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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Die Schöpfung der Sprache

Dieselbe Wurzel ser "fließen" also, die unter andern in den Appellativen
altindisch Zg-r-it Muß), lateinisch sal-um (Meer, See), altindisch Sav-am,
(Wasser), gotisch sg.lo-8 (See, Meer), neuhochdeutsch rief-ein usw. vorliegt,
tritt uns auch in den Flußnamen Saar und Saal-e entgegen, die sich uns
jetzt sofort in klarer Deutlichkeit als individualisierte Typen des generellen
Begriffes "Fluß" enthüllen. Dann klärt sich auch in einfacher, natürlicher
Weise die Tatsache auf, daß zwei oder gar mehrere Flüsse denselben Namen
führen können. Die Individualisierung hat sich dann in gleicher Weise voll¬
zogen, ein Unterscheidungsbedürfnis hat sich ursprünglich nicht geltend gemacht,
und so ist es gekommen, daß sowohl der bekannte Nebenfluß der Elbe wie
der weniger bekannte Nebenfluß des Mains denselben Namen trägt: den An¬
wohnern beider Flüsse war und ist ihr Fluß die Saale --der Fluß. Erst
das Unterscheidungsbedürfnis des gelehrten Kenners schafft auf künstlichem Wege
die Bezeichnungen der Sächsischen und der Fränkischen Saale. Außer
diesen beiden Saalen gibt es noch manche andre, so entspringt eine Saal-e
zwischen Ils und Hilf, und wie wir im Alpengebiet eine Saal-ach finden,
so in Livland die Sal-is mit der gleichnamigen Stadt an ihrer Mündung in
den Rigaer Meerbusen. Zu Saar und Saal-e aber gesellt sich die schweizerische
Saar-c (daran Saar-en) und der große Nebenfluß der obern Weichsel, der
San, wie der kleine Nebenfluß der Salve, die Saum, und zu Saar, Saal-e,
Saar-e haben wir den entsprechenden vierten Typus, allerdings in umgekehrter
Lagerung, in der Maas vor uns, der sich sofort die Mos-el und weiterhin
die in Böhmen fließende Mich u. ni. anreihen. In Norddeutschland begegnen
wir der Weh-er, und tief im Süden, in Kampanien, treffen wir ganz denselben
Flußuamen als Ves-6ri8 wieder, im Osten haben wir die Vis-Ja der Römer
(unsre heutige Weichsel) und am Oberrhein die von Hebel besuugne Wies-e,
wie in Franken die Wies-ent; in umgelagerter Form haben wir ferner als
Nebenfluß der Donau die Sav-e, in Italien als Nebenfluß des Arno die
8isv-ö, in der Schweiz die seco-ern, in England den Loo-fru, und im
Westen Frankreichs eilen zwei kleinere Flüsse dem Meere zu, die beide den
Namen Loo-ro tragen und der Gegend die Bezeichnung als vöxg.rtsmsut
vMX-Lövres verschafft haben. In Norditalien finden wir nicht weit von
Venedig den 8it-s, in der Schweiz bei Zürich die sibi und nahe bei der
Saar-e die Sinn-e, in Deutschland als Nebenfluß der Nahe die Sinn-er,
in der Landschaft Troas den durch Homer berühmten 2^t-oets, und mit der
Saal-e sehen wir an derselben Stelle, bei Gemunden, die Sinn in den Main
fließen, während der Jnn eine Sill als Zufluß in sich aufnimmt. Wieder in
umgelagerter Gestalt haben wir als Nebenfluß der Mosel und ebenso in Kärnten
eine Lies-er, in Belgien als Nebenfluß der Maas die I^öff-", wie wir in
Thüringen die Rehs-e und im alten Thrakien den Fluß ^c/c7-os antreffen,
dazu gesellt sich die Reiß-e, der wir nicht weniger als dreimal in Deutschland
begegnen. In Italien ferner tritt uns der Ler-lo entgegen, in Rußland zweimal


