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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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gediegne Bibliothek und eine Gemäldegalerie und besteht seinem Kerne nach
aus dein Komfort, den die vornehmen Engländer erfunden haben. An einem
einzelnen Bestandteile dieser luxuriösen Einrichtung, der zugleich eine Grund¬
bedingung aller höhern Kultur ist, läßt sich der Gegensatz der englischen
Aristokratie zum englischen Proletariat am wirkungsvollsten veranschaulichen.
Jeder Gast eines solchen Edclsitzes bekommt, wie jedes Familienglied, täglich
viermal eine ganze Garnitur von allerlei Gefäßen mit kaltem und warmem
Wahns- und Badewasser gefüllt, und eine Waschanstalt ist alle Wochentage
ununterbrochen im Betrieb, um dem ungeheuern Verbrauch von Leib-, Tisch-,
Bett- und Toilettcnwäsche zu genügen. Dagegen leben Hunderttausende, wo
nicht über eine Million, deren Leib, ihrem Aussehen und Aufenthaltsorte nach
zu schließen, niemals ein Tropfen reinen Wassers berührt hat, und denen
Wüsche ein völlig unbekannter Begriff ist. Von den Vornehmen wird einmal
im Scherz gesagt, sie brächten den fünften Teil ihres Lebens in der Bade¬
wanne zu. Taine hat die Lumpenviertel von London, die Arbeiterviertel von
Manchester und Liverpool besucht. Von den Massen der Prostituierten, die
in London an ihm vorüberzogen und ihn anbettelten, schreibt er: "Es ist nicht
Ausschweifung, was sich breit macht, sondern Elend, und was für ein Elend!
Die bejammernswerte Prozession in dem Dunkel der monumentalen Straßen
macht einen krank. Mir war, als sähe ich einen Zug von Toten." lind die
Arbeiter der Industrie- und Hafenstädte machen ihm keinen bessern Eindruck
als die Londoner Lumpe; abgemagert, blaß, schmutzig, trübselig sind alle. Die
Bettler Rembrandts, notiert er in Liverpool, "waren in ihren malerischen
Hundelöcheru glücklicher. Und die Iren habe ich nicht einmal gesehen. Sie
strömen hier zusammen; man sagt, es gebe hunderttausend; ihr Viertel ist der
unterste Höllenkreis. Doch nein! Es gibt noch Schlimmeres und niedrigeres,
vornehmlich in Belfast, wie man mir sagt; dort zögen abends nach Fabrikschluß
die Mädchen ohne Schuhe, ohne Strümpfe, ohne Hemd in ihren grauen Arbeits¬
kitteln auf den Straßen umher, um ihren Tagelohn um ein paar Pfennige
zu vermehren." Die Landarbeiter findet er verliert. Die englischen Armen
aller Kategorien machen ihm einen widerwärtigern Eindruck als die französischen
und überhaupt die südländischen. Darüber äußert er sich oft. Von den armen
Leuten, die bei dem prunkvollen Dcrbhrennen in Epsom eine Kleinigkeit zu
verdienen suchen, schreibt er: "Fast alle gleichen abgehetzten verprügelten
rändigen Hunden, die nicht allzu hoffnungsvoll auf einen Knochen warten.
Ihr Ausdruck von Verdummung oder Gier ist schmerzlich zu sehen. Die meisten
sind barfuß, und alle schauerlich schmutzig und lächerlich, weil sie abgelegte
Herrcnkleider tragen, ehemals elegante Anzüge, kleine Hüte, die einst die Köpfe
junger Damen zierten. Ein solcher Rock, der über drei oder vier Leiber ge¬
wandert ist und sich unterwegs aufgelöst hat, ist mir stets peinlich anzusehen;
er verhäßlicht. Durch ihn gibt sich das Wesen, das sich mit ihm bedeckt, frei¬
willig oder unfreiwillig als Auswurf der Menschheit zu erkennen. fLeider sieht


Grenzboten I 1907 39

gediegne Bibliothek und eine Gemäldegalerie und besteht seinem Kerne nach
aus dein Komfort, den die vornehmen Engländer erfunden haben. An einem
einzelnen Bestandteile dieser luxuriösen Einrichtung, der zugleich eine Grund¬
bedingung aller höhern Kultur ist, läßt sich der Gegensatz der englischen
Aristokratie zum englischen Proletariat am wirkungsvollsten veranschaulichen.
