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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Hind wir eine Nation?

me seltsame Frage an der Schwelle des neuen Jahres, vierzig
Jahre, nachdem die Gründung des Norddeutschen Bundes dem
größten Teile des Vaterlandes eine neue Gesamtverfassung ge¬
geben, sechsunddreißig Jahre nach der Kaiserproklamation von
Versailles, die diese politische Neugestaltung glorreich abschloß,
aber leider eine berechtigte Frage, die uneingeschränkt zu bejahen unmöglich ist.
Denn diese Jahrzehnte voll Arbeit und Erfolge haben nicht vermocht, die
Deutschen des Reichs zu Reichsbürgern im vollen Sinne des Wortes zu machen,
die Massen unsers Volkes zu einer in allen großen, die Lebensinteressen der
Gesamtheit betreffenden Fragen einheitlich fühlenden, denkenden und wollenden
politischen Gemeinschaft zusammenzuschweißen. Unsre Fähigkeiten haben eben
niemals auf dem politischen Gebiete gelegen. Wir haben wirtschaftlich ungeheure
Fortschritte gemacht, unsre Industrie, unser Handel stehn mit in erster Reihe,
deutsche Arbeit, deutsches Kapital, deutsche Siedlungen, deutsche Missionen sind
über die ganze Welt verbreitet, wir sind im Begriffe, ein reiches Volk zu
werden, das Reich hat für die handarbeitenden Massen in einer so umfassenden
Weise gesorgt, wie es sonst nirgends auch uur versucht worden ist, unsre Wissen¬
schaft behauptet den ersten Rang in der Welt, unsre Verwaltung ist die redlichste
und pünktlichste, die es gibt. Niemals ist auch das "Nationale" auf allen
möglichen Gebieten so beflissen und so nachdrücklich betont worden wie heute,
vor allem in Kunst und Erziehung; es übt da sogar einen ähnlichen Zauber
aus, wie die Schlagwörter "modern", "Fortschritt" u. a., und "was die Ein¬
bildung phantastisch schleppt in diesen dunkeln Namen, das bürdet sie den Sachen
auf und Wesen"; eine Sache gilt für entschieden, wenn sie mit diesen Namen
oder mit den entgegengesetzten, wie "rückständig", "reaktionär", bezeichnet werden
kann, aber leider verschwinden für die meisten in einer Wolke von Patriotischen
und modernen Phrasen die Dinge selbst. Leider auch bei patriotischen Festen,
die immer weit mehr unsre Stärke gewesen sind als patriotische Taten.


Grenzboten I 1907 1


Hind wir eine Nation?

me seltsame Frage an der Schwelle des neuen Jahres, vierzig
Jahre, nachdem die Gründung des Norddeutschen Bundes dem
größten Teile des Vaterlandes eine neue Gesamtverfassung ge¬
geben, sechsunddreißig Jahre nach der Kaiserproklamation von
Versailles, die diese politische Neugestaltung glorreich abschloß,
aber leider eine berechtigte Frage, die uneingeschränkt zu bejahen unmöglich ist.
Denn diese Jahrzehnte voll Arbeit und Erfolge haben nicht vermocht, die
Deutschen des Reichs zu Reichsbürgern im vollen Sinne des Wortes zu machen,
die Massen unsers Volkes zu einer in allen großen, die Lebensinteressen der
Gesamtheit betreffenden Fragen einheitlich fühlenden, denkenden und wollenden
politischen Gemeinschaft zusammenzuschweißen. Unsre Fähigkeiten haben eben
niemals auf dem politischen Gebiete gelegen. Wir haben wirtschaftlich ungeheure
Fortschritte gemacht, unsre Industrie, unser Handel stehn mit in erster Reihe,
deutsche Arbeit, deutsches Kapital, deutsche Siedlungen, deutsche Missionen sind
über die ganze Welt verbreitet, wir sind im Begriffe, ein reiches Volk zu
werden, das Reich hat für die handarbeitenden Massen in einer so umfassenden
Weise gesorgt, wie es sonst nirgends auch uur versucht worden ist, unsre Wissen¬
schaft behauptet den ersten Rang in der Welt, unsre Verwaltung ist die redlichste
und pünktlichste, die es gibt. Niemals ist auch das „Nationale" auf allen
möglichen Gebieten so beflissen und so nachdrücklich betont worden wie heute,
vor allem in Kunst und Erziehung; es übt da sogar einen ähnlichen Zauber
aus, wie die Schlagwörter „modern", „Fortschritt" u. a., und „was die Ein¬
bildung phantastisch schleppt in diesen dunkeln Namen, das bürdet sie den Sachen
auf und Wesen"; eine Sache gilt für entschieden, wenn sie mit diesen Namen
oder mit den entgegengesetzten, wie „rückständig", „reaktionär", bezeichnet werden
kann, aber leider verschwinden für die meisten in einer Wolke von Patriotischen
und modernen Phrasen die Dinge selbst. Leider auch bei patriotischen Festen,
die immer weit mehr unsre Stärke gewesen sind als patriotische Taten.


Grenzboten I 1907 1
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[0009] [Abbildung] Hind wir eine Nation? me seltsame Frage an der Schwelle des neuen Jahres, vierzig Jahre, nachdem die Gründung des Norddeutschen Bundes dem größten Teile des Vaterlandes eine neue Gesamtverfassung ge¬ geben, sechsunddreißig Jahre nach der Kaiserproklamation von Versailles, die diese politische Neugestaltung glorreich abschloß, aber leider eine berechtigte Frage, die uneingeschränkt zu bejahen unmöglich ist. Denn diese Jahrzehnte voll Arbeit und Erfolge haben nicht vermocht, die Deutschen des Reichs zu Reichsbürgern im vollen Sinne des Wortes zu machen, die Massen unsers Volkes zu einer in allen großen, die Lebensinteressen der Gesamtheit betreffenden Fragen einheitlich fühlenden, denkenden und wollenden politischen Gemeinschaft zusammenzuschweißen. Unsre Fähigkeiten haben eben niemals auf dem politischen Gebiete gelegen. Wir haben wirtschaftlich ungeheure Fortschritte gemacht, unsre Industrie, unser Handel stehn mit in erster Reihe, deutsche Arbeit, deutsches Kapital, deutsche Siedlungen, deutsche Missionen sind über die ganze Welt verbreitet, wir sind im Begriffe, ein reiches Volk zu werden, das Reich hat für die handarbeitenden Massen in einer so umfassenden Weise gesorgt, wie es sonst nirgends auch uur versucht worden ist, unsre Wissen¬ schaft behauptet den ersten Rang in der Welt, unsre Verwaltung ist die redlichste und pünktlichste, die es gibt. Niemals ist auch das „Nationale" auf allen möglichen Gebieten so beflissen und so nachdrücklich betont worden wie heute, vor allem in Kunst und Erziehung; es übt da sogar einen ähnlichen Zauber aus, wie die Schlagwörter „modern", „Fortschritt" u. a., und „was die Ein¬ bildung phantastisch schleppt in diesen dunkeln Namen, das bürdet sie den Sachen auf und Wesen"; eine Sache gilt für entschieden, wenn sie mit diesen Namen oder mit den entgegengesetzten, wie „rückständig", „reaktionär", bezeichnet werden kann, aber leider verschwinden für die meisten in einer Wolke von Patriotischen und modernen Phrasen die Dinge selbst. Leider auch bei patriotischen Festen, die immer weit mehr unsre Stärke gewesen sind als patriotische Taten. Grenzboten I 1907 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/9>, abgerufen am 04.07.2024.