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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Sind wir eine Nation?

Tatsachen brechen alle Anklagen gegen ihre Haltung zusammen; nicht sie war
dafür verantwortlich, sondern das deutsche Volk, das ihr keine sichere vorbe¬
haltlos nationale Mehrheit zur Verfügung stellte.

Eine solche ihr zu schaffen, das ist die nächste und dringendste Aufgabe
der bevorstehenden Reichstagswahlen. Es gilt Reichstag und Reichsregierung
von jeder geheimen "Nebenregierung" zu befreien, es gilt weiter, dem deutschen
Bürgertum einen seiner wirtschaftlichen und geistigen Bedeutung entsprechenden
legitimen Einfluß auf die Geschicke der Nation wieder zu erringen, es gilt
endlich die schicksalsvolle Frage zu entscheiden, ob das Reich seine südwest-
afrikanische Kolonie, die Hunderte von Millionen und mehr als tausend Menschen¬
leben gekostet hat, die deutscher Boden geworden ist durch deutsches Geld,
deutsche Arbeit und deutsches Blut, schimpflich, zu seiner unauslöschlichen
Schande aufgeben oder behaupten soll, d. h. ob es die mühsam errungne Stellung
unter den Weltmächten festhalten und ausbauen oder in seinen längst zu engen
Grenzen verkümmern und aufhören soll eine moderne Großmacht zu sein, ob
es also sein Ansehen erhalten oder unter dem Hohngelächter der Welt verlieren
soll, d. h. sich selbst aufgeben soll, denn ohne Ehre kann ein Volk so wenig
leben wie ein Mann. In einer Nation, einer, die es ist, dürften solche Fragen
überhaupt nicht gestellt werden. Um diese großen Ziele handelt es sich, und
sie dürfen nicht verdunkelt werden, weder durch die Behauptung, das Zentrum
sei ja bereit gewesen, die Regierungsvorlage anzunehmen, es habe sich um eine
Differenz von nur 9 Millionen gehandelt, noch durch den ganz unpolitischen
Gedanken, der hier und da schon in liberalen Blättern spukt, zum "Freiheits¬
kämpfe gegen Rom" aufzurufen. Nein, von dem kommenden Wahlkampf muß
jedes kirchenpolitische, geschweige den" jedes konfessionelle Element aufs ent¬
schiedenste ferngehalten werden, wenn wir nicht den unglückseligen "Kultur¬
kampf" erneuern und unsre katholischen Mitbürger, auf deren Patriotismus wir
doch auch hier rechnen, tödlich kränken wollen. Irgendwelche konfessionelle Politik
können vollends nur verblendete Heißsporne für möglich halten. Der Kampf
geht um die Ehre und die Zukunft der ganzen Nation, nicht um kirchenpolitische
Gegensätze. Selten hat ein Jahr unter so ernsten Aussichten begonnen wie 1907;
es wird auf lange Zeit über unser Schicksal entscheiden, und diese Entscheidung
liegt in den Händen des deutschen Volks. Der Ausgang des Kampfes wird
die Antwort geben auf die Frage, von der wir ausgegangen sind.




Grenzbaten I 19072
Sind wir eine Nation?

Tatsachen brechen alle Anklagen gegen ihre Haltung zusammen; nicht sie war
dafür verantwortlich, sondern das deutsche Volk, das ihr keine sichere vorbe¬
haltlos nationale Mehrheit zur Verfügung stellte.

