Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.Die Schöpfung der Sprache predigten? Lange Zeit glaubte Meyer hiermit am Ende zu sein und das Er¬ Die Wurzel in ihrer generellen, die einzelnen Wurzelformen in ihrer Die Schöpfung der Sprache predigten? Lange Zeit glaubte Meyer hiermit am Ende zu sein und das Er¬ Die Wurzel in ihrer generellen, die einzelnen Wurzelformen in ihrer <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0261" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/301515"/> <fw type="header" place="top"> Die Schöpfung der Sprache</fw><lb/> <p xml:id="ID_896" prev="#ID_895"> predigten? Lange Zeit glaubte Meyer hiermit am Ende zu sein und das Er¬<lb/> gebnis ziehen zu können: Die Liqniden, nasale und Spiranten können infolge<lb/> ihrer flüssig-beweglichen Natur in jeder Wurzel ursprünglich miteinander<lb/> wechseln, die starrem Verschlußlaute p, t, k, b, d, g dagegen, deren Artikula¬<lb/> tionsstelle völlig festgelegt ist, sind von diesem generellen Wechsel ausgeschlossen.<lb/> Und doch zeigten sich schon Fälle, in denen auch die Verschlußlaute offenbar<lb/> an diesem Wechsel teilnahmen, wie zum Beispiel in dem Nebeneinander der<lb/> beiden gleichbedeutenden lateinischen Wörter für „Höhle" sxee-us und sxsl-<lb/> unokU Neue mächtige Bundesgenossen traten hinzu, sodaß sich der allgemeine<lb/> Wechsel der Mitlauter als wirklich erwies. Im Lichte dieser Erkenntnis<lb/> schwindet zugleich das letzte Dunkel, das noch über vielen Sprachgebilden lag:<lb/> jede Sprachform wird in ihrem Wesen durchsichtig, und so allein geht der<lb/> gewaltige Sprachstoff, wie es unser Geist von Anfang an als notwendig<lb/> gefordert hatte, restlos in einer einfachen Einheit auf. Auf der jetzigen Höhe<lb/> unsrer Erkenntnis, zu der wir uns langsam aus der Masse des Stoffes<lb/> hinaufgearbeitet haben, sehen wir ein und dieselbe Wurzel mit dem Begriffe<lb/> „kriechen", um auch hier das Beispiel anzuführen, das die Kölnische Zeitung<lb/> in ihrem längern Artikel über die neuen Forschungen gewählt hat, in folgenden<lb/> individuellen Sprachgestalten: lateinisch vsrin-is (Wurm), litauisch Kirm-is<lb/> (Wurm), griechisch x^x-^os (Krebs), x6^6-c-! (Wiesel); keltisch (Wurm),<lb/> lateinisch t^irQ-se-8 (Holzwurm) nebst keltisch tarx-s (Wurm), griechisch<lb/> L-^?r-s (Wurm) und lateinisch 8krx-c> (kriechen); griechisch ^'^-^x-s (Ameise),<lb/> lateinisch korn-iva (Ameise), altindisch Iiarin-ütas (Schildkröte). Wir erkennen<lb/> schon an diesem einzigen Beispiele, welchen Formenreichtum eine Wurzel aus<lb/> sich hervorzutreiben vermochte.</p><lb/> <p xml:id="ID_897"> Die Wurzel in ihrer generellen, die einzelnen Wurzelformen in ihrer<lb/> individuellen Begriffsbezeichnung — im Lichte dieser einfachen Wahrheit findet<lb/> alles seine natürliche Erklärung, und ich darf noch einmal, gleichsam als Probe<lb/> muss Exempel, die Summe unsrer Erkenntnisse an einem plastischen Beispiele<lb/> vergegenwärtigen, und zwar jetzt mit der gebietenden Sicherheit der Deduktion:<lb/> allen Namen der Flüsse — so folgern wir von unserm auf induktiven Wege<lb/> gewonnenen Standpunkt aus — liegen Wurzeln mit dem allgemeinen Be^<lb/> deutungsinhalte „fließen" zugrunde, die Namen der Flüsse bedeuten nichts<lb/> andres, als was diese sind, nämlich Fluß, und so sehen wir in diesem Falle,<lb/> wo das Jndividualisierungsbedürfnis am größten war, den von der Natur<lb/> geschaffnen Formenreichtum der Wurzeln im größten Maße praktisch verwandt.<lb/> Ich greife einmal nur eine einzige Wurzel hör „fließen" heraus, die in ihren<lb/> verschiedensten Formen sehr vielen Flußnamen Europas und Asiens, des Ge¬<lb/> bietes der indogermanischen Völker, zugrunde liegt, und suche dabei den un¬<lb/> geheuern, schier unerschöpflichen Geftaltenreichtum dieser Wurzel einmal nur<lb/> nach drei Richtungen als erstens hör, zweitens ehr, drittens msr und vör mehr<lb/> anzudeuten als zu erschöpfen,</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0261]
Die Schöpfung der Sprache
predigten? Lange Zeit glaubte Meyer hiermit am Ende zu sein und das Er¬
gebnis ziehen zu können: Die Liqniden, nasale und Spiranten können infolge
ihrer flüssig-beweglichen Natur in jeder Wurzel ursprünglich miteinander
wechseln, die starrem Verschlußlaute p, t, k, b, d, g dagegen, deren Artikula¬
tionsstelle völlig festgelegt ist, sind von diesem generellen Wechsel ausgeschlossen.
