bedauerlicher
Weise." Diesem Mangel also will Weiß abhelfen und in einer psychologischen
Untersuchung die drei Fragen beantworten: "Wie ist Luther aufzufassen? Wie
ist das Zerrbild zu begreifen, das er aus der von ihm preisgegebnen katho¬
lischen Lehre gemacht hat? Wie ist das System zu erklären, das aus seinem
Geiste entstanden ist?"

Der Lutherpsychologie werden außer einer Einleitung, die u. a. von der
Macht des Vorurteils handelt, fünf Kapitel vorausgeschickt, deren erstes: "Die
Grundsätze für die Beurteilung des Reformationswerks" überschrieben ist.
Dann folgen: eine kritische Würdigung von Dcnifles Werk, "Vorbemerkungen
über unser Verhalten gegen Luther und die Reformation", "Die Lutherlegende
hinsichtlich der katholischen Lehre", "Die Lutherlegende hinsichtlich der Lehre
Luthers". Im ersten und im dritten dieser Kapitel ist das Prinzipielle ent¬
halten, wegen dessen ich mich aus den angeführten Gründen mit Weiß nicht
auseinandersetzen kann; übrigens würde, wenn ich es versuchen wollte, ein
ganzes Buch dabei herauskommen. Doch will ich wenigstens an einigen seiner
Äußerungen zeigen, wie ich meinen eignen Standpunkt ihm gegenüber zu wahren
vermag. Christus hat "nirgends ein Christentum gestiftet, nirgends eine eigne
Religion gegründet; wohl aber hat er die Kirche eingesetzt. Das Christentum
Christi existiert nur in der Form der Kirche." Daß Christus keine eigne
Religion gegründet habe, ist eine kühne Behauptung. Die weisesten und größten
Männer der Christenheit haben ihn immer als den Verkünder und Pflanzer
der höchsten und reinsten Religion verehrt. Daß er das kirchliche Gemeinde¬
leben gewollt und angeregt hat, leugnen wir nicht; dieses Gemeindeleben ist
das gewöhnliche Organ sowohl zur Erzeugung und Verbreitung des christlichen
Geistes wie zu seiner Betätigung. Aber die Meinung, daß ohne Teilnahme an
einer solchen Gemeinschaft christliche Gesinnung und christliches Leben nicht
möglich seien, oder daß der christliche Geist im kirchlichen Leben, gar im Leben
einer einzelnen bestimmten Kirchengemeinschaft wie etwa der römischen aufgehe,
das ist ein Irrtum, den die Weltgeschichte und die Erfahrung der Gegenwart
widerlegen. "Im Papst konzentriert sich das Christentum." Den Glauben an
den persönlichen Gott, an die Gottheit Christi und die Stiftung der christlichen
Religion durch Christus vorausgesetzt, ist das nach der Probe, die ich oben
vom päpstlichen Wirken und Wesen angeführt habe, die ärgste Gottes¬
lästerung -- natürlich nur objektiv. Der subjektive Irrtum von Männern wie
Weiß und Denifle ist psychologisch leicht zu erklären. Sie sind vergeistigte
Menschen von idealer Gesinnung und reinem Charakter, und weil sie diese Vor-


Denifle, Pater Weiß und das evangelische Christentum

Luther erleichtert, der auch vielleicht das Urteil über ihn selbst milder gestaltet
hätte, Denifle hat diesen Gegenstand keineswegs ganz übersehen, sondern zu
verschiednen malen auf die Psychologie Luthers hingewiesen. Er hat ihr nur
nicht die genügende Beachtung geschenkt. Trotz dieses Mangels steht er auch
in diesem Stück weit über den Biographien Luthers, die wir aus protestantischen
Federn haben. Diese vernachlässigen die Psychologie in höchst bedauerlicher
Weise." Diesem Mangel also will Weiß abhelfen und in einer psychologischen
Untersuchung die drei Fragen beantworten: „Wie ist Luther aufzufassen? Wie
ist das Zerrbild zu begreifen, das er aus der von ihm preisgegebnen katho¬
lischen Lehre gemacht hat? Wie ist das System zu erklären, das aus seinem
Geiste entstanden ist?"