Jeder Gast eines solchen Edclsitzes bekommt, wie jedes Familienglied, täglich
viermal eine ganze Garnitur von allerlei Gefäßen mit kaltem und warmem
Wahns- und Badewasser gefüllt, und eine Waschanstalt ist alle Wochentage
ununterbrochen im Betrieb, um dem ungeheuern Verbrauch von Leib-, Tisch-,
Bett- und Toilettcnwäsche zu genügen. Dagegen leben Hunderttausende, wo
nicht über eine Million, deren Leib, ihrem Aussehen und Aufenthaltsorte nach
zu schließen, niemals ein Tropfen reinen Wassers berührt hat, und denen
Wüsche ein völlig unbekannter Begriff ist. Von den Vornehmen wird einmal
im Scherz gesagt, sie brächten den fünften Teil ihres Lebens in der Bade¬
wanne zu. Taine hat die Lumpenviertel von London, die Arbeiterviertel von
Manchester und Liverpool besucht. Von den Massen der Prostituierten, die
in London an ihm vorüberzogen und ihn anbettelten, schreibt er: „Es ist nicht
Ausschweifung, was sich breit macht, sondern Elend, und was für ein Elend!
Die bejammernswerte Prozession in dem Dunkel der monumentalen Straßen
macht einen krank. Mir war, als sähe ich einen Zug von Toten." lind die
Arbeiter der Industrie- und Hafenstädte machen ihm keinen bessern Eindruck
als die Londoner Lumpe; abgemagert, blaß, schmutzig, trübselig sind alle. Die
Bettler Rembrandts, notiert er in Liverpool, „waren in ihren malerischen
Hundelöcheru glücklicher. Und die Iren habe ich nicht einmal gesehen. Sie
strömen hier zusammen; man sagt, es gebe hunderttausend; ihr Viertel ist der
unterste Höllenkreis. Doch nein! Es gibt noch Schlimmeres und niedrigeres,
vornehmlich in Belfast, wie man mir sagt; dort zögen abends nach Fabrikschluß
die Mädchen ohne Schuhe, ohne Strümpfe, ohne Hemd in ihren grauen Arbeits¬
kitteln auf den Straßen umher, um ihren Tagelohn um ein paar Pfennige
zu vermehren." Die Landarbeiter findet er verliert. Die englischen Armen
aller Kategorien machen ihm einen widerwärtigern Eindruck als die französischen
und überhaupt die südländischen. Darüber äußert er sich oft. Von den armen
Leuten, die bei dem prunkvollen Dcrbhrennen in Epsom eine Kleinigkeit zu
verdienen suchen, schreibt er: „Fast alle gleichen abgehetzten verprügelten
rändigen Hunden, die nicht allzu hoffnungsvoll auf einen Knochen warten.
Ihr Ausdruck von Verdummung oder Gier ist schmerzlich zu sehen. Die meisten
sind barfuß, und alle schauerlich schmutzig und lächerlich, weil sie abgelegte
Herrcnkleider tragen, ehemals elegante Anzüge, kleine Hüte, die einst die Köpfe
junger Damen zierten. Ein solcher Rock, der über drei oder vier Leiber ge¬
wandert ist und sich unterwegs aufgelöst hat, ist mir stets peinlich anzusehen;
er verhäßlicht. Durch ihn gibt sich das Wesen, das sich mit ihm bedeckt, frei¬
willig oder unfreiwillig als Auswurf der Menschheit zu erkennen. fLeider sieht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/305>, abgerufen am 24.07.2024.