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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Das "neue (Österreich"

Wählerschaft in Wien und auf dem Lande wie auch die erdrückende Mehrheit
der Abgeordneten der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts;
man wollte sich jedoch der von der Regierung ausgegebnen und auf die Arbeiter¬
massen wirkenden Parole nicht offen entgegenstellen und tröstete sich damit, daß es
der Regierung nicht gelingen werde, die Wahlreformvorlage im Abgeordneten¬
hause durchzubringen. Nur eine sehr kleine Minorität der Partei, durchweg
fortgeschritten demokratische, auf dem äußersten rechten Flügel stehende Elemente
arbeiteten bewußt auf die Gesetzwerdung der Wahlreform in der Hoffnung hin,
daß mit ihrer Hilfe die Klerikalen in Tirol und in Steiermark vernichtet werden
und so der Rest der klerikalen Partei werde gezwungen werden, sich den
Christlichsozialen anzuschließen, wodurch zwar der Charakter dieser Partei voll¬
ständig verändert, sie aber auf etwa hundert Mandate gebracht, also zu einem
Zentrum ausgestaltet werden würde, das einen berechtigten Anspruch auf eine
entsprechende Vertretung im Kabinett haben würde. Es ist notwendig, zu be¬
tonen, daß der Führer der christlichsozialen Partei, der Wiener Bürgermeister
Dr. Lueger, ein entschiedner Gegner dieser Kombination ist, aber infolge des
schweren Leidens, das seine Kraft zu früh geschwächt hat, ist die eigentliche
Führung der Partei schon längst seinen Händen entglitten, und so wird er auch
nicht imstande sein, die drohende Fusion der christlichsozialen mit den Resten
der klerikalen Partei aufzuhalten, zumal da der Zuzug, den die Partei bei den
Neuwahlen aus der Provinz, hauptsächlich aus Tirol, erhalten wird, sich
hauptsächlich nur durch seine radikaldemokratische Färbung von den von ihm
bekämpften Klerikalen unterscheidet.

In einer Zeit, die gebieterisch die Zusammenfassung aller deutschen Parteien
in Österreich zu einer nationalen Einheit wider die Slawen und die Sozial¬
demokratie fordert, bereitet sich also unter ihnen wiederum eine scharfe Spaltung
vor. Kurzsichtiger Parteigeist droht wieder Verhältnisse zu schaffen, wie sie in
den siebziger und den achtziger Jahren bestanden, wo sich freisinnige und kleri¬
kale Deutsche, in unversöhnlicher Feindschaft einander gegenüberstehend, von
den Slawen und der Börse gegeneinander ausspielen ließen, und das Deutsch¬
tum dadurch uneinbringliche Verluste in wirtschaftlicher und politischer Be¬
ziehung erlitten hat. Nur liegen die Dinge heute schlimmer als damals. Heute
sind die Deutschen durch die Wahlreform im Parlament ohnehin schon numerisch
geschwächt und dem zerstörenden Einflüsse der sozialdemokratischen Propaganda
weit mehr als damals ausgesetzt, die natürlich den deutschen Besitzstand um so
mehr abbröckeln wird, als die Leistungsfähigkeit des neuen Abgeordnetenhauses
noch weniger als die des alten imstande sein wird, die wirtschaftliche Lage der
Massen zu heben. Die größte Gefahr aber liegt Wohl darin, daß die eine oder
die andre der beiden einander feindlich gegenüberstehenden deutschen Gruppe"
sich durch das Bestreben, mit nichtdeutschen Parteien eine leistungsfähige parla¬
mentarische Mehrheit und somit auch ein parlamentarisches Ministerium zu
bilden, dazu verleiten lassen könnte, die Hand zu einer Verschärfung der Ge-


Das „neue (Österreich"

Wählerschaft in Wien und auf dem Lande wie auch die erdrückende Mehrheit
der Abgeordneten der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts;
man wollte sich jedoch der von der Regierung ausgegebnen und auf die Arbeiter¬
massen wirkenden Parole nicht offen entgegenstellen und tröstete sich damit, daß es
der Regierung nicht gelingen werde, die Wahlreformvorlage im Abgeordneten¬
hause durchzubringen. Nur eine sehr kleine Minorität der Partei, durchweg
fortgeschritten demokratische, auf dem äußersten rechten Flügel stehende Elemente
arbeiteten bewußt auf die Gesetzwerdung der Wahlreform in der Hoffnung hin,
daß mit ihrer Hilfe die Klerikalen in Tirol und in Steiermark vernichtet werden
und so der Rest der klerikalen Partei werde gezwungen werden, sich den
Christlichsozialen anzuschließen, wodurch zwar der Charakter dieser Partei voll¬
ständig verändert, sie aber auf etwa hundert Mandate gebracht, also zu einem
Zentrum ausgestaltet werden würde, das einen berechtigten Anspruch auf eine
entsprechende Vertretung im Kabinett haben würde. Es ist notwendig, zu be¬
tonen, daß der Führer der christlichsozialen Partei, der Wiener Bürgermeister
Dr. Lueger, ein entschiedner Gegner dieser Kombination ist, aber infolge des
schweren Leidens, das seine Kraft zu früh geschwächt hat, ist die eigentliche
Führung der Partei schon längst seinen Händen entglitten, und so wird er auch
nicht imstande sein, die drohende Fusion der christlichsozialen mit den Resten
der klerikalen Partei aufzuhalten, zumal da der Zuzug, den die Partei bei den
Neuwahlen aus der Provinz, hauptsächlich aus Tirol, erhalten wird, sich
hauptsächlich nur durch seine radikaldemokratische Färbung von den von ihm
bekämpften Klerikalen unterscheidet.

