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Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr.

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Sind wir eine Nation?

seitdem so sehr gestiegen sein! Daher dieses mühsame Zusammenquälen der
wichtigsten nationalen Gesetze, daher die Armut der Debatten an großen Ge¬
danken und leider auch oft der Mangel an historischen Kenntnissen, daher die
Neigung zur herbsten, herunterreißenden, ja Wohl ehrabschneiderischen Kritik auf
ganz unsichern Grundlagen unter dem Schutze der parlamentarischen Immunität,
die einst zum Schutze gegen Regierungswillkür eingeführt worden ist und jetzt
der Beschränkung gegen unverantwortlichen Mißbrauch bedarf. Einst die Sehn¬
sucht des Volks und sein Stolz, ist heute, wo Deutschland mit einer wahren
Hochflut großer und kleiner Parlamente geradezu überschwemmt ist, der Par¬
lamentarismus auf dem besten Wege, sich selbst zugrunde zu richten, je mehr
die tief wurzelnden Schäden des ganzen Systems, Partei- und Cliquenwirtschaft,
mangelhafte Sachkenntnis und persönliche Eitelkeit, überall, bis in die Stadt¬
vertretungen hinein, hervortreten, und der Reichstag ist auf dieser abschüssigen
Bahn am weitesten vorgeschritten, weil er am meisten demokratisiert ist.

Begreiflich genug deshalb, daß sich der Deutsche im allgemeinen in seiner
Haut nicht recht wohl fühlt, daß die "Schwarzseherei", die Unzufriedenheit mit
dem und jenem seine Stimmung beherrscht. Aber er sucht den Grund für das,
was ihm mißfüllt, nicht an sich selbst, sondern nach alter lieber Gewohnheit bei
den Regierungen, die keiner Partei ganz recht sind, weil es bei uns parlamentarische
Parteiregierungen nicht gibt, die vor allen Dingen die Opposition der Liberalen
erwecken, weil diese zwar die Stadtverwaltungen in der Hand haben, aber in
den Landesregierungen nirgends auf die Dauer zur Macht gelangt sind. Auch
bedeutende Staatsmänner, sogar wirklich große Männer haben es in Deutsch¬
land immer schwer gehabt, eine sichere Mehrheit zu finden. Fürst Bismarck hat
im Reichstage bekanntlich eine solche nur in den ersten Jahren gehabt, später
niemals wieder, und so sehr er, so lange er im Amte war, verehrt und bewundert
worden ist, so recht populär ist er erst nach seinem Sturze geworden, als sich
in die Verehrung für ihn der Groll über diesen Sturz mischte. Und wie ist
der Kaiser, der doch unzweifelhaft ein bedeutender Mann von selbständigem
Urteil, fürstlichem Pflichtgefühl und raschem Entschlüsse ist, in einem Teile der
deutschen Presse fortwährend behandelt worden! Niemals ist irgendwo ein
Monarch seiner Art so schändlich verkannt, so dreist gehofmeistert, so hämisch an¬
gefeindet worden wie er; die auswärtige Politik zumal leite er uach "Stimmungen"
und "Impulsen" im "Zickzackkurs", Behauptungen, die zugleich grobe Beleidigungen
enthalten. Und warum? Weil dem Liberalen und leider dem Gebildeten über¬
haupt, die bei uns ja immer überwiegend kritisch gestimmt sind, die ganz un¬
deutsche Idee vom parlamentarischen Schattenkönigtum unbewußt tief im Blute
steckt. Jedes stärkere persönliche Hervortreten, jede entschiedn" Meinungsäußerung
wird dem Kaiser deshalb verübelt, wird als die Äußerung eines "persönlichen"
Regiments verdächtigt, das eine "Erschütterung des monarchischen Bewußtseins"
herbeiführen könne; als ob Wilhelm der Erste im "Konflikt" nicht wirklich höchst
persönlich regiert hätte, zum Heile seines Volks! Das Recht der Persönlichkeit,


Sind wir eine Nation?