Und doch zeigten sich schon Fälle, in denen auch die Verschlußlaute offenbar
an diesem Wechsel teilnahmen, wie zum Beispiel in dem Nebeneinander der
beiden gleichbedeutenden lateinischen Wörter für „Höhle" sxee-us und sxsl-
unokU Neue mächtige Bundesgenossen traten hinzu, sodaß sich der allgemeine
Wechsel der Mitlauter als wirklich erwies. Im Lichte dieser Erkenntnis
schwindet zugleich das letzte Dunkel, das noch über vielen Sprachgebilden lag:
jede Sprachform wird in ihrem Wesen durchsichtig, und so allein geht der
gewaltige Sprachstoff, wie es unser Geist von Anfang an als notwendig
gefordert hatte, restlos in einer einfachen Einheit auf. Auf der jetzigen Höhe
unsrer Erkenntnis, zu der wir uns langsam aus der Masse des Stoffes
hinaufgearbeitet haben, sehen wir ein und dieselbe Wurzel mit dem Begriffe
„kriechen", um auch hier das Beispiel anzuführen, das die Kölnische Zeitung
in ihrem längern Artikel über die neuen Forschungen gewählt hat, in folgenden
individuellen Sprachgestalten: lateinisch vsrin-is (Wurm), litauisch Kirm-is
(Wurm), griechisch x^x-^os (Krebs), x6^6-c-! (Wiesel); keltisch (Wurm),
lateinisch t^irQ-se-8 (Holzwurm) nebst keltisch tarx-s (Wurm), griechisch
L-^?r-s (Wurm) und lateinisch 8krx-c> (kriechen); griechisch ^'^-^x-s (Ameise),
lateinisch korn-iva (Ameise), altindisch Iiarin-ütas (Schildkröte). Wir erkennen
schon an diesem einzigen Beispiele, welchen Formenreichtum eine Wurzel aus
sich hervorzutreiben vermochte.
Die Wurzel in ihrer generellen, die einzelnen Wurzelformen in ihrer
individuellen Begriffsbezeichnung — im Lichte dieser einfachen Wahrheit findet
alles seine natürliche Erklärung, und ich darf noch einmal, gleichsam als Probe
muss Exempel, die Summe unsrer Erkenntnisse an einem plastischen Beispiele
vergegenwärtigen, und zwar jetzt mit der gebietenden Sicherheit der Deduktion:
allen Namen der Flüsse — so folgern wir von unserm auf induktiven Wege
gewonnenen Standpunkt aus — liegen Wurzeln mit dem allgemeinen Be^
deutungsinhalte „fließen" zugrunde, die Namen der Flüsse bedeuten nichts
andres, als was diese sind, nämlich Fluß, und so sehen wir in diesem Falle,
wo das Jndividualisierungsbedürfnis am größten war, den von der Natur
geschaffnen Formenreichtum der Wurzeln im größten Maße praktisch verwandt.
Ich greife einmal nur eine einzige Wurzel hör „fließen" heraus, die in ihren
verschiedensten Formen sehr vielen Flußnamen Europas und Asiens, des Ge¬
bietes der indogermanischen Völker, zugrunde liegt, und suche dabei den un¬
geheuern, schier unerschöpflichen Geftaltenreichtum dieser Wurzel einmal nur
nach drei Richtungen als erstens hör, zweitens ehr, drittens msr und vör mehr
anzudeuten als zu erschöpfen,
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