Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Russische Briefe

richtet. In Lodz haben vorwiegend jüdische und deutsche Fabrikanten zu leiden;
in Warschau und Umgebung ausschließlich solche Firmen, die mit ausländischem
Kapital arbeiten. Bisher ist noch kein einziger polnischer Ingenieur oder Kauf¬
mann ermordet worden, sondern ausschließlich Russen, Deutsche und Juden. Ist
das wirklich ein Zufall? Durchaus nicht! Die Polen wünschen den aus¬
ländischen Einfluß in ihrem Lande zu beseitigen durch Vertreibung der aus¬
ländischen Kapitalien. Der polnisch-litauische Arbeiterbund, dem auch Juden
angehören, ist gegen diese Auffassung, denn er verleugnet den Nationalitäten¬
kampf. Darum werden auch die blutigen Schlachten zwischen den Arbeitern in Lodz
geschlagen. Aus dem Kreise der zuletzt genannten internationalen Gruppe
kommen die Einigungsversuche mit den Fabrikanten, kommen auch die Rufe
nach Abbruch der Revolution. Wohl hat sich nun auch die ?. K. zum
Frieden bereit erklärt, sofern ihre neunzig Vertrauensmänner, die den Fabrikanten
bekannt sind, alle wieder in die Fabriken aufgenommen werden. Aber solange
diese Forderung nicht erfüllt wird, verhindern sie jede Arbeit. Hoffentlich lassen
die Fabrikanten nicht nach. Die Aufnahme der Agitatoren der ?. ?. L. hieße
die revolutionäre Organisation unterstützen. Eine treffliche Charakteristik der
?. 8. finden wir durch die deutschen Genossen auf den verschiednen Partei¬
tagen. Genosse Auer sagte laut Protokoll über die Verhandlung des Partei¬
tages der sozialdemokratischen Partei zu München (S. 105) am 15. Sep¬
tember 1902: "In Polen hat sich eine nationale Bewegung entwickelt, die
geradezu überraschend ist, und diese Bewegung hat nicht nur die polnische
sogenannte bessere Gesellschaft erfaßt, sondern auch das polnische Proletariat."
Genosse Gogowski aus Posen (S. 148) meinte, erst nach elf Jahren habe man
eingesehen, daß die in Kcittowitz von der Partei unterstützte Zeitung Gazeta
Robotnicza nicht "den Sozialismus, sondern den Nationalismus unter den
Polen gefördert hat". Es ist selbstverständlich, daß die deutschen Sozialdemo¬
kraten dennoch für die "nationalistischen" Genossen eingetreten sind (Jena 1905,
Protokoll S. 20 bis 26, 210 bis 211, 221) und damit auch nicht aufgehört
haben, obwohl sich die polnische Partei ganz energisch gegen die Tätigkeit des
von ihnen entsandten Marxisten Kaprzak in Warschau gewehrt hat. Es ist
somit festgestellt, daß die deutschen Sozialdemokraten bewußt nationalpolnische
Ziele unterstützt haben. Man wird es infolgedessen auch verstehn, wie
traurig die aristokratischen Polen über die Niederlage der deutschen Sozial¬
demokratie sind.

Die freisinnige Partei in Polen wird von der ?. 8. auf das heftigste
bekämpft, obwohl ihr Programm dem der deutschen Revisionisten sehr ähnlich
sieht. Aber bei ihr wird jeder polnische oder jüdische Nationalismus verworfen
und ein Zusammengehn mit der russischen Intelligenz gepredigt. Diese Partei
besteht aus russischen Beamten, Juden und einigen wenigen Polen. Aus
taktischen Gründen sind dennoch als Kandidaten für die Duma zwei Polen
aufgestellt worden (Krzewicki und Swiztkowski), in Warschau glaubt man, sie


