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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Russische Briefe

Würden mit Hilfe des Bundes und der wenigen vorhandnen Sozialrevolutionäre
gewählt werden. Ich selbst glaube nicht daran, bin vielmehr davon überzeugt,
daß in ganz Polen Nationaldemokraten oder Realisten gewählt werden.*)

Die Nationalisten stellen die Partei des gesunden polnischen Volkes dar.
Ihre Hauptstützen sind der große und der kleine Grundbesitzer, die Ingenieure,
die Lehrer und der Klerus, denen ein treu katholisches Bauernvolk zur Seite
steht. In sich ist die Partei nach zwei taktischen Einheiten gespalten: die
radikalern, unruhigern Nationaldemokraten und die Partei der realen
Politik. Natürlich haben beide ewig Reibereien miteinander, wie ein paar
uneingefahrner Pferde, die denselben Karren ziehen sollen. Die zweite Gruppe
stellt das letzte Entwicklungsstadium der "Ugodowce" dar. Obwohl sie tatsächlich
Ugodowce sind, das heißt eine Politik mit Hilfe der russischen Machthaber
predigen, nennen sie sich Realisten, weil sie in der ersten Duma durch ihr
Zusammengehen mit den Kadetten zu sehr in den Verdacht kamen, dem Freisinn
zu huldigen, der Negierung gegenüber aber als Nationalisten, "Allpolen", kom¬
promittiert sind. Gegenwärtig wird es in Polen als Schande betrachtet, jemals
ein "Ugodowce" gewesen zu sein.

Was die Allpolen wollen, brauche ich kaum auseinanderzusetzen; nicht
ganz bekannt dürfte in Deutschland ihre gegenwärtige Politik sein. Diese Politik
richtet sich auf drei Gebiete: gegenüber Rußland, gegenüber Deutschland und
gegenüber dem eignen Volk. Die Leiter der Politik sitzen in Lemberg und Krakau,
ihre Hauptagenten in Warschau, Petersburg und Berlin. Wie sie mit Deutsch¬
land umspringen möchten, haben wir in Posen erfahren. In den Städten arbeiten
sie mit der Sozialdemokratie, auf dem platten Lande mit dem Klerus. In
Nußland ist man vorsichtiger. Sämtliche geistigen und materiellen Kräfte und
alle diplomatische Geschicklichkeit sind im Augenblick darauf gerichtet, im Zartum
Polen jene kümmerlichen Anfänge einer Selbstverwaltung einzurichten, wie sie in
Rußland durch das Sjemstwostatut von 1890 (Gesetzsammlung Band II, 1)
vorhanden sind. Man wird diesen Wunsch der Polen verstehen, wenn man sich
daran erinnert, daß nach jenem Statut erstens die Besitzer von etwa 250 Hektaren
Land (je nach der Güte des Bodens in den einzelnen Kreisen mehr oder weniger)
in erster Linie wahlberechtigt sind, daß zweitens die Bauern nur 40 Prozent
der Sjemstwoabgeordneten darstellen können, daß drittens sämtliche Kreis- und
Gouvernementsadelsmarschülle -- das sind ebenfalls Großgrundbesitzer -- ohne
weiteres Sitz und Stimme in den Sjemstwoversammlungen haben, und schließlich,
daß viertens die Juden grundsätzlich von der Sjemstwoorganisation ausgeschlossen
sind. Wollte die Regierung diesem ungeheuer bescheiden aussehenden Wunsch
entsprechen, dann würde sie alle Errungenschaften der Agrarreform von 1864
und alle nationalen Einrichtungen bis 1904 mit einem Strich vernichten;
denn der Großgrundbesitzer, der heute mit den Bauern einzig durch das ihm
höchst lustige Servitutenrecht in Berührung kommt, würde Herr der gesamten



*) Die Wahlen haben inzwischen das vorausgesehene Ergebnis gehabt.
Russische Briefe

Würden mit Hilfe des Bundes und der wenigen vorhandnen Sozialrevolutionäre
gewählt werden. Ich selbst glaube nicht daran, bin vielmehr davon überzeugt,
daß in ganz Polen Nationaldemokraten oder Realisten gewählt werden.*)

Die Nationalisten stellen die Partei des gesunden polnischen Volkes dar.
Ihre Hauptstützen sind der große und der kleine Grundbesitzer, die Ingenieure,
die Lehrer und der Klerus, denen ein treu katholisches Bauernvolk zur Seite
steht. In sich ist die Partei nach zwei taktischen Einheiten gespalten: die
radikalern, unruhigern Nationaldemokraten und die Partei der realen
Politik. Natürlich haben beide ewig Reibereien miteinander, wie ein paar
uneingefahrner Pferde, die denselben Karren ziehen sollen. Die zweite Gruppe
stellt das letzte Entwicklungsstadium der „Ugodowce" dar. Obwohl sie tatsächlich
Ugodowce sind, das heißt eine Politik mit Hilfe der russischen Machthaber
predigen, nennen sie sich Realisten, weil sie in der ersten Duma durch ihr
Zusammengehen mit den Kadetten zu sehr in den Verdacht kamen, dem Freisinn
zu huldigen, der Negierung gegenüber aber als Nationalisten, „Allpolen", kom¬
promittiert sind. Gegenwärtig wird es in Polen als Schande betrachtet, jemals
ein „Ugodowce" gewesen zu sein.