Der Lutherpsychologie werden außer einer Einleitung, die u. a. von der
Macht des Vorurteils handelt, fünf Kapitel vorausgeschickt, deren erstes: „Die
Grundsätze für die Beurteilung des Reformationswerks" überschrieben ist.
Dann folgen: eine kritische Würdigung von Dcnifles Werk, „Vorbemerkungen
über unser Verhalten gegen Luther und die Reformation", „Die Lutherlegende
hinsichtlich der katholischen Lehre", „Die Lutherlegende hinsichtlich der Lehre
Luthers". Im ersten und im dritten dieser Kapitel ist das Prinzipielle ent¬
halten, wegen dessen ich mich aus den angeführten Gründen mit Weiß nicht
auseinandersetzen kann; übrigens würde, wenn ich es versuchen wollte, ein
ganzes Buch dabei herauskommen. Doch will ich wenigstens an einigen seiner
Äußerungen zeigen, wie ich meinen eignen Standpunkt ihm gegenüber zu wahren
vermag. Christus hat „nirgends ein Christentum gestiftet, nirgends eine eigne
Religion gegründet; wohl aber hat er die Kirche eingesetzt. Das Christentum
Christi existiert nur in der Form der Kirche." Daß Christus keine eigne
Religion gegründet habe, ist eine kühne Behauptung. Die weisesten und größten
Männer der Christenheit haben ihn immer als den Verkünder und Pflanzer
der höchsten und reinsten Religion verehrt. Daß er das kirchliche Gemeinde¬
leben gewollt und angeregt hat, leugnen wir nicht; dieses Gemeindeleben ist
das gewöhnliche Organ sowohl zur Erzeugung und Verbreitung des christlichen
Geistes wie zu seiner Betätigung. Aber die Meinung, daß ohne Teilnahme an
einer solchen Gemeinschaft christliche Gesinnung und christliches Leben nicht
möglich seien, oder daß der christliche Geist im kirchlichen Leben, gar im Leben
einer einzelnen bestimmten Kirchengemeinschaft wie etwa der römischen aufgehe,
das ist ein Irrtum, den die Weltgeschichte und die Erfahrung der Gegenwart
widerlegen. „Im Papst konzentriert sich das Christentum." Den Glauben an
den persönlichen Gott, an die Gottheit Christi und die Stiftung der christlichen
Religion durch Christus vorausgesetzt, ist das nach der Probe, die ich oben
vom päpstlichen Wirken und Wesen angeführt habe, die ärgste Gottes¬
lästerung — natürlich nur objektiv. Der subjektive Irrtum von Männern wie
Weiß und Denifle ist psychologisch leicht zu erklären. Sie sind vergeistigte
Menschen von idealer Gesinnung und reinem Charakter, und weil sie diese Vor-


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[0093] Denifle, Pater Weiß und das evangelische Christentum Luther erleichtert, der auch vielleicht das Urteil über ihn selbst milder gestaltet hätte, Denifle hat diesen Gegenstand keineswegs ganz übersehen, sondern zu verschiednen malen auf die Psychologie Luthers hingewiesen. Er hat ihr nur nicht die genügende Beachtung geschenkt. Trotz dieses Mangels steht er auch in diesem Stück weit über den Biographien Luthers, die wir aus protestantischen Federn haben. Diese vernachlässigen die Psychologie in höchst bedauerlicher Weise." Diesem Mangel also will Weiß abhelfen und in einer psychologischen Untersuchung die drei Fragen beantworten: „Wie ist Luther aufzufassen? Wie ist das Zerrbild zu begreifen, das er aus der von ihm preisgegebnen katho¬ lischen Lehre gemacht hat? Wie ist das System zu erklären, das aus seinem Geiste entstanden ist?" Der Lutherpsychologie werden außer einer Einleitung, die u. a. von der Macht des Vorurteils handelt, fünf Kapitel vorausgeschickt, deren erstes: „Die Grundsätze für die Beurteilung des Reformationswerks" überschrieben ist. Dann folgen: eine kritische Würdigung von Dcnifles Werk, „Vorbemerkungen über unser Verhalten gegen Luther und die Reformation", „Die Lutherlegende hinsichtlich der katholischen Lehre", „Die Lutherlegende hinsichtlich der Lehre Luthers". Im ersten und im dritten dieser Kapitel ist das Prinzipielle ent¬ halten, wegen dessen ich mich aus den angeführten Gründen mit Weiß nicht auseinandersetzen kann; übrigens würde, wenn ich es versuchen wollte, ein ganzes Buch dabei herauskommen. Doch will ich wenigstens an einigen seiner Äußerungen zeigen, wie ich meinen eignen Standpunkt ihm gegenüber zu wahren vermag. Christus hat „nirgends ein Christentum gestiftet, nirgends eine eigne Religion gegründet; wohl aber hat er die Kirche eingesetzt. Das Christentum Christi existiert nur in der Form der Kirche." Daß Christus keine eigne Religion gegründet habe, ist eine kühne Behauptung. Die weisesten und größten Männer der Christenheit haben ihn immer als den Verkünder und Pflanzer der höchsten und reinsten Religion verehrt. Daß er das kirchliche Gemeinde¬ leben gewollt und angeregt hat, leugnen wir nicht; dieses Gemeindeleben ist das gewöhnliche Organ sowohl zur Erzeugung und Verbreitung des christlichen Geistes wie zu seiner Betätigung. Aber die Meinung, daß ohne Teilnahme an einer solchen Gemeinschaft christliche Gesinnung und christliches Leben nicht möglich seien, oder daß der christliche Geist im kirchlichen Leben, gar im Leben einer einzelnen bestimmten Kirchengemeinschaft wie etwa der römischen aufgehe, das ist ein Irrtum, den die Weltgeschichte und die Erfahrung der Gegenwart widerlegen. „Im Papst konzentriert sich das Christentum." Den Glauben an den persönlichen Gott, an die Gottheit Christi und die Stiftung der christlichen Religion durch Christus vorausgesetzt, ist das nach der Probe, die ich oben vom päpstlichen Wirken und Wesen angeführt habe, die ärgste Gottes¬ lästerung — natürlich nur objektiv. Der subjektive Irrtum von Männern wie Weiß und Denifle ist psychologisch leicht zu erklären. Sie sind vergeistigte Menschen von idealer Gesinnung und reinem Charakter, und weil sie diese Vor-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/93>, abgerufen am 24.07.2024.