Russische Briefe

richtet. In Lodz haben vorwiegend jüdische und deutsche Fabrikanten zu leiden;
in Warschau und Umgebung ausschließlich solche Firmen, die mit ausländischem
Kapital arbeiten. Bisher ist noch kein einziger polnischer Ingenieur oder Kauf¬
mann ermordet worden, sondern ausschließlich Russen, Deutsche und Juden. Ist
das wirklich ein Zufall? Durchaus nicht! Die Polen wünschen den aus¬
ländischen Einfluß in ihrem Lande zu beseitigen durch Vertreibung der aus¬
ländischen Kapitalien. Der polnisch-litauische Arbeiterbund, dem auch Juden
angehören, ist gegen diese Auffassung, denn er verleugnet den Nationalitäten¬
kampf. Darum werden auch die blutigen Schlachten zwischen den Arbeitern in Lodz
geschlagen. Aus dem Kreise der zuletzt genannten internationalen Gruppe
kommen die Einigungsversuche mit den Fabrikanten, kommen auch die Rufe
nach Abbruch der Revolution. Wohl hat sich nun auch die ?. K. zum
Frieden bereit erklärt, sofern ihre neunzig Vertrauensmänner, die den Fabrikanten
bekannt sind, alle wieder in die Fabriken aufgenommen werden. Aber solange
diese Forderung nicht erfüllt wird, verhindern sie jede Arbeit. Hoffentlich lassen
die Fabrikanten nicht nach. Die Aufnahme der Agitatoren der ?. ?. L. hieße
die revolutionäre Organisation unterstützen. Eine treffliche Charakteristik der
?. 8. finden wir durch die deutschen Genossen auf den verschiednen Partei¬
tagen. Genosse Auer sagte laut Protokoll über die Verhandlung des Partei¬
tages der sozialdemokratischen Partei zu München (S. 105) am 15. Sep¬
tember 1902: „In Polen hat sich eine nationale Bewegung entwickelt, die
geradezu überraschend ist, und diese Bewegung hat nicht nur die polnische
sogenannte bessere Gesellschaft erfaßt, sondern auch das polnische Proletariat."
Genosse Gogowski aus Posen (S. 148) meinte, erst nach elf Jahren habe man
eingesehen, daß die in Kcittowitz von der Partei unterstützte Zeitung Gazeta
Robotnicza nicht „den Sozialismus, sondern den Nationalismus unter den
Polen gefördert hat". Es ist selbstverständlich, daß die deutschen Sozialdemo¬
kraten dennoch für die „nationalistischen" Genossen eingetreten sind (Jena 1905,
Protokoll S. 20 bis 26, 210 bis 211, 221) und damit auch nicht aufgehört
haben, obwohl sich die polnische Partei ganz energisch gegen die Tätigkeit des
von ihnen entsandten Marxisten Kaprzak in Warschau gewehrt hat. Es ist
somit festgestellt, daß die deutschen Sozialdemokraten bewußt nationalpolnische
Ziele unterstützt haben. Man wird es infolgedessen auch verstehn, wie
traurig die aristokratischen Polen über die Niederlage der deutschen Sozial¬
demokratie sind.

Die freisinnige Partei in Polen wird von der ?. 8. auf das heftigste
bekämpft, obwohl ihr Programm dem der deutschen Revisionisten sehr ähnlich
sieht. Aber bei ihr wird jeder polnische oder jüdische Nationalismus verworfen
und ein Zusammengehn mit der russischen Intelligenz gepredigt. Diese Partei
besteht aus russischen Beamten, Juden und einigen wenigen Polen. Aus
taktischen Gründen sind dennoch als Kandidaten für die Duma zwei Polen
aufgestellt worden (Krzewicki und Swiztkowski), in Warschau glaubt man, sie


