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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Wählern in Hemdärmeln vorstellen. Das neue Parlament wird also ein mit
Demagogen durchsetztes Jnteressenparlament im schlimmsten Sinne des Wortes
sein, worin sich Arbeiterschaft, Bauernstand und Handwerker als unversöhnliche
Interessenvertretungen gegenüberstehn werden, und wo die Intelligenz, soweit
eine solche vorhanden ist, ihren Beruf uicht darin finden wird, diese Gegensätze
auszugleichen, sondern sie noch zu verschärfe". Ebenso wird aber auch in poli¬
tischer Beziehung die Radikalisierung nach rechts und nach links die unaus¬
bleibliche Folge der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts sein,
worunter die Deutschen Österreichs am meisten leiden werden.

Von allen einsichtigen Leuten ist schon zu Anfang der Wahlreformbewegnng
aufs nachdrücklichste hervorgehoben worden, daß auch die wohltätige" Wirkungen,
die die aufrichtigen Freunde der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahl¬
rechts von ihr erwarten, nur dann eintreten können, wenn dem Abgeordneten¬
hause zugleich eine neue Geschäftsordnung gegeben werde, die die disziplinare
Gewalt des Präsidiums erweitere und damit von vornherein den Exzessen begegne,
die schon das Kurienparlament arbeitsunfähig gemacht haben, in einem allgemeinen
Wahlrechtsparlament aber in verschärften Maße zu erwarten seien. Die Re¬
gierung hatte auch ursprünglich mit der Wcchlreform die Reform der Geschäfts¬
ordnung des Abgeordnetenhauses verbunden, sie mußte jedoch auf diese Zu-
sammenkoppeluug verzichten, weil vor allem die deutschen nationalen Parteien
jeder solchen Reform, und zwar mit gutem Grunde, widerstrebten. Schon in
dem Kurienparlament hatte sich, wie die Vorgänge unter demi Ministerium
Badeui gezeigt haben, die Obstruktion als die einzige Waffe erwiesen, mit deren
Hilfe sich die Deutschen gegen Versuche einer nationalen Vergewaltigung zu
schützen vermochten. Da die Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts
aber die Deutschen dauernd in die Minorität im Abgeordnetenhause drängt,
mithin die Bildung einer deutschfeindlichen parlamentarischen Mehrheit wesentlich
erleichtert, mußte den Deutschen die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen, der
Obstruktion Tür und Tor offen lassenden Geschäftsordnung als eine geradezu
unerläßliche Bedingung der Durchführung der Wahlreform erscheinen. So
wurde in dem Staat der seltsamsten Widersprüche auch hier wiederum die Er¬
haltung eines Zustandes zur Voraussetzung der Wahlreform, dessen Beseitigung
allein geeignet gewesen wäre, ihre Wirkungen wenigstens einigermaßen im
Interesse des Staates zu regulieren. Allerdings heißt es, daß sich das neue
Haus in der Erkenntnis der Unmöglichkeit, mit der alten Geschäftsordnung
auszukommen, beeilen werde, sie zu reformieren. Ob es das allgemeine Wahlrechts¬
parlament damit wirklich so eilig haben wird, und ob nicht die denn im Ab¬
geordnetenhause eine weit einflußreichere Stellung einnehmende sozialdemokratische
Fraktion alles aufbieten wird, eine solche Reform zu verhindern, bleibt abzu¬
warten. Für die Deutschen läge die Frage dann aber nicht anders als heute;
soweit sie sich von nationalen Erwägungen leiten lassen, müßten sie mit allen
Mitteln eine Maßregel zu verhindern suchen, die der slawischen Überzahl die


Wählern in Hemdärmeln vorstellen. Das neue Parlament wird also ein mit
Demagogen durchsetztes Jnteressenparlament im schlimmsten Sinne des Wortes
sein, worin sich Arbeiterschaft, Bauernstand und Handwerker als unversöhnliche
Interessenvertretungen gegenüberstehn werden, und wo die Intelligenz, soweit
eine solche vorhanden ist, ihren Beruf uicht darin finden wird, diese Gegensätze
auszugleichen, sondern sie noch zu verschärfe». Ebenso wird aber auch in poli¬
tischer Beziehung die Radikalisierung nach rechts und nach links die unaus¬
bleibliche Folge der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahlrechts sein,
worunter die Deutschen Österreichs am meisten leiden werden.

Von allen einsichtigen Leuten ist schon zu Anfang der Wahlreformbewegnng
aufs nachdrücklichste hervorgehoben worden, daß auch die wohltätige» Wirkungen,
die die aufrichtigen Freunde der Einführung des allgemeinen und gleichen Wahl¬
rechts von ihr erwarten, nur dann eintreten können, wenn dem Abgeordneten¬
hause zugleich eine neue Geschäftsordnung gegeben werde, die die disziplinare
Gewalt des Präsidiums erweitere und damit von vornherein den Exzessen begegne,
die schon das Kurienparlament arbeitsunfähig gemacht haben, in einem allgemeinen
Wahlrechtsparlament aber in verschärften Maße zu erwarten seien. Die Re¬
gierung hatte auch ursprünglich mit der Wcchlreform die Reform der Geschäfts¬
ordnung des Abgeordnetenhauses verbunden, sie mußte jedoch auf diese Zu-
sammenkoppeluug verzichten, weil vor allem die deutschen nationalen Parteien
jeder solchen Reform, und zwar mit gutem Grunde, widerstrebten. Schon in
dem Kurienparlament hatte sich, wie die Vorgänge unter demi Ministerium
Badeui gezeigt haben, die Obstruktion als die einzige Waffe erwiesen, mit deren
Hilfe sich die Deutschen gegen Versuche einer nationalen Vergewaltigung zu
schützen vermochten. Da die Einführung des allgemeinen, gleichen Wahlrechts
aber die Deutschen dauernd in die Minorität im Abgeordnetenhause drängt,
mithin die Bildung einer deutschfeindlichen parlamentarischen Mehrheit wesentlich
erleichtert, mußte den Deutschen die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen, der
Obstruktion Tür und Tor offen lassenden Geschäftsordnung als eine geradezu
unerläßliche Bedingung der Durchführung der Wahlreform erscheinen. So
wurde in dem Staat der seltsamsten Widersprüche auch hier wiederum die Er¬
haltung eines Zustandes zur Voraussetzung der Wahlreform, dessen Beseitigung
allein geeignet gewesen wäre, ihre Wirkungen wenigstens einigermaßen im
Interesse des Staates zu regulieren. Allerdings heißt es, daß sich das neue
Haus in der Erkenntnis der Unmöglichkeit, mit der alten Geschäftsordnung
auszukommen, beeilen werde, sie zu reformieren. Ob es das allgemeine Wahlrechts¬
parlament damit wirklich so eilig haben wird, und ob nicht die denn im Ab¬
geordnetenhause eine weit einflußreichere Stellung einnehmende sozialdemokratische
Fraktion alles aufbieten wird, eine solche Reform zu verhindern, bleibt abzu¬
warten. Für die Deutschen läge die Frage dann aber nicht anders als heute;
soweit sie sich von nationalen Erwägungen leiten lassen, müßten sie mit allen
Mitteln eine Maßregel zu verhindern suchen, die der slawischen Überzahl die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/512>, abgerufen am 24.07.2024.