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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Luftreisen

liegt ein hell erleuchteter Ort mit rechtwinklig sich schneidenden Straßen unter
uns, durch Zuruf erfahren wir, daß es die Herrnhuterkolonie Niesky ist. Das
ist ja Girdein, die Stätte der schlichten und doch so ergreifenden Knaben¬
schicksale, die Herman Anders Krüger den deutschen Jungen und ihren Schul¬
meistern zu heilsamem Nachdenken, zur Erquickung und zum Trost in seinem
Gottfried Kämpfer erzählt hat. Es war das letzte Buch, das ich vor dieser
Reise gelesen hatte, dabei waren in mir Erinnerungen an die schon vor Jahr¬
zehnten unter dem Namen Tapeinon erschienene prächtige Schilderung des
Alumnatslebens in der Knabenanstalt und dem Pädagogium von Niesky wieder
wach geworden. Und von hier aus schweifen meine Gedanken westwärts nach
einer andern, altberühmten Erziehungsstätte, nach meinem Se. Asm, wo meine
lieben Jungen jetzt neuer Tagesarbeit und neuer Lebensfreude entgegen¬
schlummern.

Noch eine Stunde, und unser Flug führt uns über eine der schönsten und
durch den von uns eben überflognen Waldbesitz reichsten deutschen Städte.
Daß Görlitz diesen Ruf nicht umsonst genießt, bestätigt uns sogar der Eindruck,
den wir jetzt in nächtlicher Stunde von oben gewinnen. Wir sind erstaunt
über die im künstlichen Lichte besonders auffallende Größe der Stadt mit ihren
vielen, auch über die Reiße nach Osten sich fortsetzenden vorstadtartigen Ver¬
zweigungen, ihren weiten Bahnhofsanlagen im Südwesten, in denen sich fünf
Verkehrslinien vereinigen, über das großstädtische Treiben auf den Straßen,
die von Wagen und elektrischen Bahnen belebt sind. Im Gegensatz dazu er¬
hebt sich düster und schattenhaft einige Kilometer südwestlich der Basaltkegel
der Landeskrone.

Fast eine Viertelstunde dauerts, bis wir ganz über die Stadt hinweg sind,
und so ungern wirs tun, wir müssen neue Ballastvpfer bringen, es wäre doch
zu peinlich, mit dem Schlepptau unliebsamerweise die Aufmerksamkeit der Gör-
litzer auf uns zu lenken, wohl gar einen der vielen Türme oder Schlote zu
gefährden. Im allgemeinen können wir jetzt, seitdem die Nacht völlig herein¬
gebrochen ist, mit der Fahrtkurve, wie sie der Barograph zeichnet, zufrieden
sein, sie beschreibt eine ziemlich gleichmäßige sanfte Wellenlinie. Aber wir haben
auch nur noch drei Sack Ballast, mit ihnen die Nacht durchzuhalten ist un¬
möglich. So heißes denn Notballast schaffen, und hierin zeigt sich Dr. Elias
unglaublich erfinderisch, hat er doch reiche Erfahrungen für solche Fülle sammeln
können bei seinen mit Berson unternommenen wissenschaftlichen Hochfahrten bis
8000 Meter und darüber sowie bei Weitfahrten, von denen eine ihn in dreißig
Stunden nach Südrußland, nach Poltawa im Stromgebiete des Dujepr führte.