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0557" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301811"/>
          <fw type="header" place="top"> Russische Briefe</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2060" prev="#ID_2059"> richtet. In Lodz haben vorwiegend jüdische und deutsche Fabrikanten zu leiden;<lb/>
in Warschau und Umgebung ausschließlich solche Firmen, die mit ausländischem<lb/>
Kapital arbeiten. Bisher ist noch kein einziger polnischer Ingenieur oder Kauf¬<lb/>
mann ermordet worden, sondern ausschließlich Russen, Deutsche und Juden. Ist<lb/>
das wirklich ein Zufall? Durchaus nicht! Die Polen wünschen den aus¬<lb/>
ländischen Einfluß in ihrem Lande zu beseitigen durch Vertreibung der aus¬<lb/>
ländischen Kapitalien. Der polnisch-litauische Arbeiterbund, dem auch Juden<lb/>
angehören, ist gegen diese Auffassung, denn er verleugnet den Nationalitäten¬<lb/>
kampf. Darum werden auch die blutigen Schlachten zwischen den Arbeitern in Lodz<lb/>
geschlagen. Aus dem Kreise der zuletzt genannten internationalen Gruppe<lb/>
kommen die Einigungsversuche mit den Fabrikanten, kommen auch die Rufe<lb/>
nach Abbruch der Revolution. Wohl hat sich nun auch die ?. K. zum<lb/>
Frieden bereit erklärt, sofern ihre neunzig Vertrauensmänner, die den Fabrikanten<lb/>
bekannt sind, alle wieder in die Fabriken aufgenommen werden. Aber solange<lb/>
diese Forderung nicht erfüllt wird, verhindern sie jede Arbeit. Hoffentlich lassen<lb/>
die Fabrikanten nicht nach. Die Aufnahme der Agitatoren der ?. ?. L. hieße<lb/>
die revolutionäre Organisation unterstützen. Eine treffliche Charakteristik der<lb/>
?. 8. finden wir durch die deutschen Genossen auf den verschiednen Partei¬<lb/>
tagen. Genosse Auer sagte laut Protokoll über die Verhandlung des Partei¬<lb/>
tages der sozialdemokratischen Partei zu München (S. 105) am 15. Sep¬<lb/>
tember 1902: &#x201E;In Polen hat sich eine nationale Bewegung entwickelt, die<lb/>
geradezu überraschend ist, und diese Bewegung hat nicht nur die polnische<lb/>
sogenannte bessere Gesellschaft erfaßt, sondern auch das polnische Proletariat."<lb/>
Genosse Gogowski aus Posen (S. 148) meinte, erst nach elf Jahren habe man<lb/>
eingesehen, daß die in Kcittowitz von der Partei unterstützte Zeitung Gazeta<lb/>
Robotnicza nicht &#x201E;den Sozialismus, sondern den Nationalismus unter den<lb/>
Polen gefördert hat". Es ist selbstverständlich, daß die deutschen Sozialdemo¬<lb/>
kraten dennoch für die &#x201E;nationalistischen" Genossen eingetreten sind (Jena 1905,<lb/>
Protokoll S. 20 bis 26, 210 bis 211, 221) und damit auch nicht aufgehört<lb/>
haben, obwohl sich die polnische Partei ganz energisch gegen die Tätigkeit des<lb/>
von ihnen entsandten Marxisten Kaprzak in Warschau gewehrt hat. Es ist<lb/>
somit festgestellt, daß die deutschen Sozialdemokraten bewußt nationalpolnische<lb/>
Ziele unterstützt haben. Man wird es infolgedessen auch verstehn, wie<lb/>
traurig die aristokratischen Polen über die Niederlage der deutschen Sozial¬<lb/>
demokratie sind.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_2061" next="#ID_2062"> Die freisinnige Partei in Polen wird von der ?. 8. auf das heftigste<lb/>
bekämpft, obwohl ihr Programm dem der deutschen Revisionisten sehr ähnlich<lb/>
sieht. Aber bei ihr wird jeder polnische oder jüdische Nationalismus verworfen<lb/>
und ein Zusammengehn mit der russischen Intelligenz gepredigt. Diese Partei<lb/>
besteht aus russischen Beamten, Juden und einigen wenigen Polen. Aus<lb/>
