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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Goetheerinnerungen im nordwestlichen Böhmen

seiner Abreise, eine "ruhige Nacht" und "conciliante Träume" beschieden waren.
Dem alten, sorgsam gehüteten Folianten, in den die Namen der Wohngäste
eingetragen werden, nebst Datum der Ankunft und Abreise, sowie die gezählten
Preise, konnte ich entnehmen, daß Goethe für seinen Aufenthalt vom 3. Juli
bis 20. August in Summa 420 Gulden entrichtet hat. Ein Blick aus seinen
Zimmern auf die Umgebung überzeugt uns, daß Goethe allen Grund hatte, die
Loge seines "noch vor Thorschluß" gewonnenen "allerliebsten Quartiers" zu
rühmen, wie er dies in seinen Briefen zu tun nicht müde wird. "Ich lege ein
Kupfer von Marienbad bei, schreibt er seinem Sohn am 8. Juli, woraus Ihr
sehen könnt, wie munter es hier aussieht; meine Wohnung ist das auf der
Schattenseite liegende obere Eckhaus gleich links an der Reihe der größern Ge¬
bäude. Es fliegt ein Vogel ganz gerade oben drüber. In dem größten Ge¬
bäude öden Hause des Grafen Klebelsberg, jetzt Hotel Weimar! wohnt der
Großherzog Shend darauf auch die Familie von Levetzows, und ich kann aus
meinen Fenstern alles sehen, was auf der Terrasse vorgeht." Diese in Goethes
Tagebuch immer und immer wieder genannte "Terrasse" bildete offenbar den
obersten Teil des heutige" "Kirchen-Platzes", in dessen Mitte sich seit 1850
die katholische Maria Himmclfahrtskirche erhebt. Diese Terrasse, zu der die noch
heute stehende Baumlaube vor dem Hotel Weimar gehörte, hat man zu unter¬
scheiden von den schon oben genannten Seitenterrassen über den Torfahrten des
Klebelsbergischen Hauses und von der hinter diesem Hause liegenden, in Goethes
Tagebuch und Briefen ebenfalls genannten "Klebelsbergischen Terrasse".

So begünstigt durch die glückliche Lage und Beschaffenheit seiner Wohnung
überwindet Goethe beim Genuß des Brunnens (den er, wie uns auch durch
Lili Partheys Erzählung bezeugt wird, nicht an der Quelle, sondern zu Hause
trinkt) und beim Gebrauch von Moorfußbädern bald die Nachwirkungen seiner
schweren Krankheit. "Freilich, meldet er Knebeln, war mein Zustand seit diesem
Winter allzu stockend, ich wußte kaum, ob ich noch lebte und zu wirken ver¬
mochte. Alles regt sich nun wieder, sowohl der Körper als der Geist." In
fleißiger Arbeit an den "Tag- und Jcihres-Heften", bei mannigfaltiger, zumal
naturwissenschaftlicher Lektüre und eifrig fortgesetzter eigner Durchforschung der
geologischen Verhältnisse Marienbads, in der Pflege endlich eines höchst ge¬
selligen Verkehrs verfließt die Zeit nur allzu schnell.

Der poetische Ertrag dieser Wochen war nur gering, mit Ausnahme freilich
der Lyrik: ein paar heitre kleine Gedichte gelangen nebenbei, vollendeter Frauen¬
gesang aber und gleich meisterhaftes Klavierspiel entlockten zum Schluß dem
schmerzlich bewegten Gemüt, das schon in stummer Entsagung sich in sich selbst
verschließen wollte, einige der herrlichsten Blüten. "Wie man eine geballte
Faust seine in "Mißmuth, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere" geballtes freundlich


Goetheerinnerungen im nordwestlichen Böhmen

seiner Abreise, eine „ruhige Nacht" und „conciliante Träume" beschieden waren.
Dem alten, sorgsam gehüteten Folianten, in den die Namen der Wohngäste
eingetragen werden, nebst Datum der Ankunft und Abreise, sowie die gezählten
Preise, konnte ich entnehmen, daß Goethe für seinen Aufenthalt vom 3. Juli
bis 20. August in Summa 420 Gulden entrichtet hat. Ein Blick aus seinen
Zimmern auf die Umgebung überzeugt uns, daß Goethe allen Grund hatte, die
Loge seines „noch vor Thorschluß" gewonnenen „allerliebsten Quartiers" zu
rühmen, wie er dies in seinen Briefen zu tun nicht müde wird. „Ich lege ein
Kupfer von Marienbad bei, schreibt er seinem Sohn am 8. Juli, woraus Ihr
sehen könnt, wie munter es hier aussieht; meine Wohnung ist das auf der
Schattenseite liegende obere Eckhaus gleich links an der Reihe der größern Ge¬
bäude. Es fliegt ein Vogel ganz gerade oben drüber. In dem größten Ge¬
bäude öden Hause des Grafen Klebelsberg, jetzt Hotel Weimar! wohnt der
Großherzog Shend darauf auch die Familie von Levetzows, und ich kann aus
meinen Fenstern alles sehen, was auf der Terrasse vorgeht." Diese in Goethes
Tagebuch immer und immer wieder genannte „Terrasse" bildete offenbar den
obersten Teil des heutige« „Kirchen-Platzes", in dessen Mitte sich seit 1850
die katholische Maria Himmclfahrtskirche erhebt. Diese Terrasse, zu der die noch
heute stehende Baumlaube vor dem Hotel Weimar gehörte, hat man zu unter¬
scheiden von den schon oben genannten Seitenterrassen über den Torfahrten des
Klebelsbergischen Hauses und von der hinter diesem Hause liegenden, in Goethes
Tagebuch und Briefen ebenfalls genannten „Klebelsbergischen Terrasse".

So begünstigt durch die glückliche Lage und Beschaffenheit seiner Wohnung
überwindet Goethe beim Genuß des Brunnens (den er, wie uns auch durch
Lili Partheys Erzählung bezeugt wird, nicht an der Quelle, sondern zu Hause
trinkt) und beim Gebrauch von Moorfußbädern bald die Nachwirkungen seiner
schweren Krankheit. „Freilich, meldet er Knebeln, war mein Zustand seit diesem
Winter allzu stockend, ich wußte kaum, ob ich noch lebte und zu wirken ver¬
mochte. Alles regt sich nun wieder, sowohl der Körper als der Geist." In
fleißiger Arbeit an den „Tag- und Jcihres-Heften", bei mannigfaltiger, zumal
naturwissenschaftlicher Lektüre und eifrig fortgesetzter eigner Durchforschung der
geologischen Verhältnisse Marienbads, in der Pflege endlich eines höchst ge¬
selligen Verkehrs verfließt die Zeit nur allzu schnell.

Der poetische Ertrag dieser Wochen war nur gering, mit Ausnahme freilich
der Lyrik: ein paar heitre kleine Gedichte gelangen nebenbei, vollendeter Frauen¬
gesang aber und gleich meisterhaftes Klavierspiel entlockten zum Schluß dem
schmerzlich bewegten Gemüt, das schon in stummer Entsagung sich in sich selbst
verschließen wollte, einige der herrlichsten Blüten. „Wie man eine geballte
Faust seine in »Mißmuth, Reue, Vorwurf, Sorgenschwere« geballtes freundlich


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/31>, abgerufen am 24.07.2024.