Die Schöpfung der Sprache

Dieselbe Wurzel ser „fließen" also, die unter andern in den Appellativen
altindisch Zg-r-it Muß), lateinisch sal-um (Meer, See), altindisch Sav-am,
(Wasser), gotisch sg.lo-8 (See, Meer), neuhochdeutsch rief-ein usw. vorliegt,
tritt uns auch in den Flußnamen Saar und Saal-e entgegen, die sich uns
jetzt sofort in klarer Deutlichkeit als individualisierte Typen des generellen
Begriffes „Fluß" enthüllen. Dann klärt sich auch in einfacher, natürlicher
Weise die Tatsache auf, daß zwei oder gar mehrere Flüsse denselben Namen
führen können. Die Individualisierung hat sich dann in gleicher Weise voll¬
zogen, ein Unterscheidungsbedürfnis hat sich ursprünglich nicht geltend gemacht,
und so ist es gekommen, daß sowohl der bekannte Nebenfluß der Elbe wie
der weniger bekannte Nebenfluß des Mains denselben Namen trägt: den An¬
wohnern beider Flüsse war und ist ihr Fluß die Saale —der Fluß. Erst
das Unterscheidungsbedürfnis des gelehrten Kenners schafft auf künstlichem Wege
die Bezeichnungen der Sächsischen und der Fränkischen Saale. Außer
diesen beiden Saalen gibt es noch manche andre, so entspringt eine Saal-e
zwischen Ils und Hilf, und wie wir im Alpengebiet eine Saal-ach finden,
so in Livland die Sal-is mit der gleichnamigen Stadt an ihrer Mündung in
den Rigaer Meerbusen. Zu Saar und Saal-e aber gesellt sich die schweizerische
Saar-c (daran Saar-en) und der große Nebenfluß der obern Weichsel, der
San, wie der kleine Nebenfluß der Salve, die Saum, und zu Saar, Saal-e,
Saar-e haben wir den entsprechenden vierten Typus, allerdings in umgekehrter
Lagerung, in der Maas vor uns, der sich sofort die Mos-el und weiterhin
die in Böhmen fließende Mich u. ni. anreihen. In Norddeutschland begegnen
wir der Weh-er, und tief im Süden, in Kampanien, treffen wir ganz denselben
Flußuamen als Ves-6ri8 wieder, im Osten haben wir die Vis-Ja der Römer
(unsre heutige Weichsel) und am Oberrhein die von Hebel besuugne Wies-e,
wie in Franken die Wies-ent; in umgelagerter Form haben wir ferner als
Nebenfluß der Donau die Sav-e, in Italien als Nebenfluß des Arno die
8isv-ö, in der Schweiz die seco-ern, in England den Loo-fru, und im
Westen Frankreichs eilen zwei kleinere Flüsse dem Meere zu, die beide den
Namen Loo-ro tragen und der Gegend die Bezeichnung als vöxg.rtsmsut
vMX-Lövres verschafft haben. In Norditalien finden wir nicht weit von
Venedig den 8it-s, in der Schweiz bei Zürich die sibi und nahe bei der
Saar-e die Sinn-e, in Deutschland als Nebenfluß der Nahe die Sinn-er,
in der Landschaft Troas den durch Homer berühmten 2^t-oets, und mit der
Saal-e sehen wir an derselben Stelle, bei Gemunden, die Sinn in den Main
fließen, während der Jnn eine Sill als Zufluß in sich aufnimmt. Wieder in
umgelagerter Gestalt haben wir als Nebenfluß der Mosel und ebenso in Kärnten
eine Lies-er, in Belgien als Nebenfluß der Maas die I^öff-«, wie wir in
Thüringen die Rehs-e und im alten Thrakien den Fluß ^c/c7-os antreffen,
dazu gesellt sich die Reiß-e, der wir nicht weniger als dreimal in Deutschland
begegnen. In Italien ferner tritt uns der Ler-lo entgegen, in Rußland zweimal


