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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Bildung und Vildungsmittel der Gegenwart
Lari Ientsch von

in siebzehnten Heft (1906) haben wir von dem enzyklopädischen
Sammelwerk, das unter dem Titel: Die Kultur der Gegen¬
wart, ihre Entwicklung und ihre Ziele, bei B. G. Teubner in
Berlin und Leipzig erscheint, den zuerst herausgegebnen Band:
Die christliche Religion mit Einschluß der israelitisch-jüdischen
Religion angezeigt. Seitdem sind drei weitere Bände erschienen: einer behandelt
die orientalischen Literaturen, einer die griechische und die lateinische Literatur
und Sprache, und der dritte, der uns vorliegt, trügt den unsers Erachtens
nicht ganz passenden Titel: Die allgemeinen Grundlagen der Kultur
der Gegenwart. Im Vorwort beruft sich der Organisator des großartigen
Unternehmens, Professor Paul Hinneberg, auf einen Satz in der Festschrift
zum Zwcihuudertjahrsjubiläum der Königlich Preußischen Akademie der Wissen¬
schaften: "Wir sind es müde, bloß Stoffe zu sammeln, wir wollen geistig des
Materials Herr werden; wir wollen hindurchdringen durch die Einzelheiten zu
dem, was doch der Zweck der Wissenschaft ist: zu einer allgemeinen großen
Weltanschauung." Ein Rezensent des Bandes bemerkt: die fehle auch hier; so
vortrefflich darum auch die einzelnen Abhandlungen seien, in Beziehung auf
den angegebnen Zweck leiste dieses Sammelwerk nicht mehr als jede beliebige
Realenzyklopädie. Das heißt denn doch den Zweck gründlich mißverstehen. Daß
es nicht die Absicht des Unternehmens sein könne, in unsrer gärenden Zeit,
die alle alten scheinbar feststehenden Begriffe in Fluß gebracht hat, und die
auf allen Gebieten nach Neubildungen ringt, dem Publikum eine in sich ge¬
schlossene Weltanschauung aufzudrängen (die doch nichts andres sein könnte
als ein Kirchendogma oder ein einseitiges philosophisches System), das sagt
Hinneberg ausdrücklich. Es handelt sich nur darum, die modernen Kultur¬
gebiete und Kulturzweige so darzustellen, daß man ihre Geschichte, ihren
gegenwärtigen Stand und ihre mutmaßlichen oder zu erstrebenden Ziele über¬
schaut und Einblick in ihren innerlichen organischen Zusammenhang gewinnt.
Das kann kein aus Zehntausenden von alphabetisch geordneten Artikeln be¬
stehendes Reallexikon leisten, "Die Kultur der Gegenwart" aber leistet es. Daß
sie sich keine dogmatischen Entscheidungen anmaßt, weder im theistischer noch
im atheistischen, weder im pessimistischen noch im optimistischen Sinne, wird ihr
jeder billig Denkende als hohen Vorzug anrechnen. Und Hinneberg hat in der


