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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Beiträge zur Rassenkunde

Jean Finot (Das Rassenvorurteil von Jean Finot. Autorisierte Über¬
setzung aus dem Französischen von E. Müller-Ruder. Berlin, Hüpeden und
Merzyn, 1906) erklärt, um es kurz zu sagen, die ganze moderne Rassentheorie
für einen Schwindel, für ein jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrendes
Erzeugnis von Leidenschaft und Interesse. Natürlich ist auch seine radikale
Kritik aus Leidenschaft und Interesse hervorgegangen. Als Franzose muß er
sich gekränkt fühlen, wenn die deutschen Gelehrten, unterstützt von seinen Lands¬
leuten Gobineau und Lapouge, die Überlegenheit der Deutschen über die Fran¬
zosen aus der Anthropologie und Biologie erklären. Und er ist ein Demokrat,
dessen humane Seele sich empört, wenn Unterdrückung und Ausrottung ganzer
Völker oder Bevölkerungsschichten mit dem natürlichen Herrenrecht entschuldigt
oder empfohlen werden. Entrüstet wendet er sich gegen die mancherlei Züch¬
tungsvorschläge, die den Menschen ganz wie ein Tier behandeln, und er hat
Recht, wenn er auf Sparta hinweist, dessen Menschenzüchtung mit dem Aus¬
sterben seines Herrenvölkchens geendet habe. Nicht ganz so überzeugend wirkt
der Hinweis auf Indien, dessen klägliches Schicksal durch die ängstliche Fürsorge
für die Neinblütigkeit der Herrenkaste nicht abgewandt worden sei, denn die
Schlaffheit der Inder aller Rassen ist eine Wirkung des Klimas. Er führt u. a.
aus, die Langköpfigkeit sei eine für die Bestimmung der verschiednen Menschen¬
arten ganz wertlose Eigenschaft (bei einer frühern Gelegenheit haben wir
angeführt, daß die Neger Dolichozephalen sind); zudem würden die Schädel¬
messungen nach so viel verschiednen Methoden vorgenommen, daß die Index¬
zahlen (der Index ist der Bruch, der die Breite zum Zähler, die Länge zum
Nenner hat) außerordentlich verschieden ausfielen. Alle Änderungen des Menschen¬
leibes seien Wirkungen des Klimas, des Bodens, der Ernährung, Beschäftigung,
der ganzen Lebensweise, der Kulturstufe, der sozialen Zustände. Entscheidend
seien namentlich auch die geistigen Einflüsse wie Religion und Bildung. Keiner
dieser Einflüsse jedoch und auch nicht ihre vereinte Kraft bewirke eine Ver¬
änderung, die dazu berechtige, von verschiednen Menschenrassen zu sprechen;
die Menschen aller sogenannten Rassen hätten denselben anatomischen Bau und
dieselbe Zusammensetzung des Blutes, was bei Tieren verschiedner Gattung nicht
der Fall sei. In Beziehung auf die Arier habe erst kürzlich K. Hartmann er¬
klärt, daß sie niemals als Urvolk existiert haben, sondern nur als eine Erfindung
von Stubengelehrten, und lange vorher schon habe Virchow dasselbe gesagt.