taktischen Gründen sind dennoch als Kandidaten für die Duma zwei Polen<lb/>
aufgestellt worden (Krzewicki und Swiztkowski), in Warschau glaubt man, sie</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0557] Russische Briefe richtet. In Lodz haben vorwiegend jüdische und deutsche Fabrikanten zu leiden; in Warschau und Umgebung ausschließlich solche Firmen, die mit ausländischem Kapital arbeiten. Bisher ist noch kein einziger polnischer Ingenieur oder Kauf¬ mann ermordet worden, sondern ausschließlich Russen, Deutsche und Juden. Ist das wirklich ein Zufall? Durchaus nicht! Die Polen wünschen den aus¬ ländischen Einfluß in ihrem Lande zu beseitigen durch Vertreibung der aus¬ ländischen Kapitalien. Der polnisch-litauische Arbeiterbund, dem auch Juden angehören, ist gegen diese Auffassung, denn er verleugnet den Nationalitäten¬ kampf. Darum werden auch die blutigen Schlachten zwischen den Arbeitern in Lodz geschlagen. Aus dem Kreise der zuletzt genannten internationalen Gruppe kommen die Einigungsversuche mit den Fabrikanten, kommen auch die Rufe nach Abbruch der Revolution. Wohl hat sich nun auch die ?. K. zum Frieden bereit erklärt, sofern ihre neunzig Vertrauensmänner, die den Fabrikanten bekannt sind, alle wieder in die Fabriken aufgenommen werden. Aber solange diese Forderung nicht erfüllt wird, verhindern sie jede Arbeit. Hoffentlich lassen die Fabrikanten nicht nach. Die Aufnahme der Agitatoren der ?. ?. L. hieße die revolutionäre Organisation unterstützen. Eine treffliche Charakteristik der ?. 8. finden wir durch die deutschen Genossen auf den verschiednen Partei¬ tagen. Genosse Auer sagte laut Protokoll über die Verhandlung des Partei¬ tages der sozialdemokratischen Partei zu München (S. 105) am 15. Sep¬ tember 1902: „In Polen hat sich eine nationale Bewegung entwickelt, die geradezu überraschend ist, und diese Bewegung hat nicht nur die polnische sogenannte bessere Gesellschaft erfaßt, sondern auch das polnische Proletariat." Genosse Gogowski aus Posen (S. 148) meinte, erst nach elf Jahren habe man eingesehen, daß die in Kcittowitz von der Partei unterstützte Zeitung Gazeta Robotnicza nicht „den Sozialismus, sondern den Nationalismus unter den Polen gefördert hat". Es ist selbstverständlich, daß die deutschen Sozialdemo¬ kraten dennoch für die „nationalistischen" Genossen eingetreten sind (Jena 1905, Protokoll S. 20 bis 26, 210 bis 211, 221) und damit auch nicht aufgehört haben, obwohl sich die polnische Partei ganz energisch gegen die Tätigkeit des von ihnen entsandten Marxisten Kaprzak in Warschau gewehrt hat. Es ist somit festgestellt, daß die deutschen Sozialdemokraten bewußt nationalpolnische Ziele unterstützt haben. Man wird es infolgedessen auch verstehn, wie traurig die aristokratischen Polen über die Niederlage der deutschen Sozial¬ demokratie sind. Die freisinnige Partei in Polen wird von der ?. 8. auf das heftigste bekämpft, obwohl ihr Programm dem der deutschen Revisionisten sehr ähnlich sieht. Aber bei ihr wird jeder polnische oder jüdische Nationalismus verworfen und ein Zusammengehn mit der russischen Intelligenz gepredigt. Diese Partei besteht aus russischen Beamten, Juden und einigen wenigen Polen. Aus taktischen Gründen sind dennoch als Kandidaten für die Duma zwei Polen aufgestellt worden (Krzewicki und Swiztkowski), in Warschau glaubt man, sie

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/557
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/557>, abgerufen am 24.07.2024.