Grenzboten I 1907 32


Bildung und Vildungsmittel der Gegenwart
Lari Ientsch von

in siebzehnten Heft (1906) haben wir von dem enzyklopädischen
Sammelwerk, das unter dem Titel: Die Kultur der Gegen¬
wart, ihre Entwicklung und ihre Ziele, bei B. G. Teubner in
Berlin und Leipzig erscheint, den zuerst herausgegebnen Band:
Die christliche Religion mit Einschluß der israelitisch-jüdischen
Religion angezeigt. Seitdem sind drei weitere Bände erschienen: einer behandelt
die orientalischen Literaturen, einer die griechische und die lateinische Literatur
und Sprache, und der dritte, der uns vorliegt, trügt den unsers Erachtens
nicht ganz passenden Titel: Die allgemeinen Grundlagen der Kultur
der Gegenwart. Im Vorwort beruft sich der Organisator des großartigen
Unternehmens, Professor Paul Hinneberg, auf einen Satz in der Festschrift
zum Zwcihuudertjahrsjubiläum der Königlich Preußischen Akademie der Wissen¬
schaften: „Wir sind es müde, bloß Stoffe zu sammeln, wir wollen geistig des
Materials Herr werden; wir wollen hindurchdringen durch die Einzelheiten zu
dem, was doch der Zweck der Wissenschaft ist: zu einer allgemeinen großen
Weltanschauung." Ein Rezensent des Bandes bemerkt: die fehle auch hier; so
vortrefflich darum auch die einzelnen Abhandlungen seien, in Beziehung auf
den angegebnen Zweck leiste dieses Sammelwerk nicht mehr als jede beliebige
Realenzyklopädie. Das heißt denn doch den Zweck gründlich mißverstehen. Daß
es nicht die Absicht des Unternehmens sein könne, in unsrer gärenden Zeit,
die alle alten scheinbar feststehenden Begriffe in Fluß gebracht hat, und die
auf allen Gebieten nach Neubildungen ringt, dem Publikum eine in sich ge¬
schlossene Weltanschauung aufzudrängen (die doch nichts andres sein könnte
als ein Kirchendogma oder ein einseitiges philosophisches System), das sagt
Hinneberg ausdrücklich. Es handelt sich nur darum, die modernen Kultur¬
gebiete und Kulturzweige so darzustellen, daß man ihre Geschichte, ihren
gegenwärtigen Stand und ihre mutmaßlichen oder zu erstrebenden Ziele über¬
schaut und Einblick in ihren innerlichen organischen Zusammenhang gewinnt.
Das kann kein aus Zehntausenden von alphabetisch geordneten Artikeln be¬
stehendes Reallexikon leisten, „Die Kultur der Gegenwart" aber leistet es. Daß
sie sich keine dogmatischen Entscheidungen anmaßt, weder im theistischer noch
im atheistischen, weder im pessimistischen noch im optimistischen Sinne, wird ihr
jeder billig Denkende als hohen Vorzug anrechnen. Und Hinneberg hat in der


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[0249] [Abbildung] Bildung und Vildungsmittel der Gegenwart Lari Ientsch von in siebzehnten Heft (1906) haben wir von dem enzyklopädischen Sammelwerk, das unter dem Titel: Die Kultur der Gegen¬ wart, ihre Entwicklung und ihre Ziele, bei B. G. Teubner in Berlin und Leipzig erscheint, den zuerst herausgegebnen Band: Die christliche Religion mit Einschluß der israelitisch-jüdischen Religion angezeigt. Seitdem sind drei weitere Bände erschienen: einer behandelt die orientalischen Literaturen, einer die griechische und die lateinische Literatur und Sprache, und der dritte, der uns vorliegt, trügt den unsers Erachtens nicht ganz passenden Titel: Die allgemeinen Grundlagen der Kultur der Gegenwart. Im Vorwort beruft sich der Organisator des großartigen Unternehmens, Professor Paul Hinneberg, auf einen Satz in der Festschrift zum Zwcihuudertjahrsjubiläum der Königlich Preußischen Akademie der Wissen¬ schaften: „Wir sind es müde, bloß Stoffe zu sammeln, wir wollen geistig des Materials Herr werden; wir wollen hindurchdringen durch die Einzelheiten zu dem, was doch der Zweck der Wissenschaft ist: zu einer allgemeinen großen Weltanschauung." Ein Rezensent des Bandes bemerkt: die fehle auch hier; so vortrefflich darum auch die einzelnen Abhandlungen seien, in Beziehung auf den angegebnen Zweck leiste dieses Sammelwerk nicht mehr als jede beliebige Realenzyklopädie. Das heißt denn doch den Zweck gründlich mißverstehen. Daß es nicht die Absicht des Unternehmens sein könne, in unsrer gärenden Zeit, die alle alten scheinbar feststehenden Begriffe in Fluß gebracht hat, und die auf allen Gebieten nach Neubildungen ringt, dem Publikum eine in sich ge¬ schlossene Weltanschauung aufzudrängen (die doch nichts andres sein könnte als ein Kirchendogma oder ein einseitiges philosophisches System), das sagt Hinneberg ausdrücklich. Es handelt sich nur darum, die modernen Kultur¬ gebiete und Kulturzweige so darzustellen, daß man ihre Geschichte, ihren gegenwärtigen Stand und ihre mutmaßlichen oder zu erstrebenden Ziele über¬ schaut und Einblick in ihren innerlichen organischen Zusammenhang gewinnt. Das kann kein aus Zehntausenden von alphabetisch geordneten Artikeln be¬ stehendes Reallexikon leisten, „Die Kultur der Gegenwart" aber leistet es. Daß sie sich keine dogmatischen Entscheidungen anmaßt, weder im theistischer noch im atheistischen, weder im pessimistischen noch im optimistischen Sinne, wird ihr jeder billig Denkende als hohen Vorzug anrechnen. Und Hinneberg hat in der Grenzboten I 1907 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/249>, abgerufen am 24.07.2024.