Französische Anthropologen hätte die Entartung der Pariser beschrieben. "Es
ist an ihnen nicht bloß eine merkliche Abnahme der Körpergröße wahrzunehmen,
sondern es zeigen sich auch skrofulöse, häufige Mißbildungen des Rückgrats,
der Glieder, der Gesichtsknochen." spätestens in der fünften Generation sterben
die Pariser Familien aus, sodaß die Bevölkerung dieser Stadt des beständigen
Zuflusses von außen bedarf. "Stellen wir uns vor, die Stadt Paris wäre
mit dem Fortbestand ihrer Bevölkerung ausschließlich auf sich selbst ange¬
wiesen, so würden wir eine Entartung erleben, deren Produkt sin den paar


Beiträge zur Rassenkunde

Jean Finot (Das Rassenvorurteil von Jean Finot. Autorisierte Über¬
setzung aus dem Französischen von E. Müller-Ruder. Berlin, Hüpeden und
Merzyn, 1906) erklärt, um es kurz zu sagen, die ganze moderne Rassentheorie
für einen Schwindel, für ein jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrendes
Erzeugnis von Leidenschaft und Interesse. Natürlich ist auch seine radikale
Kritik aus Leidenschaft und Interesse hervorgegangen. Als Franzose muß er
sich gekränkt fühlen, wenn die deutschen Gelehrten, unterstützt von seinen Lands¬
leuten Gobineau und Lapouge, die Überlegenheit der Deutschen über die Fran¬
zosen aus der Anthropologie und Biologie erklären. Und er ist ein Demokrat,
dessen humane Seele sich empört, wenn Unterdrückung und Ausrottung ganzer
Völker oder Bevölkerungsschichten mit dem natürlichen Herrenrecht entschuldigt
oder empfohlen werden. Entrüstet wendet er sich gegen die mancherlei Züch¬
tungsvorschläge, die den Menschen ganz wie ein Tier behandeln, und er hat
Recht, wenn er auf Sparta hinweist, dessen Menschenzüchtung mit dem Aus¬
sterben seines Herrenvölkchens geendet habe. Nicht ganz so überzeugend wirkt
der Hinweis auf Indien, dessen klägliches Schicksal durch die ängstliche Fürsorge
für die Neinblütigkeit der Herrenkaste nicht abgewandt worden sei, denn die
Schlaffheit der Inder aller Rassen ist eine Wirkung des Klimas. Er führt u. a.
aus, die Langköpfigkeit sei eine für die Bestimmung der verschiednen Menschen¬
arten ganz wertlose Eigenschaft (bei einer frühern Gelegenheit haben wir
angeführt, daß die Neger Dolichozephalen sind); zudem würden die Schädel¬
messungen nach so viel verschiednen Methoden vorgenommen, daß die Index¬
zahlen (der Index ist der Bruch, der die Breite zum Zähler, die Länge zum
Nenner hat) außerordentlich verschieden ausfielen. Alle Änderungen des Menschen¬
leibes seien Wirkungen des Klimas, des Bodens, der Ernährung, Beschäftigung,
der ganzen Lebensweise, der Kulturstufe, der sozialen Zustände. Entscheidend
seien namentlich auch die geistigen Einflüsse wie Religion und Bildung. Keiner
dieser Einflüsse jedoch und auch nicht ihre vereinte Kraft bewirke eine Ver¬
änderung, die dazu berechtige, von verschiednen Menschenrassen zu sprechen;
die Menschen aller sogenannten Rassen hätten denselben anatomischen Bau und
dieselbe Zusammensetzung des Blutes, was bei Tieren verschiedner Gattung nicht
der Fall sei. In Beziehung auf die Arier habe erst kürzlich K. Hartmann er¬
klärt, daß sie niemals als Urvolk existiert haben, sondern nur als eine Erfindung
von Stubengelehrten, und lange vorher schon habe Virchow dasselbe gesagt.