Eine solche ihr zu schaffen, das ist die nächste und dringendste Aufgabe
der bevorstehenden Reichstagswahlen. Es gilt Reichstag und Reichsregierung
von jeder geheimen „Nebenregierung" zu befreien, es gilt weiter, dem deutschen
Bürgertum einen seiner wirtschaftlichen und geistigen Bedeutung entsprechenden
legitimen Einfluß auf die Geschicke der Nation wieder zu erringen, es gilt
endlich die schicksalsvolle Frage zu entscheiden, ob das Reich seine südwest-
afrikanische Kolonie, die Hunderte von Millionen und mehr als tausend Menschen¬
leben gekostet hat, die deutscher Boden geworden ist durch deutsches Geld,
deutsche Arbeit und deutsches Blut, schimpflich, zu seiner unauslöschlichen
Schande aufgeben oder behaupten soll, d. h. ob es die mühsam errungne Stellung
unter den Weltmächten festhalten und ausbauen oder in seinen längst zu engen
Grenzen verkümmern und aufhören soll eine moderne Großmacht zu sein, ob
es also sein Ansehen erhalten oder unter dem Hohngelächter der Welt verlieren
soll, d. h. sich selbst aufgeben soll, denn ohne Ehre kann ein Volk so wenig
leben wie ein Mann. In einer Nation, einer, die es ist, dürften solche Fragen
überhaupt nicht gestellt werden. Um diese großen Ziele handelt es sich, und
sie dürfen nicht verdunkelt werden, weder durch die Behauptung, das Zentrum
sei ja bereit gewesen, die Regierungsvorlage anzunehmen, es habe sich um eine
Differenz von nur 9 Millionen gehandelt, noch durch den ganz unpolitischen
Gedanken, der hier und da schon in liberalen Blättern spukt, zum „Freiheits¬
kämpfe gegen Rom" aufzurufen. Nein, von dem kommenden Wahlkampf muß
jedes kirchenpolitische, geschweige den» jedes konfessionelle Element aufs ent¬
schiedenste ferngehalten werden, wenn wir nicht den unglückseligen „Kultur¬
kampf" erneuern und unsre katholischen Mitbürger, auf deren Patriotismus wir
doch auch hier rechnen, tödlich kränken wollen. Irgendwelche konfessionelle Politik
können vollends nur verblendete Heißsporne für möglich halten. Der Kampf
geht um die Ehre und die Zukunft der ganzen Nation, nicht um kirchenpolitische
Gegensätze. Selten hat ein Jahr unter so ernsten Aussichten begonnen wie 1907;
es wird auf lange Zeit über unser Schicksal entscheiden, und diese Entscheidung
liegt in den Händen des deutschen Volks. Der Ausgang des Kampfes wird
die Antwort geben auf die Frage, von der wir ausgegangen sind.




Grenzbaten I 19072
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[0017] Sind wir eine Nation? Tatsachen brechen alle Anklagen gegen ihre Haltung zusammen; nicht sie war dafür verantwortlich, sondern das deutsche Volk, das ihr keine sichere vorbe¬ haltlos nationale Mehrheit zur Verfügung stellte. Eine solche ihr zu schaffen, das ist die nächste und dringendste Aufgabe der bevorstehenden Reichstagswahlen. Es gilt Reichstag und Reichsregierung von jeder geheimen „Nebenregierung" zu befreien, es gilt weiter, dem deutschen Bürgertum einen seiner wirtschaftlichen und geistigen Bedeutung entsprechenden legitimen Einfluß auf die Geschicke der Nation wieder zu erringen, es gilt endlich die schicksalsvolle Frage zu entscheiden, ob das Reich seine südwest- afrikanische Kolonie, die Hunderte von Millionen und mehr als tausend Menschen¬ leben gekostet hat, die deutscher Boden geworden ist durch deutsches Geld, deutsche Arbeit und deutsches Blut, schimpflich, zu seiner unauslöschlichen Schande aufgeben oder behaupten soll, d. h. ob es die mühsam errungne Stellung unter den Weltmächten festhalten und ausbauen oder in seinen längst zu engen Grenzen verkümmern und aufhören soll eine moderne Großmacht zu sein, ob es also sein Ansehen erhalten oder unter dem Hohngelächter der Welt verlieren soll, d. h. sich selbst aufgeben soll, denn ohne Ehre kann ein Volk so wenig leben wie ein Mann. In einer Nation, einer, die es ist, dürften solche Fragen überhaupt nicht gestellt werden. Um diese großen Ziele handelt es sich, und sie dürfen nicht verdunkelt werden, weder durch die Behauptung, das Zentrum sei ja bereit gewesen, die Regierungsvorlage anzunehmen, es habe sich um eine Differenz von nur 9 Millionen gehandelt, noch durch den ganz unpolitischen Gedanken, der hier und da schon in liberalen Blättern spukt, zum „Freiheits¬ kämpfe gegen Rom" aufzurufen. Nein, von dem kommenden Wahlkampf muß jedes kirchenpolitische, geschweige den» jedes konfessionelle Element aufs ent¬ schiedenste ferngehalten werden, wenn wir nicht den unglückseligen „Kultur¬ kampf" erneuern und unsre katholischen Mitbürger, auf deren Patriotismus wir doch auch hier rechnen, tödlich kränken wollen. Irgendwelche konfessionelle Politik können vollends nur verblendete Heißsporne für möglich halten. Der Kampf geht um die Ehre und die Zukunft der ganzen Nation, nicht um kirchenpolitische Gegensätze. Selten hat ein Jahr unter so ernsten Aussichten begonnen wie 1907; es wird auf lange Zeit über unser Schicksal entscheiden, und diese Entscheidung liegt in den Händen des deutschen Volks. Der Ausgang des Kampfes wird die Antwort geben auf die Frage, von der wir ausgegangen sind. Grenzbaten I 19072

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/17>, abgerufen am 24.07.2024.