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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Nettelbeck und Lucadou

als sein Werk ansah. Gneisenau hat dem alten Nettelbeck schon während der
Belagerung ein Ehrendenkmal in der Königsberger Zeitung gesetzt mit der
Absicht, den Zeitgenossen ein Beispiel zu geben. Er schildert den Mut und
die rastlose Tätigkeit des achtundsechzigjährigen Greises, die sich besonders in
der Sorge während der Überschwemmung, für das Löschwesen, für die Ver¬
pflegung der in den Außenwerken stehenden Truppen, für den Transport der
Verwundeten und der Toten, für das Einholen von Schiffen zeigte, darin und
schließt mit den bekannten Worten: "spiegelt euch daran, ihr Deutschen!"

So steht der Kolberger Bürger Nettelbeck in seinen großen Eigenschaften
von seiner Zeit und der Nachwelt anerkannt als ein Beispiel von Mut und
Vaterlandsliebe da; deshalb kann ihm eine objektive Hinweisung auf seine
Schwächen seine hohe Würdigung nicht rauben. Diese Schwächen waren
vielleicht in jener Zeit rücksichtsloser Taten nötig, seine Erfolge zu sichern;
sie haben aber dazu beigetragen, andre weniger kräftige, aber doch auch pflicht¬
treue, stillere Charaktere beiseite zu drängen. Es war dies besonders das
starke Selbstgefühl, mit dem er sich in allen Kreisen und in jeder Tätigkeit
durchzusetzen suchte, ein Selbstgefühl, das zur Unbotmnßigkeit, Streitsucht, ja
sogar zu oft wohl unbewußter Neigung zur Verleumdung und Schädigung
des Nächsten führte. Es ist immerhin auffallend, wie Nettelbeck in den ver¬
schiedensten Verhältnissen und Kreisen Mißstimmung und Streit erweckt hat,
ja oft in Prozesse verwickelt worden ist. Diese unerquicklichen Dinge nehmen
auch einen guten Teil seiner Lebensbeschreibung ein, und ein unbefangner
Leser wird auch bei der subjektiven Darstellung des Alten den Verfasser nicht
immer frei von Schuld sprechen können. Schriftliche und gedruckte Belege und
die mündliche Überlieferung der Kolberger bestätigen in Einzelheiten diese
Schuld. Zunächst war das Familienleben Nettelbecks in seinen beiden ersten
Ehen so unharmonisch, daß beide Ehen nach unerfreulichen Vorkommnissen
zur Scheidung führten; auch die wahrscheinlich unechte Tochter erster Ehe, die
vom Vater allerdings, ebenso wie ihre Mutter, eines unmoralischen Lebens¬
wandels geziehen wird, zog es vor, Nettelbecks Haus zu verlassen. Der
Streit, mit dem im Jahre 1776 die staatliche Stellung Nettelbecks endete,
wurde schon oben erwähnt. In die Stadtverwaltung führte sich der nach langen
Seefahrten in die Heimat zurückkehrende Bürger im Jahre 1789 ebenfalls, wie
er selbst sagt, durch einen "langen und verwickelten Prozeß" von vier Jahren
als Bürgerrepräsentant ein. Ähnlich war es dann später nach der Einführung
der neuen Stein-Hardenbergschen Stüdteordnung. Die ganze Korporation kam
gegen Nettelbeck in Harnisch und brachte eine Klage wegen ehrenrühriger Be¬
schuldigungen beim Stadtgericht ein. Es handelte sich um "vorlautes Absprechen
und Urteilen über eine löbliche Stadtverordnetenversammlung". Nettelbeck
rettete sich durch seine Beliebtheit an Allerhöchster Stelle; er wandte sich
heimlich direkt an den König und wußte durch eine "Suspendierung" der
Stadtverordneten der Sache die Spitze abzubrechen. Zu solchen direkten Ein-


Nettelbeck und Lucadou

als sein Werk ansah. Gneisenau hat dem alten Nettelbeck schon während der
Belagerung ein Ehrendenkmal in der Königsberger Zeitung gesetzt mit der
Absicht, den Zeitgenossen ein Beispiel zu geben. Er schildert den Mut und
die rastlose Tätigkeit des achtundsechzigjährigen Greises, die sich besonders in
der Sorge während der Überschwemmung, für das Löschwesen, für die Ver¬
pflegung der in den Außenwerken stehenden Truppen, für den Transport der
Verwundeten und der Toten, für das Einholen von Schiffen zeigte, darin und
schließt mit den bekannten Worten: „spiegelt euch daran, ihr Deutschen!"

So steht der Kolberger Bürger Nettelbeck in seinen großen Eigenschaften
von seiner Zeit und der Nachwelt anerkannt als ein Beispiel von Mut und
Vaterlandsliebe da; deshalb kann ihm eine objektive Hinweisung auf seine
Schwächen seine hohe Würdigung nicht rauben. Diese Schwächen waren
vielleicht in jener Zeit rücksichtsloser Taten nötig, seine Erfolge zu sichern;
sie haben aber dazu beigetragen, andre weniger kräftige, aber doch auch pflicht¬
treue, stillere Charaktere beiseite zu drängen. Es war dies besonders das
starke Selbstgefühl, mit dem er sich in allen Kreisen und in jeder Tätigkeit
durchzusetzen suchte, ein Selbstgefühl, das zur Unbotmnßigkeit, Streitsucht, ja
sogar zu oft wohl unbewußter Neigung zur Verleumdung und Schädigung
des Nächsten führte. Es ist immerhin auffallend, wie Nettelbeck in den ver¬
schiedensten Verhältnissen und Kreisen Mißstimmung und Streit erweckt hat,
ja oft in Prozesse verwickelt worden ist. Diese unerquicklichen Dinge nehmen
auch einen guten Teil seiner Lebensbeschreibung ein, und ein unbefangner
Leser wird auch bei der subjektiven Darstellung des Alten den Verfasser nicht
immer frei von Schuld sprechen können. Schriftliche und gedruckte Belege und
die mündliche Überlieferung der Kolberger bestätigen in Einzelheiten diese
Schuld. Zunächst war das Familienleben Nettelbecks in seinen beiden ersten
Ehen so unharmonisch, daß beide Ehen nach unerfreulichen Vorkommnissen
zur Scheidung führten; auch die wahrscheinlich unechte Tochter erster Ehe, die
vom Vater allerdings, ebenso wie ihre Mutter, eines unmoralischen Lebens¬
wandels geziehen wird, zog es vor, Nettelbecks Haus zu verlassen. Der
Streit, mit dem im Jahre 1776 die staatliche Stellung Nettelbecks endete,
wurde schon oben erwähnt. In die Stadtverwaltung führte sich der nach langen
Seefahrten in die Heimat zurückkehrende Bürger im Jahre 1789 ebenfalls, wie
er selbst sagt, durch einen „langen und verwickelten Prozeß" von vier Jahren
als Bürgerrepräsentant ein. Ähnlich war es dann später nach der Einführung
der neuen Stein-Hardenbergschen Stüdteordnung. Die ganze Korporation kam
gegen Nettelbeck in Harnisch und brachte eine Klage wegen ehrenrühriger Be¬
schuldigungen beim Stadtgericht ein. Es handelte sich um „vorlautes Absprechen
und Urteilen über eine löbliche Stadtverordnetenversammlung". Nettelbeck
rettete sich durch seine Beliebtheit an Allerhöchster Stelle; er wandte sich
heimlich direkt an den König und wußte durch eine „Suspendierung" der
Stadtverordneten der Sache die Spitze abzubrechen. Zu solchen direkten Ein-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/516>, abgerufen am 24.07.2024.