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[0262] Die Schöpfung der Sprache Dieselbe Wurzel ser „fließen" also, die unter andern in den Appellativen altindisch Zg-r-it Muß), lateinisch sal-um (Meer, See), altindisch Sav-am, (Wasser), gotisch sg.lo-8 (See, Meer), neuhochdeutsch rief-ein usw. vorliegt, tritt uns auch in den Flußnamen Saar und Saal-e entgegen, die sich uns jetzt sofort in klarer Deutlichkeit als individualisierte Typen des generellen Begriffes „Fluß" enthüllen. Dann klärt sich auch in einfacher, natürlicher Weise die Tatsache auf, daß zwei oder gar mehrere Flüsse denselben Namen führen können. Die Individualisierung hat sich dann in gleicher Weise voll¬ zogen, ein Unterscheidungsbedürfnis hat sich ursprünglich nicht geltend gemacht, und so ist es gekommen, daß sowohl der bekannte Nebenfluß der Elbe wie der weniger bekannte Nebenfluß des Mains denselben Namen trägt: den An¬ wohnern beider Flüsse war und ist ihr Fluß die Saale —der Fluß. Erst das Unterscheidungsbedürfnis des gelehrten Kenners schafft auf künstlichem Wege die Bezeichnungen der Sächsischen und der Fränkischen Saale. Außer diesen beiden Saalen gibt es noch manche andre, so entspringt eine Saal-e zwischen Ils und Hilf, und wie wir im Alpengebiet eine Saal-ach finden, so in Livland die Sal-is mit der gleichnamigen Stadt an ihrer Mündung in den Rigaer Meerbusen. Zu Saar und Saal-e aber gesellt sich die schweizerische Saar-c (daran Saar-en) und der große Nebenfluß der obern Weichsel, der San, wie der kleine Nebenfluß der Salve, die Saum, und zu Saar, Saal-e, Saar-e haben wir den entsprechenden vierten Typus, allerdings in umgekehrter Lagerung, in der Maas vor uns, der sich sofort die Mos-el und weiterhin die in Böhmen fließende Mich u. ni. anreihen. In Norddeutschland begegnen wir der Weh-er, und tief im Süden, in Kampanien, treffen wir ganz denselben Flußuamen als Ves-6ri8 wieder, im Osten haben wir die Vis-Ja der Römer (unsre heutige Weichsel) und am Oberrhein die von Hebel besuugne Wies-e, wie in Franken die Wies-ent; in umgelagerter Form haben wir ferner als Nebenfluß der Donau die Sav-e, in Italien als Nebenfluß des Arno die 8isv-ö, in der Schweiz die seco-ern, in England den Loo-fru, und im Westen Frankreichs eilen zwei kleinere Flüsse dem Meere zu, die beide den Namen Loo-ro tragen und der Gegend die Bezeichnung als vöxg.rtsmsut vMX-Lövres verschafft haben. In Norditalien finden wir nicht weit von Venedig den 8it-s, in der Schweiz bei Zürich die sibi und nahe bei der Saar-e die Sinn-e, in Deutschland als Nebenfluß der Nahe die Sinn-er, in der Landschaft Troas den durch Homer berühmten 2^t-oets, und mit der Saal-e sehen wir an derselben Stelle, bei Gemunden, die Sinn in den Main fließen, während der Jnn eine Sill als Zufluß in sich aufnimmt. Wieder in umgelagerter Gestalt haben wir als Nebenfluß der Mosel und ebenso in Kärnten eine Lies-er, in Belgien als Nebenfluß der Maas die I^öff-«, wie wir in Thüringen die Rehs-e und im alten Thrakien den Fluß ^c/c7-os antreffen, dazu gesellt sich die Reiß-e, der wir nicht weniger als dreimal in Deutschland begegnen. In Italien ferner tritt uns der Ler-lo entgegen, in Rußland zweimal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/262>, abgerufen am 02.10.2024.