seitdem so sehr gestiegen sein! Daher dieses mühsame Zusammenquälen der
wichtigsten nationalen Gesetze, daher die Armut der Debatten an großen Ge¬
danken und leider auch oft der Mangel an historischen Kenntnissen, daher die
Neigung zur herbsten, herunterreißenden, ja Wohl ehrabschneiderischen Kritik auf
ganz unsichern Grundlagen unter dem Schutze der parlamentarischen Immunität,
die einst zum Schutze gegen Regierungswillkür eingeführt worden ist und jetzt
der Beschränkung gegen unverantwortlichen Mißbrauch bedarf. Einst die Sehn¬
sucht des Volks und sein Stolz, ist heute, wo Deutschland mit einer wahren
Hochflut großer und kleiner Parlamente geradezu überschwemmt ist, der Par¬
lamentarismus auf dem besten Wege, sich selbst zugrunde zu richten, je mehr
die tief wurzelnden Schäden des ganzen Systems, Partei- und Cliquenwirtschaft,
mangelhafte Sachkenntnis und persönliche Eitelkeit, überall, bis in die Stadt¬
vertretungen hinein, hervortreten, und der Reichstag ist auf dieser abschüssigen
Bahn am weitesten vorgeschritten, weil er am meisten demokratisiert ist.

Begreiflich genug deshalb, daß sich der Deutsche im allgemeinen in seiner
Haut nicht recht wohl fühlt, daß die „Schwarzseherei", die Unzufriedenheit mit
dem und jenem seine Stimmung beherrscht. Aber er sucht den Grund für das,
was ihm mißfüllt, nicht an sich selbst, sondern nach alter lieber Gewohnheit bei
den Regierungen, die keiner Partei ganz recht sind, weil es bei uns parlamentarische
Parteiregierungen nicht gibt, die vor allen Dingen die Opposition der Liberalen
erwecken, weil diese zwar die Stadtverwaltungen in der Hand haben, aber in
den Landesregierungen nirgends auf die Dauer zur Macht gelangt sind. Auch
bedeutende Staatsmänner, sogar wirklich große Männer haben es in Deutsch¬
land immer schwer gehabt, eine sichere Mehrheit zu finden. Fürst Bismarck hat
im Reichstage bekanntlich eine solche nur in den ersten Jahren gehabt, später
niemals wieder, und so sehr er, so lange er im Amte war, verehrt und bewundert
worden ist, so recht populär ist er erst nach seinem Sturze geworden, als sich
in die Verehrung für ihn der Groll über diesen Sturz mischte. Und wie ist
der Kaiser, der doch unzweifelhaft ein bedeutender Mann von selbständigem
Urteil, fürstlichem Pflichtgefühl und raschem Entschlüsse ist, in einem Teile der
deutschen Presse fortwährend behandelt worden! Niemals ist irgendwo ein
Monarch seiner Art so schändlich verkannt, so dreist gehofmeistert, so hämisch an¬
gefeindet worden wie er; die auswärtige Politik zumal leite er uach „Stimmungen"
und „Impulsen" im „Zickzackkurs", Behauptungen, die zugleich grobe Beleidigungen
enthalten. Und warum? Weil dem Liberalen und leider dem Gebildeten über¬
haupt, die bei uns ja immer überwiegend kritisch gestimmt sind, die ganz un¬
deutsche Idee vom parlamentarischen Schattenkönigtum unbewußt tief im Blute
steckt. Jedes stärkere persönliche Hervortreten, jede entschiedn« Meinungsäußerung
wird dem Kaiser deshalb verübelt, wird als die Äußerung eines „persönlichen"
Regiments verdächtigt, das eine „Erschütterung des monarchischen Bewußtseins"
herbeiführen könne; als ob Wilhelm der Erste im „Konflikt" nicht wirklich höchst
persönlich regiert hätte, zum Heile seines Volks! Das Recht der Persönlichkeit,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 66, 1907, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341885_301253/14>, abgerufen am 24.07.2024.