In einer Zeit, die gebieterisch die Zusammenfassung aller deutschen Parteien
in Österreich zu einer nationalen Einheit wider die Slawen und die Sozial¬
demokratie fordert, bereitet sich also unter ihnen wiederum eine scharfe Spaltung
vor. Kurzsichtiger Parteigeist droht wieder Verhältnisse zu schaffen, wie sie in
den siebziger und den achtziger Jahren bestanden, wo sich freisinnige und kleri¬
kale Deutsche, in unversöhnlicher Feindschaft einander gegenüberstehend, von
den Slawen und der Börse gegeneinander ausspielen ließen, und das Deutsch¬
tum dadurch uneinbringliche Verluste in wirtschaftlicher und politischer Be¬
ziehung erlitten hat. Nur liegen die Dinge heute schlimmer als damals. Heute
sind die Deutschen durch die Wahlreform im Parlament ohnehin schon numerisch
geschwächt und dem zerstörenden Einflüsse der sozialdemokratischen Propaganda
weit mehr als damals ausgesetzt, die natürlich den deutschen Besitzstand um so
mehr abbröckeln wird, als die Leistungsfähigkeit des neuen Abgeordnetenhauses
noch weniger als die des alten imstande sein wird, die wirtschaftliche Lage der
Massen zu heben. Die größte Gefahr aber liegt Wohl darin, daß die eine oder
die andre der beiden einander feindlich gegenüberstehenden deutschen Gruppe»
sich durch das Bestreben, mit nichtdeutschen Parteien eine leistungsfähige parla¬
mentarische Mehrheit und somit auch ein parlamentarisches Ministerium zu
bilden, dazu verleiten lassen könnte, die Hand zu einer Verschärfung der Ge-


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[0514] Das „neue (Österreich" Wählerschaft in Wien und auf dem Lande wie auch die erdrückende Mehrheit der Abgeordneten der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts; man wollte sich jedoch der von der Regierung ausgegebnen und auf die Arbeiter¬ massen wirkenden Parole nicht offen entgegenstellen und tröstete sich damit, daß es der Regierung nicht gelingen werde, die Wahlreformvorlage im Abgeordneten¬ hause durchzubringen. Nur eine sehr kleine Minorität der Partei, durchweg fortgeschritten demokratische, auf dem äußersten rechten Flügel stehende Elemente arbeiteten bewußt auf die Gesetzwerdung der Wahlreform in der Hoffnung hin, daß mit ihrer Hilfe die Klerikalen in Tirol und in Steiermark vernichtet werden und so der Rest der klerikalen Partei werde gezwungen werden, sich den Christlichsozialen anzuschließen, wodurch zwar der Charakter dieser Partei voll¬ ständig verändert, sie aber auf etwa hundert Mandate gebracht, also zu einem Zentrum ausgestaltet werden würde, das einen berechtigten Anspruch auf eine entsprechende Vertretung im Kabinett haben würde. Es ist notwendig, zu be¬ tonen, daß der Führer der christlichsozialen Partei, der Wiener Bürgermeister Dr. Lueger, ein entschiedner Gegner dieser Kombination ist, aber infolge des schweren Leidens, das seine Kraft zu früh geschwächt hat, ist die eigentliche Führung der Partei schon längst seinen Händen entglitten, und so wird er auch nicht imstande sein, die drohende Fusion der christlichsozialen mit den Resten der klerikalen Partei aufzuhalten, zumal da der Zuzug, den die Partei bei den Neuwahlen aus der Provinz, hauptsächlich aus Tirol, erhalten wird, sich hauptsächlich nur durch seine radikaldemokratische Färbung von den von ihm bekämpften Klerikalen unterscheidet. In einer Zeit, die gebieterisch die Zusammenfassung aller deutschen Parteien in Österreich zu einer nationalen Einheit wider die Slawen und die Sozial¬ demokratie fordert, bereitet sich also unter ihnen wiederum eine scharfe Spaltung vor. Kurzsichtiger Parteigeist droht wieder Verhältnisse zu schaffen, wie sie in den siebziger und den achtziger Jahren bestanden, wo sich freisinnige und kleri¬ kale Deutsche, in unversöhnlicher Feindschaft einander gegenüberstehend, von den Slawen und der Börse gegeneinander ausspielen ließen, und das Deutsch¬ tum dadurch uneinbringliche Verluste in wirtschaftlicher und politischer Be¬ ziehung erlitten hat. Nur liegen die Dinge heute schlimmer als damals. Heute sind die Deutschen durch die Wahlreform im Parlament ohnehin schon numerisch geschwächt und dem zerstörenden Einflüsse der sozialdemokratischen Propaganda weit mehr als damals ausgesetzt, die natürlich den deutschen Besitzstand um so mehr abbröckeln wird, als die Leistungsfähigkeit des neuen Abgeordnetenhauses noch weniger als die des alten imstande sein wird, die wirtschaftliche Lage der Massen zu heben. Die größte Gefahr aber liegt Wohl darin, daß die eine oder die andre der beiden einander feindlich gegenüberstehenden deutschen Gruppe» sich durch das Bestreben, mit nichtdeutschen Parteien eine leistungsfähige parla¬ mentarische Mehrheit und somit auch ein parlamentarisches Ministerium zu bilden, dazu verleiten lassen könnte, die Hand zu einer Verschärfung der Ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/514>, abgerufen am 24.07.2024.