Französische Anthropologen hätte die Entartung der Pariser beschrieben. „Es
ist an ihnen nicht bloß eine merkliche Abnahme der Körpergröße wahrzunehmen,
sondern es zeigen sich auch skrofulöse, häufige Mißbildungen des Rückgrats,
der Glieder, der Gesichtsknochen." spätestens in der fünften Generation sterben
die Pariser Familien aus, sodaß die Bevölkerung dieser Stadt des beständigen
Zuflusses von außen bedarf. „Stellen wir uns vor, die Stadt Paris wäre
mit dem Fortbestand ihrer Bevölkerung ausschließlich auf sich selbst ange¬
wiesen, so würden wir eine Entartung erleben, deren Produkt sin den paar


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[0699] Beiträge zur Rassenkunde Jean Finot (Das Rassenvorurteil von Jean Finot. Autorisierte Über¬ setzung aus dem Französischen von E. Müller-Ruder. Berlin, Hüpeden und Merzyn, 1906) erklärt, um es kurz zu sagen, die ganze moderne Rassentheorie für einen Schwindel, für ein jeder wissenschaftlichen Grundlage entbehrendes Erzeugnis von Leidenschaft und Interesse. Natürlich ist auch seine radikale Kritik aus Leidenschaft und Interesse hervorgegangen. Als Franzose muß er sich gekränkt fühlen, wenn die deutschen Gelehrten, unterstützt von seinen Lands¬ leuten Gobineau und Lapouge, die Überlegenheit der Deutschen über die Fran¬ zosen aus der Anthropologie und Biologie erklären. Und er ist ein Demokrat, dessen humane Seele sich empört, wenn Unterdrückung und Ausrottung ganzer Völker oder Bevölkerungsschichten mit dem natürlichen Herrenrecht entschuldigt oder empfohlen werden. Entrüstet wendet er sich gegen die mancherlei Züch¬ tungsvorschläge, die den Menschen ganz wie ein Tier behandeln, und er hat Recht, wenn er auf Sparta hinweist, dessen Menschenzüchtung mit dem Aus¬ sterben seines Herrenvölkchens geendet habe. Nicht ganz so überzeugend wirkt der Hinweis auf Indien, dessen klägliches Schicksal durch die ängstliche Fürsorge für die Neinblütigkeit der Herrenkaste nicht abgewandt worden sei, denn die Schlaffheit der Inder aller Rassen ist eine Wirkung des Klimas. Er führt u. a. aus, die Langköpfigkeit sei eine für die Bestimmung der verschiednen Menschen¬ arten ganz wertlose Eigenschaft (bei einer frühern Gelegenheit haben wir angeführt, daß die Neger Dolichozephalen sind); zudem würden die Schädel¬ messungen nach so viel verschiednen Methoden vorgenommen, daß die Index¬ zahlen (der Index ist der Bruch, der die Breite zum Zähler, die Länge zum Nenner hat) außerordentlich verschieden ausfielen. Alle Änderungen des Menschen¬ leibes seien Wirkungen des Klimas, des Bodens, der Ernährung, Beschäftigung, der ganzen Lebensweise, der Kulturstufe, der sozialen Zustände. Entscheidend seien namentlich auch die geistigen Einflüsse wie Religion und Bildung. Keiner dieser Einflüsse jedoch und auch nicht ihre vereinte Kraft bewirke eine Ver¬ änderung, die dazu berechtige, von verschiednen Menschenrassen zu sprechen; die Menschen aller sogenannten Rassen hätten denselben anatomischen Bau und dieselbe Zusammensetzung des Blutes, was bei Tieren verschiedner Gattung nicht der Fall sei. In Beziehung auf die Arier habe erst kürzlich K. Hartmann er¬ klärt, daß sie niemals als Urvolk existiert haben, sondern nur als eine Erfindung von Stubengelehrten, und lange vorher schon habe Virchow dasselbe gesagt. Französische Anthropologen hätte die Entartung der Pariser beschrieben. „Es ist an ihnen nicht bloß eine merkliche Abnahme der Körpergröße wahrzunehmen, sondern es zeigen sich auch skrofulöse, häufige Mißbildungen des Rückgrats, der Glieder, der Gesichtsknochen." spätestens in der fünften Generation sterben die Pariser Familien aus, sodaß die Bevölkerung dieser Stadt des beständigen Zuflusses von außen bedarf. „Stellen wir uns vor, die Stadt Paris wäre mit dem Fortbestand ihrer Bevölkerung ausschließlich auf sich selbst ange¬ wiesen, so würden wir eine Entartung erleben, deren Produkt sin den paar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/699>, abgerufen am 24.07.2024.