Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.und ein schöneres, heiteres Gesellschafts- und Familienleben, Alles in allem: Seit 1871 hat sich so manches geändert. Der stetig wachsende englische und ein schöneres, heiteres Gesellschafts- und Familienleben, Alles in allem: Seit 1871 hat sich so manches geändert. Der stetig wachsende englische <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0309" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301563"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1049" prev="#ID_1048"> und ein schöneres, heiteres Gesellschafts- und Familienleben, Alles in allem:<lb/> der Engländer sei stärker, groß im Guten wie im Bösen, der Franzose lebe<lb/> glücklicher.</p><lb/> <p xml:id="ID_1050"> Seit 1871 hat sich so manches geändert. Der stetig wachsende englische<lb/> Reichtum ist auf den von uus oft beschriebnen Wegen in tiefere Schichten<lb/> hindurch gesickert, die Lage der Lohnarbeiter hat sich verbessert, sie sind auch<lb/> durch Mitteilung von Kenntnissen und anderm Bildungsmaterial einigermaßen<lb/> humanisiert, und der Höllenpfuhl des Lumpenproletariats ist verengert<lb/> worden — zum Teil durch organisierte Auswanderung. Daß das industrielle<lb/> Leben des Jnselreichs noch häßlich genug bleibt, haben wir aus Steffens<lb/> Schilderungen erfahren, und auch mancher andre Festlandsreisende wirft mit¬<lb/> unter einen unbefangnen Blick darauf. Vorigen Sommer erzählte in der<lb/> Naüoualzeituug, die der Feindschaft gegen die Industrie nicht verdächtig ist,<lb/> ein Berichterstatter von den Seebädern, in denen sich die Arbeiterbevölkerung<lb/> erholt — die Fabrikanten pflegen ihren Arbeitern acht bis vierzehn Tage<lb/> Sommerferien zu bewilligen. Die respektabel» Leute, bemerkte er unter anderm,<lb/> beschwerten sich über das wüste Treiben dieser Badegäste, aber wer die Hölle<lb/> kenne, in der sie ihre Arbeitzeit zubringen, der werde es ihnen nicht verargen,<lb/> daß sie in der karg bemessenen Freiheit ihren animalischen Trieben keinen<lb/> Zwang auflegten. Doch besser, viel besser ist es geworden, und einzelne<lb/> Fabrikanten, wie die Besitzer der Sunlight Soapfabriken, Gebrüder Lever,<lb/> haben ihren Arbeitern Gartenstädte angelegt, die mit allein Konifort versehen<lb/> und wahre Paradiese sein sollen. Aber diese Besserung der Lage hat die<lb/> Wendung der innern Politik nach links nicht verhindert. Ein paar Jahrzehnte<lb/> hindurch ist Taines Voraussage eingetroffen, daß die Erweiterung des Stimm¬<lb/> rechts in den Wahlergebnissen nichts ändern werde. Doch allmählich ist die<lb/> gewerkschaftliche Organisierung der Lohnarbeiter immer mehr politisch geworden,<lb/> hat zur Wahl von Arbeiterabgevrdneten und schließlich zu der jetzigen liberalen<lb/> Regierung geführt, deren Liberalismus nichts mehr mit dem der alten Whigs<lb/> zu schaffen hat, sondern demokratisch ist: den untern Schichten unmittelbaren<lb/> Einfluß auf die Regierung sichert. Es haben eben städtische und industrielle<lb/> Arbeiter die Wahlberechtigung erlangt, die von Anhänglichkeit an die gebornen<lb/> Führer nichts empfinden, und während zu Taines Zeit noch drei Fünftel des<lb/> Volkes Analphabeten, also der Mittel der gegenseitigen Verständigung, der<lb/> Organisierung, Agitation und Massenwirkung beraubt waren, macht sich seit<lb/> zwanzig Jahren die Wirkung der Schulgesetze der siebziger Jahre bemerkbar.<lb/> Wir haben in den Berichten über die beiden Werke von Josef Redlich dem<lb/> Verfasser zugestanden, daß sich bis jetzt die bewunderungswürdige politische<lb/> Weisheit der englischen Aristokratie bewährt hat, und daß sie immer noch im¬<lb/> stande gewesen ist, den Staatsorganismus der veränderten sozialen Struktur<lb/> und dem erwachten intellektuelle» Leben der Massen anzupassen, zugleich aber<lb/> dem Zweifel Ausdruck gegeben, ob ihr das »och lange gelingen werde.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0309]
und ein schöneres, heiteres Gesellschafts- und Familienleben, Alles in allem:
der Engländer sei stärker, groß im Guten wie im Bösen, der Franzose lebe
glücklicher.
