Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.Bernard Shaw als Dramatiker Wir uns auf Erden zu verschaffen trachten." Aber darum will er arbeiten, Bernard Shaw als Dramatiker Wir uns auf Erden zu verschaffen trachten." Aber darum will er arbeiten, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0567" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301821"/> <fw type="header" place="top"> Bernard Shaw als Dramatiker</fw><lb/> <p xml:id="ID_2096" prev="#ID_2095" next="#ID_2097"> Wir uns auf Erden zu verschaffen trachten." Aber darum will er arbeiten,<lb/> wirken, schaffen. „Ein braver Mann fühlt, daß er dem Himmel jede Stunde<lb/> des Glücks mit einem guten harten Stück selbstloser Arbeit bezahlen muß, um<lb/> seine Nebenmenschen zu beglücken. Wir haben nicht mehr Recht, Glück zu<lb/> konsumieren, ohne es zu produzieren, als Reichtum einzunehmen, ohne ihn<lb/> auszugeben." Candida hält alle diese Bemühungen, Pläne und Arbeiten ihres<lb/> Mannes für ein vergebliches Werk: die Männer berauschten sich an dem<lb/> Schwung und der Schönheit seiner Worte, und die Frauen seien, wie alle<lb/> seine Sekretärinnen, in ihn verliebt. Sie fühlt sich vernachlässigt, eine Stelle<lb/> ihres Herzens bleibt leer. Da wird ein junger Dichter, Eugen Marchbanks,<lb/> der schlecht behandelte Sohn einer altadlichen Familie, in ihr Haus geführt.<lb/> Eugen lebt mit seiner schwärmerischen Seele ganz in der Empfindungswelt<lb/> der präraffaelitischen Dichterschule. Er sucht nach dem Madonnenideal und<lb/> findet es in Candida; wie zu einer Heiligen schaut er, der zwanzigjährige<lb/> Jüngling, zu ihr, der Fünfunddreißigjährigen empor, und alles, was sich in<lb/> ihm, der in seiner Familie niemals den Begriff der Liebe kennen gelernt hat,<lb/> an Schwärmerei, Begeisterung und Verzückung angesammelt hat, das über¬<lb/> trägt er auf Candida. Er verehrt sie mit religiöser Andacht, mit zarter,<lb/> keuscher, himmlischer Liebe. Um so mehr empört es ihn, daß der Pfarrer<lb/> dieses Ideal nicht zu würdigen scheint. „Ist es hier immer so gewesen, ruft er<lb/> ihm zu, daß eine Frau mit einer großen Seele, die nach Wahrheit, Wirklich¬<lb/> keit und Freiheit dürstet, bloß mit Metaphern, Predigten und hochtrabenden,<lb/> verbrauchten Redensarten abgespeist wird? Glauben Sie, daß die Seele einer<lb/> Frau von Ihrem Predigertalent leben kann?" Eugen gesteht dem Pfarrer, daß<lb/> er Candida liebe, und daß er allein Candida ganz verstünde. In seiner knaben¬<lb/> haften, leidenschaftlichen Art reizt er den Pfarrer so, daß dieser ihn schließlich<lb/> Packt und durchschüttelt. Candida kommt hinzu und nimmt sich des armen,<lb/> zerzausten jungen Dichters mit mütterlicher Liebe an. Eugen ist glücklich, aber<lb/> in Morells Seele senkt sich der ganze Nebel der Ungewißheit, der Furcht,<lb/> der Eifersucht. Dieser junge unreife Mensch mit seinem „poetischen Abscheu",<lb/> mit seinen verworrenen Begriffen, seiner melancholischen Schwärmerei scheint<lb/> ihm den Frieden, das Glück des Hauses zu rauben. Er ist wie niederge¬<lb/> schmettert, als Candida ihm gesteht: „Es scheint mir ungerecht, daß alle Liebe<lb/> zu dir gehn soll und keine zu ihm, obgleich er sie soviel nötiger hat als du."<lb/> Als Morett eines Abends aus einer christlichsozialen Versammlung zurückkehrt,<lb/> findet er den jungen Dichter knieend vor Candida mit seinen Händen auf<lb/> ihrem Schoße wie in religiöser Verzückung vor einem Madonnenbilde. „Sie<lb/> gab mir alles, worum ich bat, sagt er begeistert zum Pfarrer, ihren Schleier,<lb/> ihre Flügel, den Sternenkranz aus ihrem Haar, die Lilien in ihrer weißen<lb/> Hand, den aufgehenden Mond zu ihren Füßen." Es kommt zu einer für<lb/> den Pfarrer qualvollen Szene. Candida soll zwischen beiden wählen. Sie<lb/> will sich dem Schwächern hingeben — als der Schwächere, als das Wesen,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0567]