Was der Korb, was wir selbst irgendwie entbehren können, wird als
Ballast zurechtgelegt, das meiste aber vorher in Stücke zerkleinert, die an
Gewicht einigen Handvoll Sand entsprechen. Wer uns beide da Hütte sehen
können, wie wir, der eine mit dem großen Dolche bewaffnet, der zur Aus¬
rüstung der Korbtasche gehört, der andre mit einem scharfen Taschenmesser,
jeder für sich oder, wenn nötig, auch mit vereinten Kräften, tapfer drauf los


Luftreisen

liegt ein hell erleuchteter Ort mit rechtwinklig sich schneidenden Straßen unter
uns, durch Zuruf erfahren wir, daß es die Herrnhuterkolonie Niesky ist. Das
ist ja Girdein, die Stätte der schlichten und doch so ergreifenden Knaben¬
schicksale, die Herman Anders Krüger den deutschen Jungen und ihren Schul¬
meistern zu heilsamem Nachdenken, zur Erquickung und zum Trost in seinem
Gottfried Kämpfer erzählt hat. Es war das letzte Buch, das ich vor dieser
Reise gelesen hatte, dabei waren in mir Erinnerungen an die schon vor Jahr¬
zehnten unter dem Namen Tapeinon erschienene prächtige Schilderung des
Alumnatslebens in der Knabenanstalt und dem Pädagogium von Niesky wieder
wach geworden. Und von hier aus schweifen meine Gedanken westwärts nach
einer andern, altberühmten Erziehungsstätte, nach meinem Se. Asm, wo meine
lieben Jungen jetzt neuer Tagesarbeit und neuer Lebensfreude entgegen¬
schlummern.

Noch eine Stunde, und unser Flug führt uns über eine der schönsten und
durch den von uns eben überflognen Waldbesitz reichsten deutschen Städte.
Daß Görlitz diesen Ruf nicht umsonst genießt, bestätigt uns sogar der Eindruck,
den wir jetzt in nächtlicher Stunde von oben gewinnen. Wir sind erstaunt
über die im künstlichen Lichte besonders auffallende Größe der Stadt mit ihren
vielen, auch über die Reiße nach Osten sich fortsetzenden vorstadtartigen Ver¬
zweigungen, ihren weiten Bahnhofsanlagen im Südwesten, in denen sich fünf
Verkehrslinien vereinigen, über das großstädtische Treiben auf den Straßen,
die von Wagen und elektrischen Bahnen belebt sind. Im Gegensatz dazu er¬
hebt sich düster und schattenhaft einige Kilometer südwestlich der Basaltkegel
der Landeskrone.

Fast eine Viertelstunde dauerts, bis wir ganz über die Stadt hinweg sind,
und so ungern wirs tun, wir müssen neue Ballastvpfer bringen, es wäre doch
zu peinlich, mit dem Schlepptau unliebsamerweise die Aufmerksamkeit der Gör-
litzer auf uns zu lenken, wohl gar einen der vielen Türme oder Schlote zu
gefährden. Im allgemeinen können wir jetzt, seitdem die Nacht völlig herein¬
gebrochen ist, mit der Fahrtkurve, wie sie der Barograph zeichnet, zufrieden
sein, sie beschreibt eine ziemlich gleichmäßige sanfte Wellenlinie. Aber wir haben
auch nur noch drei Sack Ballast, mit ihnen die Nacht durchzuhalten ist un¬
möglich. So heißes denn Notballast schaffen, und hierin zeigt sich Dr. Elias
unglaublich erfinderisch, hat er doch reiche Erfahrungen für solche Fülle sammeln
können bei seinen mit Berson unternommenen wissenschaftlichen Hochfahrten bis
8000 Meter und darüber sowie bei Weitfahrten, von denen eine ihn in dreißig
Stunden nach Südrußland, nach Poltawa im Stromgebiete des Dujepr führte.

Was der Korb, was wir selbst irgendwie entbehren können, wird als
Ballast zurechtgelegt, das meiste aber vorher in Stücke zerkleinert, die an
Gewicht einigen Handvoll Sand entsprechen. Wer uns beide da Hütte sehen
können, wie wir, der eine mit dem großen Dolche bewaffnet, der zur Aus¬
rüstung der Korbtasche gehört, der andre mit einem scharfen Taschenmesser,
jeder für sich oder, wenn nötig, auch mit vereinten Kräften, tapfer drauf los


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/44>, abgerufen am 24.07.2024.