Was die Allpolen wollen, brauche ich kaum auseinanderzusetzen; nicht
ganz bekannt dürfte in Deutschland ihre gegenwärtige Politik sein. Diese Politik
richtet sich auf drei Gebiete: gegenüber Rußland, gegenüber Deutschland und
gegenüber dem eignen Volk. Die Leiter der Politik sitzen in Lemberg und Krakau,
ihre Hauptagenten in Warschau, Petersburg und Berlin. Wie sie mit Deutsch¬
land umspringen möchten, haben wir in Posen erfahren. In den Städten arbeiten
sie mit der Sozialdemokratie, auf dem platten Lande mit dem Klerus. In
Nußland ist man vorsichtiger. Sämtliche geistigen und materiellen Kräfte und
alle diplomatische Geschicklichkeit sind im Augenblick darauf gerichtet, im Zartum
Polen jene kümmerlichen Anfänge einer Selbstverwaltung einzurichten, wie sie in
Rußland durch das Sjemstwostatut von 1890 (Gesetzsammlung Band II, 1)
vorhanden sind. Man wird diesen Wunsch der Polen verstehen, wenn man sich
daran erinnert, daß nach jenem Statut erstens die Besitzer von etwa 250 Hektaren
Land (je nach der Güte des Bodens in den einzelnen Kreisen mehr oder weniger)
in erster Linie wahlberechtigt sind, daß zweitens die Bauern nur 40 Prozent
der Sjemstwoabgeordneten darstellen können, daß drittens sämtliche Kreis- und
Gouvernementsadelsmarschülle — das sind ebenfalls Großgrundbesitzer — ohne
weiteres Sitz und Stimme in den Sjemstwoversammlungen haben, und schließlich,
daß viertens die Juden grundsätzlich von der Sjemstwoorganisation ausgeschlossen
sind. Wollte die Regierung diesem ungeheuer bescheiden aussehenden Wunsch
entsprechen, dann würde sie alle Errungenschaften der Agrarreform von 1864
und alle nationalen Einrichtungen bis 1904 mit einem Strich vernichten;
denn der Großgrundbesitzer, der heute mit den Bauern einzig durch das ihm
höchst lustige Servitutenrecht in Berührung kommt, würde Herr der gesamten



*) Die Wahlen haben inzwischen das vorausgesehene Ergebnis gehabt.
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[0558] Russische Briefe Würden mit Hilfe des Bundes und der wenigen vorhandnen Sozialrevolutionäre gewählt werden. Ich selbst glaube nicht daran, bin vielmehr davon überzeugt, daß in ganz Polen Nationaldemokraten oder Realisten gewählt werden.*) Die Nationalisten stellen die Partei des gesunden polnischen Volkes dar. Ihre Hauptstützen sind der große und der kleine Grundbesitzer, die Ingenieure, die Lehrer und der Klerus, denen ein treu katholisches Bauernvolk zur Seite steht. In sich ist die Partei nach zwei taktischen Einheiten gespalten: die radikalern, unruhigern Nationaldemokraten und die Partei der realen Politik. Natürlich haben beide ewig Reibereien miteinander, wie ein paar uneingefahrner Pferde, die denselben Karren ziehen sollen. Die zweite Gruppe stellt das letzte Entwicklungsstadium der „Ugodowce" dar. Obwohl sie tatsächlich Ugodowce sind, das heißt eine Politik mit Hilfe der russischen Machthaber predigen, nennen sie sich Realisten, weil sie in der ersten Duma durch ihr Zusammengehen mit den Kadetten zu sehr in den Verdacht kamen, dem Freisinn zu huldigen, der Negierung gegenüber aber als Nationalisten, „Allpolen", kom¬ promittiert sind. Gegenwärtig wird es in Polen als Schande betrachtet, jemals ein „Ugodowce" gewesen zu sein. Was die Allpolen wollen, brauche ich kaum auseinanderzusetzen; nicht ganz bekannt dürfte in Deutschland ihre gegenwärtige Politik sein. Diese Politik richtet sich auf drei Gebiete: gegenüber Rußland, gegenüber Deutschland und gegenüber dem eignen Volk. Die Leiter der Politik sitzen in Lemberg und Krakau, ihre Hauptagenten in Warschau, Petersburg und Berlin. Wie sie mit Deutsch¬ land umspringen möchten, haben wir in Posen erfahren. In den Städten arbeiten sie mit der Sozialdemokratie, auf dem platten Lande mit dem Klerus. In Nußland ist man vorsichtiger. Sämtliche geistigen und materiellen Kräfte und alle diplomatische Geschicklichkeit sind im Augenblick darauf gerichtet, im Zartum Polen jene kümmerlichen Anfänge einer Selbstverwaltung einzurichten, wie sie in Rußland durch das Sjemstwostatut von 1890 (Gesetzsammlung Band II, 1) vorhanden sind. Man wird diesen Wunsch der Polen verstehen, wenn man sich daran erinnert, daß nach jenem Statut erstens die Besitzer von etwa 250 Hektaren Land (je nach der Güte des Bodens in den einzelnen Kreisen mehr oder weniger) in erster Linie wahlberechtigt sind, daß zweitens die Bauern nur 40 Prozent der Sjemstwoabgeordneten darstellen können, daß drittens sämtliche Kreis- und Gouvernementsadelsmarschülle — das sind ebenfalls Großgrundbesitzer — ohne weiteres Sitz und Stimme in den Sjemstwoversammlungen haben, und schließlich, daß viertens die Juden grundsätzlich von der Sjemstwoorganisation ausgeschlossen sind. Wollte die Regierung diesem ungeheuer bescheiden aussehenden Wunsch entsprechen, dann würde sie alle Errungenschaften der Agrarreform von 1864 und alle nationalen Einrichtungen bis 1904 mit einem Strich vernichten; denn der Großgrundbesitzer, der heute mit den Bauern einzig durch das ihm höchst lustige Servitutenrecht in Berührung kommt, würde Herr der gesamten *) Die Wahlen haben inzwischen das vorausgesehene Ergebnis gehabt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/558>, abgerufen am 24.07.2024.