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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Politische Briefe ans Sachsen

sein und, unbeirrt um alle Rücksichten, leben, schreiben und arbeiten zu können,
wie es mir gefällt.

Und nun die Politik. Ja ja, nach alter lieber Gewohnheit kümmern sich
die sogenannten Ordnungsparteien, sobald die Schwalben wiederkehren, nicht
mehr um diese leidige Sache und überlassen es den Roten, zu arbeiten und
zu Hetzen für ihren Zukunftsstaat, gegen den Militarismus, gegen alles Be¬
stehende. Sie legen die Hände in den Schoß und meinen, so schlimm wird es
wohl nicht werden, dafür wird schon die Negierung sorgen! Aber halt, ich
ertappe mich da schon wieder bei dem von Ihnen mündlich schon gerügten
Pessimismus und hatte doch versprochen, mich in diesem Punkte zu bessern.
Also ich soll Ihnen ja schreiben, was ich mir über das Wahlrecht zu unsrer
zweiten Kammer und über die Zusammensetzung der ersten Kammer zurecht¬
gelegt habe. Ich fürchte dabei nur eins, daß Sie am Schlüsse meiner Dar¬
legungen den Brief enttäuscht weglegen und ausrufen werden: Wegen so ge¬
ringer Abänderungen braucht man doch nicht so viel Aufhebens zu machen.

Zunächst, mein verehrter Freund, bin ich, abweichend von sehr vielen
meiner Landsleute, der Meinung, daß die sächsische Einteilung in ländliche
und städtische Wahlkreise gut und berechtigt ist und darum beibehalten werde"
soll. Sie sichert wenigstens in etwas und in einigen charakteristischen Merk¬
malen unsers Volkes den verschiednen wichtigsten Ständen des Landes eine
Vertretung, der Landwirtschaft auf der einen, der Industrie, dem Handel,
dem Gewerbe, Beamtenstand und Arbeiterstand auf der andern Seite. Ich
verkenne natürlich nicht, daß auf dem Lande sehr viel Industrie angesiedelt ist,
und daß es eine Anzahl kleiner Städte gibt, die kaum eine nennenswerte In¬
dustrie haben, sondern reine Ackerbaustüdte sind. Das hindert aber doch nicht,
daß durch diese Einteilung, die übrigens völlig eingebürgert ist, Landwirte wie
Industrielle sicher die ihnen zukommende Vertretung erlangen können. Wäre
diese Einteilung nicht da, so müßte sie meines Erachtens bei jeder Erweiterung
des Wahlrechts geschaffen werden. Deshalb soll man sie jetzt erhalten, wie
auch die bisherige Zusammensetzung der einzelnen Wahlkreise, in denen die
Wähler schon so oft Wahlkämpfe miteinander ausgefochten und ihre verschieden¬
artigen Interessen abzuwägen gelernt haben. Die kleinen Wünsche der großen
Städte nach Einräumung einiger weiterer Wahlkreise können ihnen daneben
ja unbedenklich erfüllt werden.

Ich bin auch gegen jede Integralerneuerung der Kammer bei Einführung
eines neuen Wahlrechts. Sind in der Politik überhaupt alle schroffen Über¬
gänge vom Übel, so wird die Vermeidung einer solchen Integralerneuerung
jedes Zugeständnis, das eine Erweiterung des Wahlrechts für die minder¬
bemittelten Klassen enthält, viel leichter erreichen lassen. Denn in den Kammern
sitzen ja auch nur Menschen, und jeder Abgeordnete fragt natürlich bei einer
Neugestaltung des Wahlrechts, auf Grund dessen er seinen Sitz inne hat:
Dürfen wir bei dieser Neugestaltung auch in die heiligen Hallen zurückkehren


Politische Briefe ans Sachsen

sein und, unbeirrt um alle Rücksichten, leben, schreiben und arbeiten zu können,
wie es mir gefällt.

Und nun die Politik. Ja ja, nach alter lieber Gewohnheit kümmern sich
die sogenannten Ordnungsparteien, sobald die Schwalben wiederkehren, nicht
mehr um diese leidige Sache und überlassen es den Roten, zu arbeiten und
zu Hetzen für ihren Zukunftsstaat, gegen den Militarismus, gegen alles Be¬
stehende. Sie legen die Hände in den Schoß und meinen, so schlimm wird es
wohl nicht werden, dafür wird schon die Negierung sorgen! Aber halt, ich
ertappe mich da schon wieder bei dem von Ihnen mündlich schon gerügten
Pessimismus und hatte doch versprochen, mich in diesem Punkte zu bessern.
Also ich soll Ihnen ja schreiben, was ich mir über das Wahlrecht zu unsrer
zweiten Kammer und über die Zusammensetzung der ersten Kammer zurecht¬
gelegt habe. Ich fürchte dabei nur eins, daß Sie am Schlüsse meiner Dar¬
legungen den Brief enttäuscht weglegen und ausrufen werden: Wegen so ge¬
ringer Abänderungen braucht man doch nicht so viel Aufhebens zu machen.

Zunächst, mein verehrter Freund, bin ich, abweichend von sehr vielen
meiner Landsleute, der Meinung, daß die sächsische Einteilung in ländliche
und städtische Wahlkreise gut und berechtigt ist und darum beibehalten werde»
soll. Sie sichert wenigstens in etwas und in einigen charakteristischen Merk¬
malen unsers Volkes den verschiednen wichtigsten Ständen des Landes eine
Vertretung, der Landwirtschaft auf der einen, der Industrie, dem Handel,
dem Gewerbe, Beamtenstand und Arbeiterstand auf der andern Seite. Ich
verkenne natürlich nicht, daß auf dem Lande sehr viel Industrie angesiedelt ist,
und daß es eine Anzahl kleiner Städte gibt, die kaum eine nennenswerte In¬
dustrie haben, sondern reine Ackerbaustüdte sind. Das hindert aber doch nicht,
daß durch diese Einteilung, die übrigens völlig eingebürgert ist, Landwirte wie
Industrielle sicher die ihnen zukommende Vertretung erlangen können. Wäre
diese Einteilung nicht da, so müßte sie meines Erachtens bei jeder Erweiterung
des Wahlrechts geschaffen werden. Deshalb soll man sie jetzt erhalten, wie
auch die bisherige Zusammensetzung der einzelnen Wahlkreise, in denen die
Wähler schon so oft Wahlkämpfe miteinander ausgefochten und ihre verschieden¬
artigen Interessen abzuwägen gelernt haben. Die kleinen Wünsche der großen
Städte nach Einräumung einiger weiterer Wahlkreise können ihnen daneben
ja unbedenklich erfüllt werden.

Ich bin auch gegen jede Integralerneuerung der Kammer bei Einführung
eines neuen Wahlrechts. Sind in der Politik überhaupt alle schroffen Über¬
gänge vom Übel, so wird die Vermeidung einer solchen Integralerneuerung
jedes Zugeständnis, das eine Erweiterung des Wahlrechts für die minder¬
bemittelten Klassen enthält, viel leichter erreichen lassen. Denn in den Kammern
sitzen ja auch nur Menschen, und jeder Abgeordnete fragt natürlich bei einer
Neugestaltung des Wahlrechts, auf Grund dessen er seinen Sitz inne hat:
Dürfen wir bei dieser Neugestaltung auch in die heiligen Hallen zurückkehren


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/188>, abgerufen am 24.07.2024.