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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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George Meredith als Psycholog

steiler des neunzehnten Jahrhunderts, Thomas Peacock (1785 bis 1866, den
Verfasser der aristophanischen Satire KoacllonZ LsU, 1817), dessen literarische
Bedeutung bis jetzt noch wenig gewürdigt worden ist.

Da sich Mcrediths charakteristische Züge in seinem ersten Roman: "Die
Feuerprobe Richard Feverels" am deutlichsten offenbaren, so müssen wir auf
ihn näher eingehn: Sir Austin Feverel ist der Besitzer von Naynham, einem
an der Themse liegenden Schlosse einer westenglischen Grafschaft. Sein Ehe¬
glück ist von kurzer Dauer gewesen, denn ein Universitätsfreund, den er bei
sich aufgenommen hatte, war der Liebhaber der jungen Schloßherrin geworden,
und der vortreffliche, in seiner ehrlichen Liebe und Freundschaft so schändlich
hintergangne Sir Austin hatte die Schuldigen hinausgewiesen. So lebt er
denn mit seinem kleinen Sohne Richard allein; aber die Leere im Schlosse wird
bald ausgefüllt durch eine Reihe merkwürdiger Verwandten, die alle in dem
Schlosse Unterschlupf finden; unter ihnen Austins Schwester, die verwitwete
Doria, die den jungen reichen Erben Richard für ihre Tochter Klara gewinnen
möchte. Sir Austin hat in seiner Einsamkeit viel über die Rätsel und Ge¬
fahren des Lebens nachgedacht und seine Gedanken darüber in dem Buche
"Das Manuskript des Pilgers" veröffentlicht. Er will seinen einzigen Sohn
und Erben nach einem besondern Erziehungssystem aufwachsen lassen. Die
Schule und die Universität, die nach seiner Ansicht Stätten der moralischen
Verderbtheit sind, soll Richard nicht besuchen; er soll sich unter der väterlichen
Wachsamkeit zum Manne entwickeln. Den Unterricht übernimmt Sir Austins
Neffe Adrian, ein weltkluger, aber an epikureischen Neigungen gescheiterter
Theologe. Richards Spielgeführte ist Ripton Thompson, der Sohn des herr¬
schaftlichen Advokaten. Während Sir Austin sein System theoretisch vertieft,
treiben die Jungen argen Unfug, sie wildern auf dem Grundstück des Farmers
Blaize, werden von diesem überrascht und mit der Reitpeitsche durchgeprügelt.
Richard sinnt auf Rache; am Wege belauscht er das Gespräch eines Kessel¬
flickers mit einem von dem Farmer weggejagten Knecht; er hört, daß dieser
Lust hat, dem Farmer aus Rache den Heuschober anzuzünden. So steckt er
sich denn hinter diesen Knecht, gibt ihn: Geld, und in der Nacht brennt die
Scheune nieder. In ihrer Aufgeregtheit verraten sich die Jungen, und Sir
Austin hat Mühe, den Farmer zu beruhigen; dieser wird reichlich entschädigt,
und Richard muß persönlich um Verzeihung bitten, die ihm von dem Farmer
auch gewährt wird, da dessen kleine Nichte Lucy Desborough den jungen Richard
sehr gern hat.

"Zwischen dem einfachen Knabenalter und dem Jünglingsalter, sagt Sir
Austin, in der Blütezeit, auf der Schwelle der Pubertät gibt es "eine selbst¬
lose Stunde", nennen wir sie die "geistige Saatzeit"." Diese Zeit sucht der
Vater auszunutzen.

Richard soll zu einem Staatsmann erzogen werden; er studiert mit ihm
Geschichte, liest die Parlamentsreden der großen Politiker und sucht sein Herz


Grenzboten I 1907 47
George Meredith als Psycholog

steiler des neunzehnten Jahrhunderts, Thomas Peacock (1785 bis 1866, den
Verfasser der aristophanischen Satire KoacllonZ LsU, 1817), dessen literarische
Bedeutung bis jetzt noch wenig gewürdigt worden ist.

Da sich Mcrediths charakteristische Züge in seinem ersten Roman: „Die
Feuerprobe Richard Feverels" am deutlichsten offenbaren, so müssen wir auf
ihn näher eingehn: Sir Austin Feverel ist der Besitzer von Naynham, einem
an der Themse liegenden Schlosse einer westenglischen Grafschaft. Sein Ehe¬
glück ist von kurzer Dauer gewesen, denn ein Universitätsfreund, den er bei
sich aufgenommen hatte, war der Liebhaber der jungen Schloßherrin geworden,
und der vortreffliche, in seiner ehrlichen Liebe und Freundschaft so schändlich
hintergangne Sir Austin hatte die Schuldigen hinausgewiesen. So lebt er
denn mit seinem kleinen Sohne Richard allein; aber die Leere im Schlosse wird
bald ausgefüllt durch eine Reihe merkwürdiger Verwandten, die alle in dem
Schlosse Unterschlupf finden; unter ihnen Austins Schwester, die verwitwete
Doria, die den jungen reichen Erben Richard für ihre Tochter Klara gewinnen
möchte. Sir Austin hat in seiner Einsamkeit viel über die Rätsel und Ge¬
fahren des Lebens nachgedacht und seine Gedanken darüber in dem Buche
„Das Manuskript des Pilgers" veröffentlicht. Er will seinen einzigen Sohn
und Erben nach einem besondern Erziehungssystem aufwachsen lassen. Die
Schule und die Universität, die nach seiner Ansicht Stätten der moralischen
Verderbtheit sind, soll Richard nicht besuchen; er soll sich unter der väterlichen
Wachsamkeit zum Manne entwickeln. Den Unterricht übernimmt Sir Austins
Neffe Adrian, ein weltkluger, aber an epikureischen Neigungen gescheiterter
Theologe. Richards Spielgeführte ist Ripton Thompson, der Sohn des herr¬
schaftlichen Advokaten. Während Sir Austin sein System theoretisch vertieft,
treiben die Jungen argen Unfug, sie wildern auf dem Grundstück des Farmers
Blaize, werden von diesem überrascht und mit der Reitpeitsche durchgeprügelt.
Richard sinnt auf Rache; am Wege belauscht er das Gespräch eines Kessel¬
flickers mit einem von dem Farmer weggejagten Knecht; er hört, daß dieser
Lust hat, dem Farmer aus Rache den Heuschober anzuzünden. So steckt er
sich denn hinter diesen Knecht, gibt ihn: Geld, und in der Nacht brennt die
Scheune nieder. In ihrer Aufgeregtheit verraten sich die Jungen, und Sir
Austin hat Mühe, den Farmer zu beruhigen; dieser wird reichlich entschädigt,
und Richard muß persönlich um Verzeihung bitten, die ihm von dem Farmer
auch gewährt wird, da dessen kleine Nichte Lucy Desborough den jungen Richard
sehr gern hat.