Bernard Shaw als Dramatiker
Wir uns auf Erden zu verschaffen trachten." Aber darum will er arbeiten,
wirken, schaffen. „Ein braver Mann fühlt, daß er dem Himmel jede Stunde
des Glücks mit einem guten harten Stück selbstloser Arbeit bezahlen muß, um
seine Nebenmenschen zu beglücken. Wir haben nicht mehr Recht, Glück zu
konsumieren, ohne es zu produzieren, als Reichtum einzunehmen, ohne ihn
auszugeben." Candida hält alle diese Bemühungen, Pläne und Arbeiten ihres
Mannes für ein vergebliches Werk: die Männer berauschten sich an dem
Schwung und der Schönheit seiner Worte, und die Frauen seien, wie alle
seine Sekretärinnen, in ihn verliebt. Sie fühlt sich vernachlässigt, eine Stelle
ihres Herzens bleibt leer. Da wird ein junger Dichter, Eugen Marchbanks,
der schlecht behandelte Sohn einer altadlichen Familie, in ihr Haus geführt.
Eugen lebt mit seiner schwärmerischen Seele ganz in der Empfindungswelt
der präraffaelitischen Dichterschule. Er sucht nach dem Madonnenideal und
findet es in Candida; wie zu einer Heiligen schaut er, der zwanzigjährige
Jüngling, zu ihr, der Fünfunddreißigjährigen empor, und alles, was sich in
ihm, der in seiner Familie niemals den Begriff der Liebe kennen gelernt hat,
an Schwärmerei, Begeisterung und Verzückung angesammelt hat, das über¬
trägt er auf Candida. Er verehrt sie mit religiöser Andacht, mit zarter,
keuscher, himmlischer Liebe. Um so mehr empört es ihn, daß der Pfarrer
dieses Ideal nicht zu würdigen scheint. „Ist es hier immer so gewesen, ruft er
ihm zu, daß eine Frau mit einer großen Seele, die nach Wahrheit, Wirklich¬
keit und Freiheit dürstet, bloß mit Metaphern, Predigten und hochtrabenden,
verbrauchten Redensarten abgespeist wird? Glauben Sie, daß die Seele einer
Frau von Ihrem Predigertalent leben kann?" Eugen gesteht dem Pfarrer, daß
er Candida liebe, und daß er allein Candida ganz verstünde. In seiner knaben¬
haften, leidenschaftlichen Art reizt er den Pfarrer so, daß dieser ihn schließlich
Packt und durchschüttelt. Candida kommt hinzu und nimmt sich des armen,
zerzausten jungen Dichters mit mütterlicher Liebe an. Eugen ist glücklich, aber
in Morells Seele senkt sich der ganze Nebel der Ungewißheit, der Furcht,
der Eifersucht. Dieser junge unreife Mensch mit seinem „poetischen Abscheu",
mit seinen verworrenen Begriffen, seiner melancholischen Schwärmerei scheint
ihm den Frieden, das Glück des Hauses zu rauben. Er ist wie niederge¬
schmettert, als Candida ihm gesteht: „Es scheint mir ungerecht, daß alle Liebe
zu dir gehn soll und keine zu ihm, obgleich er sie soviel nötiger hat als du."
Als Morett eines Abends aus einer christlichsozialen Versammlung zurückkehrt,
findet er den jungen Dichter knieend vor Candida mit seinen Händen auf
ihrem Schoße wie in religiöser Verzückung vor einem Madonnenbilde. „Sie
gab mir alles, worum ich bat, sagt er begeistert zum Pfarrer, ihren Schleier,
ihre Flügel, den Sternenkranz aus ihrem Haar, die Lilien in ihrer weißen
Hand, den aufgehenden Mond zu ihren Füßen." Es kommt zu einer für
den Pfarrer qualvollen Szene. Candida soll zwischen beiden wählen. Sie
will sich dem Schwächern hingeben — als der Schwächere, als das Wesen,
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