Seit 1871 hat sich so manches geändert. Der stetig wachsende englische
Reichtum ist auf den von uus oft beschriebnen Wegen in tiefere Schichten
hindurch gesickert, die Lage der Lohnarbeiter hat sich verbessert, sie sind auch
durch Mitteilung von Kenntnissen und anderm Bildungsmaterial einigermaßen
humanisiert, und der Höllenpfuhl des Lumpenproletariats ist verengert
worden — zum Teil durch organisierte Auswanderung. Daß das industrielle
Leben des Jnselreichs noch häßlich genug bleibt, haben wir aus Steffens
Schilderungen erfahren, und auch mancher andre Festlandsreisende wirft mit¬
unter einen unbefangnen Blick darauf. Vorigen Sommer erzählte in der
Naüoualzeituug, die der Feindschaft gegen die Industrie nicht verdächtig ist,
ein Berichterstatter von den Seebädern, in denen sich die Arbeiterbevölkerung
erholt — die Fabrikanten pflegen ihren Arbeitern acht bis vierzehn Tage
Sommerferien zu bewilligen. Die respektabel» Leute, bemerkte er unter anderm,
beschwerten sich über das wüste Treiben dieser Badegäste, aber wer die Hölle
kenne, in der sie ihre Arbeitzeit zubringen, der werde es ihnen nicht verargen,
daß sie in der karg bemessenen Freiheit ihren animalischen Trieben keinen
Zwang auflegten. Doch besser, viel besser ist es geworden, und einzelne
Fabrikanten, wie die Besitzer der Sunlight Soapfabriken, Gebrüder Lever,
haben ihren Arbeitern Gartenstädte angelegt, die mit allein Konifort versehen
und wahre Paradiese sein sollen. Aber diese Besserung der Lage hat die
Wendung der innern Politik nach links nicht verhindert. Ein paar Jahrzehnte
hindurch ist Taines Voraussage eingetroffen, daß die Erweiterung des Stimm¬
rechts in den Wahlergebnissen nichts ändern werde. Doch allmählich ist die
gewerkschaftliche Organisierung der Lohnarbeiter immer mehr politisch geworden,
hat zur Wahl von Arbeiterabgevrdneten und schließlich zu der jetzigen liberalen
Regierung geführt, deren Liberalismus nichts mehr mit dem der alten Whigs
zu schaffen hat, sondern demokratisch ist: den untern Schichten unmittelbaren
Einfluß auf die Regierung sichert. Es haben eben städtische und industrielle
Arbeiter die Wahlberechtigung erlangt, die von Anhänglichkeit an die gebornen
Führer nichts empfinden, und während zu Taines Zeit noch drei Fünftel des
Volkes Analphabeten, also der Mittel der gegenseitigen Verständigung, der
Organisierung, Agitation und Massenwirkung beraubt waren, macht sich seit
zwanzig Jahren die Wirkung der Schulgesetze der siebziger Jahre bemerkbar.
Wir haben in den Berichten über die beiden Werke von Josef Redlich dem
Verfasser zugestanden, daß sich bis jetzt die bewunderungswürdige politische
Weisheit der englischen Aristokratie bewährt hat, und daß sie immer noch im¬
stande gewesen ist, den Staatsorganismus der veränderten sozialen Struktur
und dem erwachten intellektuelle» Leben der Massen anzupassen, zugleich aber
dem Zweifel Ausdruck gegeben, ob ihr das »och lange gelingen werde.
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