„Zwischen dem einfachen Knabenalter und dem Jünglingsalter, sagt Sir
Austin, in der Blütezeit, auf der Schwelle der Pubertät gibt es »eine selbst¬
lose Stunde«, nennen wir sie die »geistige Saatzeit«." Diese Zeit sucht der
Vater auszunutzen.

Richard soll zu einem Staatsmann erzogen werden; er studiert mit ihm
Geschichte, liest die Parlamentsreden der großen Politiker und sucht sein Herz


Grenzboten I 1907 47
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[0365] George Meredith als Psycholog steiler des neunzehnten Jahrhunderts, Thomas Peacock (1785 bis 1866, den Verfasser der aristophanischen Satire KoacllonZ LsU, 1817), dessen literarische Bedeutung bis jetzt noch wenig gewürdigt worden ist. Da sich Mcrediths charakteristische Züge in seinem ersten Roman: „Die Feuerprobe Richard Feverels" am deutlichsten offenbaren, so müssen wir auf ihn näher eingehn: Sir Austin Feverel ist der Besitzer von Naynham, einem an der Themse liegenden Schlosse einer westenglischen Grafschaft. Sein Ehe¬ glück ist von kurzer Dauer gewesen, denn ein Universitätsfreund, den er bei sich aufgenommen hatte, war der Liebhaber der jungen Schloßherrin geworden, und der vortreffliche, in seiner ehrlichen Liebe und Freundschaft so schändlich hintergangne Sir Austin hatte die Schuldigen hinausgewiesen. So lebt er denn mit seinem kleinen Sohne Richard allein; aber die Leere im Schlosse wird bald ausgefüllt durch eine Reihe merkwürdiger Verwandten, die alle in dem Schlosse Unterschlupf finden; unter ihnen Austins Schwester, die verwitwete Doria, die den jungen reichen Erben Richard für ihre Tochter Klara gewinnen möchte. Sir Austin hat in seiner Einsamkeit viel über die Rätsel und Ge¬ fahren des Lebens nachgedacht und seine Gedanken darüber in dem Buche „Das Manuskript des Pilgers" veröffentlicht. Er will seinen einzigen Sohn und Erben nach einem besondern Erziehungssystem aufwachsen lassen. Die Schule und die Universität, die nach seiner Ansicht Stätten der moralischen Verderbtheit sind, soll Richard nicht besuchen; er soll sich unter der väterlichen Wachsamkeit zum Manne entwickeln. Den Unterricht übernimmt Sir Austins Neffe Adrian, ein weltkluger, aber an epikureischen Neigungen gescheiterter Theologe. Richards Spielgeführte ist Ripton Thompson, der Sohn des herr¬ schaftlichen Advokaten. Während Sir Austin sein System theoretisch vertieft, treiben die Jungen argen Unfug, sie wildern auf dem Grundstück des Farmers Blaize, werden von diesem überrascht und mit der Reitpeitsche durchgeprügelt. Richard sinnt auf Rache; am Wege belauscht er das Gespräch eines Kessel¬ flickers mit einem von dem Farmer weggejagten Knecht; er hört, daß dieser Lust hat, dem Farmer aus Rache den Heuschober anzuzünden. So steckt er sich denn hinter diesen Knecht, gibt ihn: Geld, und in der Nacht brennt die Scheune nieder. In ihrer Aufgeregtheit verraten sich die Jungen, und Sir Austin hat Mühe, den Farmer zu beruhigen; dieser wird reichlich entschädigt, und Richard muß persönlich um Verzeihung bitten, die ihm von dem Farmer auch gewährt wird, da dessen kleine Nichte Lucy Desborough den jungen Richard sehr gern hat. „Zwischen dem einfachen Knabenalter und dem Jünglingsalter, sagt Sir Austin, in der Blütezeit, auf der Schwelle der Pubertät gibt es »eine selbst¬ lose Stunde«, nennen wir sie die »geistige Saatzeit«." Diese Zeit sucht der Vater auszunutzen. Richard soll zu einem Staatsmann erzogen werden; er studiert mit ihm Geschichte, liest die Parlamentsreden der großen Politiker und sucht sein Herz Grenzboten I 1907 47

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/365>, abgerufen am 24.07.2024.